Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Recht auf Abtreibung?

Donnerstag 7. Juli 2022 von Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Beck


Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Beck

Neuerdings werden ein „Recht auf Abtreibung“ und die Werbung für Abtreibung verstärkt propagiert. So soll im Folgenden versucht werden, den Sachzusammenhang in möglichst klarer Logik zusammenzustellen. Das Argument der Vertreter eines „Rechtes auf Abtreibung“ besteht in dem Dreischritt: 1.) Aufgrund seines naturgegebenen Rechtes auf Selbstbestimmung hat der Mensch die Vollmacht, über seinen Körper frei zu verfügen. 2.) Die befruchtete Eizelle bzw. der Fötus oder Embryo ist ein Teil des Körpers der Mutter. 3.) Also darf der Mensch frei über die befruchtete Eizelle / den Fötus verfügen, d. h. auch abtreiben  (vgl. den Slogan: „Mein Bauch gehört mir!“). Zum Beispiel forderten die Jusos (=Jungsozialisten) auf ihrem Bundeskongreß Anfang Dezember 2018 in Düsseldorf eine straf-freie und von den Krankenkassen bezahlte (!) Abtreibungsmöglichkeit bis zur Geburt des Kindes, denn: „Das Recht auf körpertliche und reproduktive Selbstbestimmung stellt für uns ein zentrales Menschenrecht dar“.

Problematisierung von 1:

Die Voraussetzung ist der Beweis für die Nicht-Existenz eines Schöpfergottes als höchsten Trägers und Eigentümers des menschlichen Daseins, dem gegenüber der Mensch verantwortlich wäre und in dessen Rechte  er bei einer beliebigen Verfügung über sich selbst  eingreifen würde. Sich bis zum Beweis des Gegenteils auf den Standpunkt des Atheismus zu stellen, wäre keineswegs ausreichend. Man verhielte sich dann ähnlich wie jemand, der für einen Gegenstand nicht unmittelbar einen Eigentümer wahrnimmt und deshalb davon ausgeht, der betreffende Gegenstand würde niemandem gehören und er könne frei über ihn verfügen. Nein, er hätte vielmehr die Pflicht einer genauen Nachprüfung.

Im gegebenen Falle kann man sogar davon ausgehen, daß die Existenz Gottes durch philosophische Argumente aufweisbar ist, wenn man auf das Sein der Welt blickt. Denn die Existenz, die die Welt in „Zu-kunft“  hat, kommt (wie das Wort schon sagt)  erst noch auf sie zu – nicht aus nichts, sondern aus einem Seinsgrund. In diesem muß alles, was im Laufe der Evolution in der Welt auftaucht und somit von ihm herkommt, in irgendeiner Weise „voraus“-enthalten sein – also Energie, Leben, Bewußtsein, Personalität. Damit kommen philosophisch Grundelemente eines Begriffs Gottes in den Blick, wie er in den Religionen Judentum, Christentum und Islam weiter ausgeprägt ist. Als Quelle und Träger des Seins des Menschen  kommt ihm insbesondere auch das Verfügungsrecht über sein Leben zu.

Problematisierung von 2;  das Prinzip der individuellen Entwicklung:

Wie die Untersuchungen von Blechschmidt u. a. gezeigt haben, ist die Entwicklung des Embryos ein ziel-gerichteter Prozeß, der sich nicht als Glied der morphologischen und physiologischen Konstitution des Körpers der Mutter darstellt. Mit der Verschmelzung der männlichen Samen- und der weiblichen Eizelle, also mit der Befruchtung, sind alle Bedingungen geschaffen, die zur Entwicklung bis zum ausgewachsenen Menschen befähigen. Die im Chromosomensatz gegebene Erbstruktur, der „genetische Code“, enthält bereits sämtliche Informationen, die für die Steuerung des Entwicklungsgeschehens bis zum vollausgereiften Erwachsenenstadium notwendig sind. Daaher legt sich der Schluß nahe: Der „genetische Code“ repräsentiert  schon den ganzen Menschen „im Keime“; er enthält das den gesamten Werdeprozeß steuernde „Formprinzip“. Da die Zellteilung und Embryonalentwicklung von Anfang an so erfolgt, daß die Ausbildung von geist-geeigneten Organen und Funktionen (Großhirn, menschliche Hand, aufrechter Gang) möglich wird, ja, der gesamte Prozeß von Anfang an auf deren Ausbildung ausgerichtet ist, so muß das auf Geist-eignung und Geist-funktion hinformende Prinzip von Anfang an enthalten sein. Der Geist drückt sich schon von Anfang an  formend und steuend aus, er ist schon wirkend und daher wirk-lich da.  Das Subjekt geistiger Tätigkeiten (also das Subjekt einer „geistigen Natur“)  bezeichnet man nun als „Person“. So folgt: Bei der individuellen Entwicklung handelt sich von der Befruchtung an um eine neue menschliche Person!

Nach der Befruchtung kommt von außen (etwa aus dem Organismus der werdenden Mutter) kein weiteres, die Form des Lebewesens begründendes Prinzip hinzu; alle weiteren Einflüsse der biologischen Umgebung, die die Ein-nistung (=„Nidation“) in der Uterusschleimhaut, die Ausbildung der Großhirnanlage und schließlich die Geburt ermöglichen, sind nur äußere Bedingungen der Entwicklung, konstituieren oder verändern aber nicht das im  „genetischen Code“ zum Ausdruck kommende „innere Wesen“ des sich Entwickelnden selbst.

Es ist also grundlegend zu unterscheiden zwischen dem Mensch-sein selbst und seinem Entwicklungsgrad (zwischen dem, „was“ der Mensch ist, und der Weise, „wie“  er das ist, was er ist bzw. wie er in Erscheinung tritt); so ist der befruchteten Einzelle schon das ganze Mensch-sein zuzusprechen – aber in einem erst minimalen Grad, das so mit den Sinnen noch nicht wahrnehmbar, sondern nur mit dem Verstand erschließbar ist.

Bedeutet dies, daß es sich bei der  Abtreibung von der Befruchtung an im Prinzip um die Tötung einer  menschlichen Person  handelt ?

Dazu ist anzumerken, daß nicht jede Befruchtung gelingt, sondern vielfach nur der äußere Schein einer Befruchtung vorliegt. Von einem Erfolg läßt sich eindeutig erst aufgrund der nachfolgenden Entwicklung zum Embryo sprechen.

Diese Entwicklung kann aber erst einsetzen, wenn sich die befruchtete Eizelle in der Gefäßwand der Gebärmutter eingenistet hat, was  in der Regel in der 2. Hälfte der 2.  Woche der Fall ist. Bis dahin kann eine Zellteilung im Sinne einer Zwillings- oder Mehrlingsbildung stattfinden, so daĂź auch die Individualität noch nicht augenfällig feststeht. (Ăśber sie kann aber dennoch – zunächst unerkennbar – entschieden sein, was den Grund dafĂĽr darstellt, daß  bestimmte Eizellen sich entsprechend teilen, andere aber nicht).

Ebenso kann die Entwicklung der Personalität nicht beginnen, so lange die biologische Voraussetzung  der geistigen Tätigkeit fehlt, nämlich das Großhirn, dessen  morphologische Bildung in der Grund-anlage nicht vor der 3. Woche (ca. 15. Tag nach der Befruchtung) beginnt und im Wesentlichen mit dem 40. Tag abgeschlossen ist. Auch hier darf aus der Nicht-Wahrnehmbarkeit der Personalität nicht auf deren Nicht-Existenz geschlossen werden; denn, wie oben gezeigt, ihre wirksame Existenz ist die Grundlage für ihre Entwicklung.

Geschichte und Indikationen der Abtreibung.

Unter „Abtreibung“ ist die Tötung der befruchteten Eizelle bzw. des Embryos zu verstehen. Sie hat in der BRD eine bestimmte Geschichte. Dabei ist stets das Problem:  Kann – und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen – die Vernichtung eines Menschenlebens ethisch gerechtfertigt erscheinen, nachdem das „Recht auf Leben“ doch zu den „Grundrechten“ eines jeden Menschen gehört? Dazu kommt: Wenn die passive Zulassung oder die aktive ZufĂĽgung eines Ăśbels das Gemeinwohl betrifft, fĂĽr dessen Schutz der Staat zuständig ist, so ist dieser zur Erlassung entsprechender Gesetze und zur Sorge um ihre Einhaltung durch  Bestrafung von Zuwiderhandelnden berechtigt bzw. verpflichtet. Davon ist besonders auch die Abtreibung betroffen. Die Frage ihres gesetzlichen Verbotes oder Geschehenlassens durchläuft in der BRD verschiedene Etappen:

  1. Etappe: Prinzipielles Verbot. § 218 StGB vom 18. Mai 1871 (RGBl. S. 127) stellt Abtreibung schlechthin unter Strafe. Dabei mag teilweise auch die bei vielen vorliegende religiöse Überzeugung eine Rolle gespielt haben, daß nur Gott, aber nicht dem Menschen ein Verfügungsrecht über sein Leben zukommt (vgl. die obige Argumentation). Allerdings ist ein Sonderfall gegeben, wenn das ungeborene Kind das Leben der Mutter direkt bedroht (= „medizinische Indikation“). Dann wird eine Abtreibung zwar nicht für gerechtfertigt erklärt, wohl aber auf eine strafrechtliche Verfolgung verzichtet.
  2. Etappe: Einführung der sog. „Fristenlösung“. Am 18. Juni 1974 wurde vom Deutschen Bundestag eine Abtreibung innerhalb der ersten 3 Monate für straf-frei erklärt. Diese Phase wurde durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 (BGBl. I,625) beendet, das die Fristenlösung für verfassungswidrig erklärte: Sie „lasse Ausnahmen von der Strafbarkeit der Abtreibung auch dann zu, wenn keine Gründe vorliegen, die vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben“. Dabei fällt fundamental ins Gewicht der Art. 1 des Grundgesetzes (vom 23. Mai 1949), der  lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Zur Begründung wird vielfach darauf hingewiesen, daß der Mensch „Ebenbild Gottes“ sei (vgl. die oben unter „Problematisierung von  1“  gegebene  Argumentation).
  3. Etappe: Liberalisierung der Abtreibung. Am 18. Mai 1976 erhielt der § 218  StGB vom Deutschen Bundestag eine neue Fassung. Danach ist Abtreibung von vornherein straf-frei, wenn eine der folgenden 4 „Indikationen“ vorliegt:

    a) Durch die Schwangerschaft bedingte Gefährdung des Lebens der Mutter; dieses umfaĂźt auch die physische und psychische Gesundheit (= „erweiterte medizinische Indikation“). Eine verwandte Situation kann vorliegen, wenn die Schwangere „fast noch ein Kind“ (d. h. unter 16 Jahre alt) ist und so die psychischen Voraussetzungen zur Mutterschaft nicht besitzt (= „kindliche Indikation – bei der Mutter“).

    b) Gefährdung bzw. schwere Beeinträchtigung des Lebens des Kindes, auch durch körperliche Mißbildungen; mit umfaßt ist auch die psychisch-geistige Komponente (= „kindliche Indikation – im eigentlichen Sinne“, in der auch die „eugenische Indikation“ enthalten ist, die sich auf zu erwartende schwere Erbschäden bezieht).

    c) Schwere Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes und damit der personalen Integrität der Frau (z. B. durch Vergewaltigung), wobei der Umstand ins Gewicht fällt, daß die Mutter durch die Existenz des Kindes ständig an den Vorgang erinnert wird (= „kriminologische Indikation“, manchmal auch mißverständlich als „ethische Indikation“ bezeichnet).

    d) Notlage der Mutter, die sich sowohl auf ihre innere körperliche und seelisch-geistige Gesundheit beziehen kann (= „noch mehr erweiterte medizinische Indikation“) als auch auf ihre äußere Lage in der Gesellschaft (= vielfach als „soziale Indikation“ bezeichnet). Diese umfaßt die sog. „sozial-psychologische“ und die „sozial-wirtschaftliche Indikation“.  Die erstere meint eine „nicht zumutbare“ psychische Belastung, indem die Mutter z. B. in ihrer Berufsausbildung behindert oder durch moralische Vorurteile von ihrer Familie und der Gesellschaft abgelehnt würde. Die letztere meint „unzumutbare“ wirtschaftliche Nachteile, die der Mutter durch die Geburt entstünden. Besonders diese letztere „Notlage-Indikation“ erscheint infolge ihrer relativen Unbestimmtheit sehr weit auslegbar und dehnbar.

Zur  ethischen  Beurteilung.

Die kritisierbare Tendenz der dargestellten rechtsgeschichtlichen Entwicklung liegt darin, daß sie das „Persönlichkeitsrecht“ der Mutter dem „Lebensrecht“ des Kindes überordnet und das Leben des Menschen nicht mehr unbedingt achtet, sondern als Mittel gewissen Zwecken dienstbar macht.

An krassesten dürfte dies bei der „Fristenlösung“ und der „Notlage-Indikation“ hervortreten. Nicht nur die physische und psychische Gesundheit, sondern auch eine wirtschaftlich befriedigende Lebenslage werden zu Lebenszwecken erklärt, die höher stehen als das Leben; sobald es sie behindert, wird es vernichtet: Das Leben selbst ist zum Lebens-mittel geworden. Man wird daher „Notlage“ nicht mit ethischer Berechtigung als Indikation für „Abtreibung“ ansprechen dürfen. Die Aufgabe des Staates liegt somit nicht in der Freigabe von Abtreibung, sondern in der Vermittlung von positiven sozialen Hilfen. Solche können sich vom fianziellen Sektor (Kindergeld, Kindergärten) bis zu Aufklärung über Verhütungsmöglichkeiten und ethischer Bewußtseinsbildung erstrecken.

Schwerer ins Gewicht fällt das Motiv zur Abtreibung wohl nach „Vergewaltigung“ (=“krimineller Indikation“); denn die psychisch-geistige Integrität des personalen Lebens, die hier extrem belastet sein kann, steht im Rang höher als der bei „Notlage-Indikation“ intendierte Wert. Doch soll hier das ungeborene Kind von den Folgen einer Schuld betroffen werden, die es nicht begangen hat – womit die Frage auftaucht, ob dabei nicht ebenfalls das Menschenleben „instrumentalisiert“ wird. Die hier statt einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs mögliche positive Hilfe durch den Staat läge z. B. darin, der Frau die Verantwortung für das Kind (also gleichsam die „juridische Mutterschaft“) abzunehmen und das Kind in eigenen Fürsorgeheimen unterzubringen oder an Adoptiveltern zu vermitteln.

Anders liegen die Voraussetzungen, wenn das Kind während der Schwangerschaft unmittelbar das Leben der Mutter (zwar unverschuldet, aber doch faktisch)  bedroht. Dann stehen nicht Werte verschiedener, sondern gleicher Rangstufe in Konkurrenz (wenn man von dem relativ verschiedenen Nutzwert des Lebens der Mutter bzw. des Kindes fĂĽr die Gemeninschaft absieht, sondern allein die grundsätzliche Gleichrangigkeit des Menschenwesens in Betracht zieht). Die Mutter befindet sich dann in einer ähnlichen Lage wie jemand, der von einem fĂĽr  sein Handeln nicht verantwortlichen Menschen (z. B. einem geistig Unzurechnungsfähigen) lebensgefährlich angegriffen wird; obwohl der Andere nicht durch persönliche Schuld sein Lebensrecht verwirkt, dĂĽrfte seine Tötung – wenn sie im Grenzfalle das einzige Mittel ist, um das eigene Leben zu retten – als eine Art „Notwehr“ ethisch verantwortbar erscheinen. Entsprechend lieĂź die traditionelle Rechtsprechung der BRD  bei analoger „medizinischer Indikation“ die Abtreibung zu  (vgl. unsere Darstellung der  „1. Entwicklungsetappe“: Sonderfall bei  prinzipiellem Verbot).

Abschließend sei noch auf den sich immer mehr ausbreitenden Atheismus hingewiesen, in dessen Folge der Mensch sich nicht mehr einem göttlichen Ursprung gegenüber verantwortlich sieht, sondern absolutes und unbegrenztes Verfügungsrecht über sich selbst beansprucht, eingeschlossen ein Recht auf Abtreibung – das dann konsequent dem Staat  das Recht zum Setzen einschränkender Bedingungen abspricht (vgl. die Argumentation am Begiunn dieses Artikels). Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Entwicklung zu dem oben zitierten Art. 1 des Grundgesetzes: steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“:  Entspricht oder widerspricht sie ihm? Aber wichtiger noch als alle juristischen Überlegungen wäre eine Neubesinnung auf den Sinn des Lebens, zu der angesichts der laufend  rasanteren  Entwicklung der technischen Macht über unser Dasein dringlicher  Anlaß besteht; an ihm wären letztlich die staatlichen Gesetzgebungen und das menschliche Verhalten zu messen.

Prof. Dr. Dr.h.c.  Heinrich Beck, Bamberg

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Literaturhinweis: Heinrich Beck und Arnulf Rieber, Anthropologie und Ethik der Sexualität. Zur ideologischen Auseinandersetzung um körperliche Liebe, München – Salzburg 1982 (dort auch umfassende Literaturangaben); Heinrich Beck, Kulturphilosophie der Technik. Zu Technik – Menschheit – Zukunft. 2.Aufl. Trier 1979.

 

Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 7. Juli 2022 um 9:44 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik, Lebensrecht.