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Predigt: Gehet hin und macht zu Jüngern alle Völker

Donnerstag 13. August 2009 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

„Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker!“
Predigt zum Abschluß des Lettischen Kirchentags am 26. Juli 2009 in Valmiera.

“Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf einen Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Matthäus 28, 16-20)

Heute geht unser Kirchentag zu Ende. Aus allen Regionen Lettlands haben sich in Valmiera viele Gemeindeglieder und Pfarrer versammelt, um hier zu erfahren, daß wir alle in Christus in einem Geist und Glauben vereinigt sind. Es gibt sehr viele tiefe und ernste Augenblicke mit Gott in der Einsamkeit, doch die fröhlichste Glaubenserfahrung machen wir meistens in der Gemeinschaft mit anderen.

Dieses Mal stand der Kirchentag unter dem Leitwort „Gehet hin und machet!“ Am Morgen des Ostertages sendet Jesus Maria Magdalena und die andere Maria zu seinen Jüngern aus mit einer großartigen Botschaft: Gehet hin nach Galiläa. Dort werdet ihr mich auf diesem oder jenem Berg sehen. Das ist ein mehr als hundert Kilometer langer Fußweg. Ein recht weiter Weg, um einmal Jesus zu begegnen. Die Jünger hätten auch nicht dorthin gehen müssen. Schließlich hat sich Jesus bis dahin noch einige Male gezeigt, was Matthäus überhaupt nicht erwähnt, aber die anderen Evangelisten beschreiben. Die Jünger hätten doch darauf so reagieren können: Was könnte ich dort schon Neues sehen? Doch aus eigener Erfahrung wissen sie, daß es vernünftiger ist, Jesus zu gehorchen. Dann gelingt alles am Besten, wie damals, als sie Brot und Fische unter Tausenden verteilten, wie damals, als Er sie ausgesandt hatte, das Reich Gottes zu predigen, und sie voller Begeisterung zurückgekehrt sind, denn sie hatten Gewaltiges erlebt.

Der Aufruf des Kirchentag „Geh hin und mache“ erinnert uns daran, daß Jesus auch einen Auftrag für jeden von uns hat, und daß es immer am allerbesten ist, ihm zu gehorchen. Ja, so pflegt es zu sein, daß man einen langen Weg zurücklegen muß, um Jesus zu sehen. Das mag einer Kultur nicht gefallen, in der man eine Mahlzeit in drei Minuten zubereiten kann, einfach dadurch, daß man sie mit heißem Wasser übergießt. Menschen möchten auch gerne so mit Gott verfahren, schnell und bequem wie mit Neskaffee – eins, zwei, drei, und fertig ist er für den Gebrauch. Dennoch mußten die Apostel einen weiten Weg zurücklegen, um Jesus auf dem Berge zu begegnen, auf dem Er sie treffen wollte. Die Bibel verrät es uns nicht, welcher Berg das gewesen ist. Es ist sogar schwer zu begreifen, daß Jesus den überraschten Frauen ohne eine Karte den Weg beschrieben hat zu dem Ort der Begegnung mit Seinen Jüngern. Dennoch kann man sich, wenn man die Gegend ein wenig kennt, nur einen abgesonderten Berg vorstellen, der sich majestätisch aus der ganzen Umgebung heraushebt: Den Berg Tabor, den man traditionell als den Ort der Verklärung Jesu betrachtet. Kommentatoren der Bibel sehen darin den Ort, an dem Jesus sich mit Seinen Jüngern treffen wollte, um ihnen dort den großen Auftrag zu erteilen. Sollten die Forscher Recht haben, dann ist alles noch viel symbolischer – die Jünger mußten einen langen Weg zurücklegen, um Jesus auf dem Berge der Verklärung zu begegnen und zu Aposteln zu werden, zu Trägern der Frohen Botschaft.

Das sollten wir im Gedächtnis behalten, damit wir den Aufruf unseres Kirchentages „Gehe hin und mache!“ nicht als etwas auffassen wie eine hastig zubereitete Tasse Neskaffee. Wie weit war der Weg, den wir zurückgelegt haben, um den Herrn Jesus zu sehen? Um Seinen Berg der Verklärung zu ersteigen? Um Sein und des nahen Himmelreiches Zeuge zu sein? „Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten.“ Die heilige Schrift erklärt es uns nicht, weshalb die Jünger niederfallen, als sie Jesus auf diesem Berge erblicken, und ihn anbeten. Das haben sie doch nicht immer getan. Doch ihr spontanes und einmütiges Verhalten geben Zeugnis ab von etwas Besonderen. Sie haben einen weiten und schweren Weg zurückgelegt, doch das, was sie dort schließlich erlebten, übertraf alles, was sie sich haben ausmalen können.

Sehr merkwürdig ist es, daß einige der Jünger zweifelten. Auch diejenigen, die angebetet hatten, erleben den Zweifel. Manches Mal scheint es, daß Jesus uns mehr zutraut als wir selbst. Doch geben wir dem Kleinglauben keinen Raum. Der Herr Jesus sieht den Zweifel in den Herzen seiner Jünger, und dennoch erteilt er ihnen wenige Augenblicke später den großen Auftrag, das bei allen Völkern fortzusetzen, was er selbst bei ihnen begonnen hatte – sie zu Jüngern zu machen.

Das ist nicht die einzige Stelle in der Bibel, in der wir etwas vom Zweifel der Jünger lesen können. Sie haben sogar dann gezweifelt, wenn es uns völlig unverständlich und kleingläubig vorkam. Dennoch weisen diese Zweifel der Jünger darauf hin, daß sie keine leichtgläubigen Wichte waren, die nur darauf warteten, daß man ihnen etwas einreden möchte. Sie waren Männer der Praxis, für die es wichtig war, nicht allen Schwärmereien und Gerüchten hinterherzulaufen. Sie wollten sich davon überzeugen, was wirklich los war. Später, als sie das Evangelium allen Völkern predigten, begegneten sie ebenso praktischen Geistern, die sich auch zuerst überzeugen wollten. Da war ihnen der überwundene eigene Zweifel eine große Hilfe.

Auch von uns fordert der Herr Jesus keine Leichtgläubigkeit. Es wäre Betrug, wenn wir begeistert darauf aus wären, Dinge zu predigen, von denen wir selbst nicht fest überzeugt wären. Es wäre sehr leichtsinnig, wenn wir uns anmaßten, sofort Lehren zu verbreiten, die wir nur oberflächlich mit halbem Ohr vernommen und nicht begriffen haben. Die Jünger haben bis dahin einen weiten Weg zurückgelegt, und der hat sich gelohnt.

Den Zweifel der Jünger kann man mit einer Waage vergleichen, auf der als „pro“ und „contra“ des Glaubens und des Unglaubens einander gegenübergestellt sind. Der Zeiger bewegt sich um Null, und es ist schwer vorauszusagen, auf welche Seite sie sich senken wird. Heute habt ihr diese Worte gehört, nicht leichtgläubig, sondern ihr wisst es aus eigener Erfahrung, daß sich das Gewicht bei den Jüngern auf die Seite des Glaubens gesenkt hat. Diejenigen, welche zuerst gezweifelt hatten, glaubten schließlich. Die Apostel begaben sich in die Welt wie Schafe unter die Wölfe, um das Evangelium zu predigen. Ihre Botschaft hat auch uns erreicht. Doch wer hat bei uns die Gewichte gerichtet? Wer hat den Zweifel erleuchtet und den Glauben gestärkt.

Wir lesen: „Jesus trat an sie heran und sprach zu ihnen.“ Unser Herr verhält sich nicht so wie jemand in dem Sprichwort von einem Welpen: Er wirft ihn in das Wasser, damit er schwimmt, wenn er das kann, oder ertrinkt. Er hat etwas gegen den Zweifel der Jünger unternommen. Er blieb nicht in der Ferne stehen, sondern trat an sie heran. Er sprach mit ihnen genau so wie damals, als er noch unter ihnen weilte. Seine Nähe und die vertrauten Worte vertrieben den Zweifel.

Auch uns sind Augenblicke des Zweifels nicht fremd, in denen der Zeiger der Waage um Null herum schwankt. Manches Mal fällt es uns schwer, Jesus zu glauben, manches Mal zweifeln wir an uns selbst. Sogar die Jünger zweifelten, die vor Jesus niedergefallen sind. Nicht der ist

gläubig, der noch nie gezweifelt hat, sondern derjenige, dessen Zweifel von der Nähe Jesu und dessen vertrauten Worten überwunden wurde. Wenn wir Zweifel oder Unsicherheit erfahren, so laßt uns an die Worte aus dem Jakobusbrief 4,8 denken: „Nahet euch zu Gott, so naht er sich zu euch.“

„Gehe hin und mache!“ Diese Worte Jesu werden in dem Leitwort unseres Kirchentages Wirklichkeit. Sie sind der große Missionsauftrag in allen Dingen. So ist es. Es ist der Wunsch unseres Herrn Jesus, alle Völker zu Jüngern zu machen. Er wollte, daß dieses durch seine Jünger geschehen sollte. Und jeder, der das Geschenk des Glaubens empfangen hat, der gebe es weiter. Jeder, der durch Christus das Heil empfangen hat, werde ein Zeuge dieses Heils in seiner Umgebung. Das ist der Wille des Herrn Jesus, welcher jeden betrifft, auch dich. Der Bau des Reiches Christi ist nicht nur die Dienstpflicht eines Pfarrers. Es gibt den Begriff des Laienapostulats. Jeder an Christus Glaubende ist Teilhaber am königlichen Priestertum Christi. Durch jeden getauften Christen möchte Christus sein Reich erbauen. Deshalb sitz nicht faul herum, sondern geh hin und mache!

Manches Mal beschwert sich jemand, daß das Wort der Kirche in der Gesellschaft zu wenig zu vernehmen sei. Gewöhnlich versteht man darunter, daß die Leiter der Kirchen zu einer oder einer anderen für das Volk schmerzhaften Frage keine Erklärung veröffentlicht haben. Doch das Laienapostulat hat viel mehr Kraft als die Erklärungen der kirchlichen Profis. Überlegt doch, wie viele Getaufte wir in unserem Lande haben! Wenn sie alle in Worten und Taten Bekenner Christi und des Wortes Gottes wären – was wäre das für ein Zeugnis! Wie viel könnten wir dabei erreichen und zum Guten wenden! Unser Herr hat Seinen Gläubigen nicht den Auftrag gegeben, sich in eine Ecke zu verkriechen, und dort zu murren und abzuwarten, damit ein anderer vielleicht alles gelöst hat. Er sagt ihnen – Gehe hin und mache! Dennoch sollten wir auch nicht in einen billigen Enthusiasmus fallen. Wir machen es falsch, wenn wir bei der Benennung unseres Auftrages nur auf das Lesen von Matth. 28, 19 beschränken: „Darum geht und macht zu Jüngern alle Völker.“ Wir sollten dann schon bei Vers 10 zu lesen anfangen, wo unser Herr sagt: „Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, daß sie nach Galiläa gehen. Dort werden sie mich sehen.“ Das war ein weiter Weg. Doch Jesus schickte sie erst danach in die Welt, um alle Völker zu lehren, nachdem sie den Berg der Verklärung bestiegen hatten und sich der Nähe Jesu und seiner vertrauten Worte ganz sicher waren. Versuchen wir, uns ein wenig vorzustellen, was dieser Weg nach Galiläa für uns bedeuten könnte. In einem Satz zusammengefasst, war das der Weg, der die Jünger zu dem auferstandenen Christus hinführte, der ihren Zweifel zerstörte und durch seine Gegenwart und seine vertrauten Worte ihnen den festen Glauben schenkte.

Weshalb wiederhole ich so oft das mit den „vertrauten Worten“, welche den Zweifel vertrieben und ihnen den Glauben stärkten? Versuchen wir uns einmal vorzustellen, wie die Jünger sich gefühlt hätten, wenn derjenige, den sie auf dem Berge in Galiläa erblickt hatten, sie plötzlich anders angeredet hätte als damals, als Jesus noch unter ihnen weilte. Diejenigen, die bis dahin noch nicht gezweifelt hatte, würden sofort zu zweifeln beginnen, und diejenigen, die schon gezweifelt hatten, wären so schnell, wie die Füße sie tragen konnten, fortgelaufen! Sie hätten gedacht, ein Gespenst erblickt zu haben, das zwar mit Jesus Ähnlichkeit hat, aber mit seiner Stimme Fremdes und Unbekanntes redet.

Die Kirche Christi darf lehren, was Jesus Christus selbst gelehrt hat. Jeder seiner Zeugen – sei er Bischof, Pfarrer oder Laie – darf Ihn so bezeugen, wie Er selbst von sich Zeugnis abgelegt hat. So, daß aus dem Wort des Zeugen der gleiche Jesus erkennbar wird, der seine Jünger lehrte und ihren Glauben auf dem Berg in Galiläa stärkte. Nur so, denn die vertrauten Worte Jesu vertreiben den Zweifel, bringen den Frieden des Herzens und stärken den Glauben

Wenn die Kirche oder jemand, der von Jesus Zeugnis geben möchte, mit seinen eigenen Worten zu sprechen beginnt und dabei irgendwelche seltsame Ideen und Lehren verbreitet, der vertreibt nicht den Zweifel und stärkt nicht den Glauben, sondern stiftet Verwirrung, Unfrieden und Spaltung. Jesus spricht: „Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich tun und reden soll. (Joh. 12,49). Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. (Joh. 20,21).“Der Apostel Paulus erkennt gerade darin seinen Auftrag und seine Botschaft: „So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,20) weist uns darauf hin. So wird unser Handeln durch die Worte Christi ergänzt, daß Ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden – auch kann Er jeden Zweifel vertreiben, Frieden stiften, Hoffnung schenken und den Glauben stärken durch sein Wort und seine Gegenwart. Jeder Zeuge Christi sollte sich Bewußt sein, daß er lehrt, „das zu halten, was Christus uns befohlen hat.“

Wie sollen wir es wissen, daß wir die Worte Jesu weitergeben? Es kommt vor, daß wir die Bibel aufschlagen und einen Vers lesen, ihn aber durch unsere eigene Auslegung verfremden. Wie sollen wir es wissen, daß durch unsere Worte Christus bekannt wird? Das war auch die Hauptsorge der Kirche Christi, welche authentisch die gleiche Botschaft durch die Jahrhunderte weitergeben wollte, die Christus den Aposteln geschenkt hat, und die dann durch die Apostel an alle Völker weitergegeben wurde. Die Absicht der Reformation war nicht, die Kirche zu spalten oder eine neue Kirche zu gründen, sondern die Botschaft der Kirche rein zu erhalten und so zu ordnen, daß sie die Lehre Christi und seiner Apostel predigt. Der Theologe der römisch – katholischen Kirche Hans Küng schreibt in seinem Buch „Die katholische Kirche und ihre Geschichte“ (erschienen 2008) über Martin Luther: „Er fordert die Rückkehr der Kirche zum Evangelium Jesu Christi, das er sehr lebendig durch die Heilige Schrift und ganz besonders durch die Briefe des Apostels Paulus kennen gelernt hatte“. Konkret bedeutet das:

daß Luther entgegen allen im Laufe der Jahrhunderte hinzu gekommenen Traditionen, Vorschriften und Autoritäten nur den Primat der Heiligen Schrift anerkennt: „Nur die Heilige Schrift!“

daß Luther entgegen allen Tausenden von Heiligen und weiteren Tausenden von Mittlern nur den Primat von Christus anerkennt: „Nur Christus“, welcher das Zentrum der Heiligen Schrift und der Orientierungspunkt für alle Auslegung der Schrift ist;

daß Luther entgegen allen von der Kirche bestimmten guten Werken und Anstrengungen des Menschen, um die Errettung der Seele zu erlangen, nur den Primat der Gnade und des Glaubens anerkennt;

H. Küng: „dazu bedarf es nur der Gnade des gnädigen Gottes, wie sie sich am Kreuz und bei der Auferstehung Jesu Christi gezeigt hat, und nur des Glaubens und des Vertrauens an diesen Gott.“

Weiter schreibt Küng, daß der Augustinermönch Luther quälendes Herzeleid angesichts des Bewußtseins seiner Sündhaftigkeit und der Endgültigkeit dieses Zustandes empfunden hätte, von dem ihn nur die Botschaft von der Rechtfertigung durch den vertrauensvollen Glauben befreien konnte. Genau so gewannen die Jünger auf dem Berg in Galiläa den Frieden durch die vertrauten Worte Jesu. Dazu bemerkt Hans Küng, daß Luther das nicht dadurch erreicht hatte, daß er sich sektiererisch gegen die Lehre der Kirche stellte und stattdessen eigene neue Ideen verbreitete, sondern das aufdeckte und an das Licht brachte, was bereits die Apostel und Kirchenväter und natürlich Christus selbst gelehrt hatten.

Wir können über ein solches Zeugnis vom Rande von unseren Vater im Glauben Martin Luther wirklich stolz sein. Auch sind wir stolz auf die klare, frische, tief in der apostolischen Kirche verwurzelte evangelische Lehre. Diese bewirkt so viel Zuversicht und Trost wie nichts anderes. Dennoch sind viele Lutheraner mit Büchersammlern zu vergleichen, die sich dessen rühmen, daß sich in ihrem Bücherregal die vierbändige große Weltgeschichte von Grün befände oder eine extrem seltene Ausgabe der Sonette von Shakespeare, die sie in ihrem Leben noch nie gelesen haben und sicher auch nie lesen werden. Oft kann man Menschen begegnen, welche sich ihrer lutherischen Identität rühmen, aber den Katechismus zum letzten Mal vor 20 oder 30 Jahren gelesen haben, als sie noch Konfirmanden waren. Sich einer Sache rühmen, die man selbst nicht kennt, bedeutet Selbstbetrug. Wenn jemandem seine lutherische Identität des Rühmens wert erscheint, dann würde es sich doch bestimmt lohnen, diese Lehre näher kennen zu lernen, welche sich dahinter verbirgt.

Deshalb sollten wir das Leitwort unseres Kirchentages „Gehet und machet“ zuerst als Aufruf an uns selbst verstehen, die Lehre unserer Kirche tief, ernsthaft und ehrlich zu begreifen. Damit begann der Weg der Jünger zum Berg in Galiläa. Jeder beurteile es selbst, wie weit er auf diesem Wege gekommen ist. Dabei werden viele sicher mit dem Kleinen Katechismus beginnen müssen, andere sind vielleicht schon weiter gekommen, aber jeder sollte das nicht unter Druck tun, sondern mit Freude und Interesse. Das gibt Vertrauen und Sicherheit. Im geistlichen Leben gibt es noch viele unentdeckte Wege und auch wenig erforschte Pfade. Das Kennenlernen des eigenen Fundamentes ist eine Karte, die Mut macht, alles zu ergründen und sich dabei nicht zu verirren. Es befreit zu freundschaftlichen Beziehungen mit Menschen anderer Überzeugungen, denn mit aggressiven Parolen versuchen Menschen oft ihre eigene Unsicherheit zu kompensieren. Doch das Wichtigste dabei, wenn wir die Lehre unserer Kirche kennen, ist, daß wir dann sicher sein können, daß wir andere Menschen nicht dadurch in die Irre führen, daß wir ihnen unsere eigenen Ideen als das Evangelium von Jesus Christus aufzuschwatzen versuchen.

Doch auf dem Berge in Galiläa wurden die Zweifel der Jünger nicht nur durch die Worte Jesu zerstreut, sondern auch durch seine Nähe. Gott hätte es sicher auch vermocht, die Botschaft des Evangeliums durch den Engel Gabriel an einen Propheten zu diktieren zu lassen oder sie, auf goldenen Tafeln aufgezeichnet, in einer Wüste Amerikas finden zu lassen. Doch mit der Verbreitung der Lehre allein ist es noch nicht getan. Den Glauben sollte man nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen haben, nicht nur durch Wissen, sondern durch die lebendige Gotteserfahrung. Was hilft es, in einem Buch zu lesen, daß Gott dich liebt, wenn du ihn noch nie erlebt hast? Gott wurde Mensch in Jesus von Nazareth, um uns sehr nahe zu sein, damit die Menschen Seine Liebe empfänden. Jesus sprach: „Ich sage hinfort nicht, daß ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, daß ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.“ (Joh. 15, 15) Er ließ seine Jünger die Freundschaft und die Nähe des Herzens erfahren, was über die Liebe des Vaters nicht weniger aussagte als seine Worte.

Wenn wir „gehen und machen“ wollen, wenn wir Christus bekennen wollen, dann bedenken wir auch, wie unsere Umgebung unser Zeugnis betrachtet. Es ist gut, wenn sie daraus die Worte Christi vernehmen, denen man vertrauen kann. Aber macht ihnen die Begegnung mit uns auch die Freundschaft Christi, seine warme und herzliche Nähe deutlich? Oft ist dies das schwerste Teil, das man auch nicht erlernen kann. Aber wie können wir die Natur des Alten Menschen beherrschen und verändern? Wer es versucht hat, der weiß, daß es hoffnungslos schwer ist. Es ist unvergleichlich leichter, wahre und in der Schrift begründete Worte zu sagen, als den Nächsten Gottes Gnade des Herzens empfinden zu lassen.

Es gibt ein recht einfaches Prinzip. Um den Nächsten die Freundschaft Christi deutlich zu machen, muß ich selbst wie ein Freund Christi leben. Es ist unsere Freundschaft, auf die Christus wartet, und die ihm an unserer Stelle niemand anderes schenken kann. Wir brauchen nicht so zu tun, als seien wir Freunde Christi, oder uns zwingen, uns so zu verhalten, wie sich ein Freund Christi nach unseren Vorstellungen verhalten könnte. Das ist nicht echt und wird nicht funktionieren. Besser ist es, stattdessen einfach die Nähe Jesu zu suchen – allein oder in der Gemeinschaft mit anderen. Immer öfter und länger. Wir sollten unserer Beziehung zu Jesus viel Zeit widmen, viel mehr Zeit, als wir das gewöhnlich tun. Wir sollten öfter seine Worte lesen und die Ereignisse in seinem Leben betrachten sowohl in den Evangelien als auch in anderen guten Büchern. Wir sollten im Freundeskreis und in einer Atmosphäre, in der einer den anderen nicht übertrumpfen möchte, unsere Erkenntnisse miteinander austauschen. Nicht um uns als Debattenredner zu trainieren, sondern um Jesus näher kennen zu lernen. Wenn wir als Seine Freunde leben möchten, dann müssen wir ihn gut kennen – seine Gedanken, seine Ansichten, seine Persönlichkeit. Wenn wir die Ereignisse im Leben Jesu lesen und betrachten, wenn wir zu ihm beten und mit ihm sprechen, dann erfahren wir seine Nähe. Wenn wir unser Gewissen erforschen, unsere Sünden bereuen und bekennen und die Absolution empfangen, dann sind wir ihm näher als an irgendeinem anderen Ort. Wenn wir miteinander Gottesdienst feiern, sein Wort hören und das heilige Abendmahl empfangen, dann haben wir ihn berührt. Und seine Nähe ist es, die den inneren Menschen zu einem Freund Jesu verwandelt. Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Jesus allein ist es, der die Macht hat, uns zu seinem Abbild zu verwandeln, daß man ihn erkennen möchte, wenn man uns betrachtet.

Wie lang war der Weg, den wir zurückgelegt haben, um als Freunde Jesu weiterzuleben? Waren wir bestrebt, in seiner Nähe zu sein und im Herzen das mitzuerleben, was wir gehört und gelernt haben? Zum Berg der Verklärung zu gehen ist kein kurzer Spaziergang nach dem Mittagessen, sondern ein sehr ernst zu nehmender langer Weg. „Geh hin und mache!“ – Das ist das Leitwort unseres Kirchentages. Das bedeutet für uns – geh hin und vertiefe dich immer mehr in die Lehre unserer Kirche und lerne gleichzeitig, nahe bei Jesus als dessen Freund zu leben. Geh und schaffe Liebe und Gemeinschaft unter allen Gliedern unserer Kirche, ganz besonders unter den Brüdern und Schwestern im Glauben. Denke daran, daß du das nicht zu deinem eigenen Heil oder Seelenfrieden tust, sondern weil der Herr Christus auch dich aufruft, sein Zeuge zu sein – und wenn schon nicht bis an das Ende der Welt, dann wenigstens in deiner näheren Umgebung. Sei bereit, dich auf den Weg zu machen zum Berge der Verklärung Er selbst wird den Ort und die Zeit bestimmen, um dich zu treffen und dich auszusenden. Und wenn er das tut, dann zögere nicht, denn es ist immer besser, ihm zu gehorchen.

Die Liebe, die Freude, der Friede und die Gemeinschaft im Heiligen Geist sei mit uns allen. AMEN.

Auszüge aus Svētdienas Rīts, Zeitung der Evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands, herausgegeben von ICHTYS GmbH, erscheint seit Januar 1920. 9. Sonntag nach Trinitatis, Ausgabe Nr. 29 (1808) vom 8. August 2009 (Übersetzung: Johannes Baumann)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 13. August 2009 um 16:42 und abgelegt unter Predigten / Andachten.