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Welche Autorität hat das Wort Gottes in der Evangelischen Kirche?

Samstag 10. März 2007 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Welche Autorität hat das Wort Gottes in der
Evangelischen Kirche?

1 In der Grundordnung der EKD von 1948 heißt es: „Grundlage der Evangelischen Kirche in Deutschland ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben ist. Indem sie diese Grundlage anerkennt, bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu dem Einen Herrn der einen heiligen allgemeinen und apostolischen Kirche“. In ähnlichen Formulierungen bekennen sich auch die einzelnen Gliedkirchen der EKD zur Heiligen Schrift als ihrer gemeinsamen Grundlage. In der Verfassung der Evang.-luth. Kirche Hannovers heißt es: „Grundlage der Verkündigung in der Landeskirche ist das in Jesus Christus offenbar gewordenen Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben und in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist“.

Die EKD erklärt „das Evangelium von Jesus Christus“ zu ihrer Grundlage, die Hannoversche Landeskirche „das in Jesus Christus offenbar gewordene Wort Gottes“, und zwar „wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben ist“. Beide Kirchen bekennen sich damit uneingeschränkt zur Autorität der Heiligen Schrift als des Wortes Gottes. Wie äußert sich diese Autorität und wie groß ist sie im Leben und Handeln der Evangelischen Kirche in unserem Land? Wir gehen diesen Fragen nach, indem wir einige Knotenpunkte und Weichenstellungen seit dem Inkrafttreten der Grundordnung im Jahr 1948 in den Blick nehmen. Zunächst jedoch müssen wir uns theologisch Rechenschaft geben über den Begriff des Wortes Gottes.

2.1 Der Begriff „Wort Gottes“ bezeichnet den Gott der biblischen Offenbarung als einen redenden Gott. Nach 1. Kor. 12,2 ist es ein Hauptkennzeichen aller heidnischen Religiosität, daß sie stumme Götzen verehrt. Nur der lebendige Gott des Alten und Neuen Testaments redet. Die Schöpfung entstand und wird getragen durch sein Wort (1. Mose 1, Hebr. 1,3). Das Wort Gottes hat schöpferische Kraft. „Wenn er spricht, so geschieht’s“ (Ps. 33,9). „Gott ruft dem, was nicht ist, daß es sei“ (Röm. 4,17). Der Glaubende erkennt die Schöpferkraft des göttlichen Wortes, der Nichtglaubende kennt diese Kraft nicht (Hebr. 11,3).

2.2 Weil Gott redet, ist sein Wort das Mittel, durch das er Kontakt mit den Menschen aufnimmt und Gemeinschaft mit ihnen pflegt. Wir Menschen können Gott nur durch sein Wort und in seinem Wort kennenlernen. Jesu vornehmlicher Dienst war die Predigt (Mk. 1,14). Unsere Beziehung zu Gott ist davon abhängig, ob und inwieweit wir auf den in seinem Wort redenden Gott hören. „Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte“ (Joh. 8,47). „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht“ (Hebr. 3,7f.).

2.3 Gott redet zu uns durch autorisierte Menschen, im A.T. vornehmlich durch Mose und die Propheten, im Neuen Testament durch Jesus und durch die von ihm berufenen Apostel. Nach Hebr. 1,2 redet er durch seinen Sohn abschließend zu den Menschen. Nach Luk. 10,16 „Wer euch hört, der hört mich“ ist die mündliche und schriftliche Verkündigung der Apostel Wort Gottes. Es gilt also, das, was diese von Gott autorisierten Menschen geredet und geschrieben haben, als Wort Gottes zu hören, so wie es die Thessalonicher taten (1. Thess. 2,13).

2.4 Seit der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten redet der erhöhte Herr durch den Heiligen Geist. „Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen“ (Joh. 16,14). Die Heilige Schrift bezeugt uns also ein Reden des Dreieinigen Gottes. Gott redet abschließend durch seinen Sohn. Der Sohn redet durch den Geist, und der Geist redet durch die Heilige Schrift. Ein Zitat von Martin Kähler: „Der wirkliche, d.h. der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet, mit dem die Millionen Verkehr gehalten haben in kindlichem Glauben, mit dem die großen Glaubenszeugen ringend, nehmend, siegend und weitergebend Verkehr gehalten – der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus…das ist aber eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen…; der Jesus, dessen Bild wir uns einprägen, weil wir darauf hin mit ihm umgehen wollen und umgehen, als mit dem erhöhten Lebendigen“ . Gott redet also seit Pfingsten zu den Menschen durch den erhöhten Herrn in der Weise, daß der Heilige Geist die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments an ihnen wirksam werden läßt, indem er jemand, der darin liest oder das Wort Gottes hört, erleuchtet oder verstockt.

Das Verhältnis von Wort Gottes und Heiliger Schrift ist also dergestalt zu bestimmen, daß aufgrund der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, der durch die Heilige Schrift zu den Menschen spricht, die Heilige Schrift Gottes Wort ist. Das schöpferische Reden Gottes ist das gewaltigste Geschehen im Himmel und auf Erden. Dort wo Gott sein Reden uns Menschen vernehmbar macht, nämlich in den Worten der Propheten, in den Worten Jesu Christi und der Apostel, ist unsere absolute Hörbereitschaft gefordert, denn daran entscheidet sich unser ewiges Schicksal. Aufgrund der dreifachen Tatsache, daß Gott durch den erhöhten Herrn, dieser durch den Geist und der Geist durch die Heilige Schrift redet, ist die Heilige Schrift Wort Gottes und hat allerhöchste Autorität in der christlichen Gemeinde. Ein Zitat von Reinhard Slenczka: „Die Heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments sind das Wort des Dreieinigen Gottes, das er spricht, in dem er sich selbst zu erkennen gibt und durch das er wirkt; weil sie das Wort Gottes sind, sind sie die Heiligen Schriften der christlichen Gemeinde“.

3 Für die Reformatoren war es keine Frage, daß die Heilige Schrift Gottes Wort ist. „Weil wir selber halten, daß die Heilige Schrift sei Gottes heilsames Wort, welches uns ewiglich kann selig machen, sollen wir darin so lesen und studieren, daß wir Christus drin bezeugt finden“ (Martin Luther in einer Auslegung zu Joh. 5,39). Auch für die auf die Reformationszeit folgende Zeit der Orthodoxie war es klar, daß die Heilige Schrift norma normans ist, also die dogmatische Grundlage für den Glauben und das Leben der Kirche darstellt. De iure hält die Evangelische Kirche bis heute an dieser Bewertung und Stellung der Heiligen Schrift fest, wie wir gehört haben, aber wir werden sehen, daß sie sich de facto davon weit entfernt hat. Für die Reformationszeit und die Zeit der Orthodoxie und des Pietismus galt also die Voraussetzung, daß die Heilige Schrift Gottes Wort ist, daß also der dreieinige Gott durch das Wort der Bibel unmittelbar zum Menschen spricht. Diese Voraussetzung stellte sowohl die Ausleger als auch die Hörer und Leser der Heiligen Schrift in ein direktes Verhältnis mit Gott.

Im 18. und 19. Jahrhundert kam es in Europa zu einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel im Denken. Der neuzeitliche Mensch begreift sich mehr und mehr als ein geschichtliches Wesen, und er beginnt, seine Wertsysteme, ja sein ganzes Bewußtsein geschichtlich zu interpretieren. Überkommene Werte werden auf ihren geschichtlichen Ursprung hin untersucht und aus ihren vermuteten Entstehungsbedingungen heraus erklärt und relativiert. So konnte es nicht ausbleiben, daß auch die Bibel unter der Vorgabe des geschichtlichen Denkens betrachtet und durch diese Sichtweise zu einem rein geschichtlichen Buch wurde. Der Ausleger, Hörer und Leser der Heiligen Schrift stand nun nicht mehr unmittelbar vor Gott, sondern vor einem geschichtlichen Dokument. Im Raster des geschichtlichen Denkens wurde die Bibel ein Buch aus einer vergangenen Epoche der Menschheit mit mehr oder weniger glaubwürdigen Berichten, deren Autorität nicht mehr selbstverständlich war. So mußte es zu der berühmten Schlußfolgerung Lessings kommen, daß zufällige Geschichtswahrheiten kein Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten sein können, und zu seiner resignierten Feststellung, daß er vor einem garstigen Graben stehe, wenn er in den alten biblischen Berichten eine für ihn gültige Wahrheit suche. Daß es sein eigenes geschichtliches Denken war, das ihm den Zugang zu Gottes Wort verschloß, darauf kam er leider nicht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts griff das geschichtliche Denken so sehr um sich, daß daraus eine eigene Weltanschauung, der Historismus wurde. Der Philosoph des Historismus wurde Ernst Troeltsch (1865-1923). Ein Zitat: „Historismus bedeutet…die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“. Er ist „die eigentümlich moderne Denkform“. Troeltsch empfiehlt in seinem Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1898) der Theologie die konsequente Anwendung der von ihm so genannten historischen Methode, und zwar mit dem dreifachen Instrumentarium der Kritik, der Analogie und der Korrelation, und er spricht dabei ausdrücklich von der „Allmacht der Analogie“, welche die „Gleichartigkeit alles historischen Geschehens“ einschließe. Man muß hier wirklich von einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel des Denkens sprechen. Das gesamte Sein und Bewußtsein des Menschen wird unter die Oberherrschaft des geschichtlichen Denkens gestellt. Alles hat einen Ursprung und ein Ende, alles ist bedingt durch seine Entstehungszeit und seinen Entstehungsort.

Es liegt auf der Hand, daß eine so geartete historische Methode, wenn man sie auf die Bibel anwendet, den Menschen nicht zu Gottes Wort, sondern zu einem erklärungsbedürftigen geschichtlichen Dokument führt. Wer gelehrt wird, daß man der Bibel grundsätzlich kritisch gegenüber treten müsse, daß man nach dem Prinzip der Analogie nur solche biblischen Berichte anerkennen dürfe, die auch sonst in der Geschichte belegbar sind und daß es nur korrelatives Geschehen ohne göttliche Einwirkung gebe, der wird am Selbstanspruch der Bibel vorbeigeführt, welcher nicht anders lautet als „So spricht der Herr“.

4 In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Ãœbernahme der historischen Methode in die evangelische Theologie durch Rudolf Bultmann und Gerhard Ebeling besiegelt. Bultmann hat in einem 1941 gehaltenen Referat die drei Prinzipien der historischen Methode, wie sie Troeltsch formuliert hatte, konsequent auf die Interpretation des Neuen Testaments übertragen. Alle Berichte, die analogieloses Geschehen beschreiben, also vor allem die Präexistenz Jesu, die Wunder Jesu, seinen stellvertretenden Sühnetod, seine leibhafte Auferstehung, die Himmelfahrt, die Wiederkunft, die Entrückung der Gemeinde, erklärt Bultmann für Ausdrucksformen eines antiken mythischen Weltbildes, die entmythologisiert und dem modernen Menschen existenzial interpretiert werden müßten. Der moderne Mensch, so äußert sich Bultmann über die Auferstehung Jesu, könne „ein solches mirakulöses Naturereignis wie die Lebendigmachung eines Toten – ganz abgesehen von seiner Unglaubwürdigkeit überhaupt – …nicht als ein ihn betreffendes Handeln Gottes verstehen“.

Man sieht an dieser Radikalkritik, wohin die historische Methode zwangsläufig führt. Das gesamte übernatürliche Geschehen der Heiligen Schrift ist „erledigt“, wie Bultmann sich ausdrückt. Sein Versuch, eine entmythologisierte Fassung der paulinischen Christologie als Kern der Botschaft des Neuen Testaments festzuhalten und durch die existenziale Interpretation als Ruf zum Glauben für den modernen Menschen glaubbar zu machen, muß heute als gescheitert angesehen werden. Die historische Methode bzw. die historisch-kritische Methode hat sich als unbrauchbar erwiesen, dem modernen Menschen Jesus Christus nahezubringen. Daß in der Predigt von einem Jesus, der mit seinen Idealen und mit seinem Gottvertrauen am Kreuz gescheitert ist, Gottes Ruf zu hören sei, ist eine irrige Hoffnung der historisch-kritischen und existenzialen Theologie.

Gerhard Ebeling hat in seinem 1950 veröffentlichten Aufsatz „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche“ die historisch-kritische Methode ebenso wie Bultmann als unausweichliche Aufgabe evangelischer Theologie bezeichnet und den Versuch unternommen, sie als eine moderne Form der reformatorischen Rechtfertigungslehre darzustellen. Die historisch-kritische Methode sei aus „dem Geist der Neuzeit“ entstanden und stelle eine „von neuen Denkvoraussetzungen herkommende kritische Auseinandersetzung mit der Überlieferung“ dar. Deswegen sei sie „wesenhaft verbunden mit Sachkritik“. Erst durch die Anwendung dieser Methode werde der Abstand der historischen Quelle zum Betrachter deutlich, wodurch es erst zu einer reinen Begegnung mit dem Text komme. Der Protestantismus sei berufen, „in der kritischen Überprüfung der Grundlagen“ voranzugehen und brennen zu lassen, was brennt, denn „die Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung“ ereigne sich „allein im Hören auf das Wort“, ohne historische Sicherungen. Das „Ja zur Ungesichertheit“ sei nur die „Kehrseite der Heilsgewißheit sola fide“.

Auch bei Ebeling übernimmt das geschichtliche Denken die Regie über die Auslegung der Heiligen Schrift. Die Bibel wird wie bei Bultmann nicht mehr als das Mittel verstanden, durch das Gott zum Menschen direkt redet, sondern als ein geschichtliches Buch wie jedes andere, das der Kritik ausgeliefert werden muß, und bei Ebeling kommt noch die Behauptung hinzu, daß diese Auslieferung ganz im Sinn des reformatorischen Glaubens sei, weil sie die unnötige und gefährliche historische Absicherung des Glaubens zerstöre. Dazu ist zu sagen, daß der Glaube, so wie ihn die Reformation entdeckt und beschreiben hat, in der Heiligen Schrift Gottes Wort hört und sich nicht kritisch über dieses Wort, sondern sich demütig unter dieses Wort stellt. Diese Haltung schließt historische und philologische Arbeit an der Heiligen Schrift ein, aber in der Begegnung mit der Heiligen Schrift läßt sich der reformatorische Glaube nicht vom „Geist der Neuzeit“ leiten, sondern vom Heiligen Geist.

5 Wie hat die Evangelische Kirche auf den Einbruch des geschichtlichen Denkens in die Bibelauslegung reagiert? 1947 schrieb der damalige Vorsitzende des Rates der EKD, der württembergische Landesbischof Theophil Wurm an Karl Barth und bat ihn um eine Stellungnahme zur Theologie Bultmanns. Er stellte fest, daß die Kirche in der theologischen Ausbildung neue Wege suchen müsse, wenn Bultmann nicht in der Lage sei, seinem theologischen Anliegen eine Form zu geben, die mit den Glaubensbekenntnissen der Kirche übereinstimmt. Barth antwortete beschwichtigend, ein „Hecht im Karpfenteich“ wie Bultmann könne der Kirche „nicht wenig heilsam“ sein. 1950 erklärte der badische Landesbischof Bender vor seiner Landessynode: „Die Kirche ehrt die theologische Wissenschaft, solange und sofern sie Gottes Wort und seine gottseligen Geheimnisse ehrt und nicht Sklavin eines diesseitigen Wissenschaftsbegriffes wird…, aber sie kann und darf sich nicht einer Theologie ausliefern, die einreißt statt zu bauen“. 1951 richtete der Nachfolger Wurms, Landesbischof Martin Haug, einen Hirtenbrief an die württembergischen Pfarrer: „Widerstehen Sie dem Versuch einer Deutung des Evangeliums mit dem Mythusbegriff und einer dementsprechend verkürzenden Übertragung in eine vermeintlich mythenfreie Seinsdeutung. Niemand wird Sie rechtfertigen können, wenn Sie Ihrer Gemeinde die Christuswahrheit in solcher Verkürzung darbieten wollen“. 1952 erklärte die Generalsynode der VELKD in Flensburg, daß sie in großer Sorge die Gefahr sehe, „daß die Heilstaten Gottes in Lehre und Verkündigung zurückgedrängt, verflüchtigt und zuletzt preisgegeben werden“. Ähnlich erklärte sich die VELKD-Bischofskonferenz im selben Jahr. Das waren die letzten offiziellen kritischen Stimmen aus der EKD zur historisch-kritischen Auslegungsmethode. Zwei Jahrzehnte später bat die VELKD-Bischofskonferenz Rudolf Bultmann offiziell um Entschuldigung und versicherte ihn ihrer Verehrung und Hochachtung. Der „Geist der Neuzeit“ (Ebeling) und die „Allmacht der Analogie“ (Troeltsch) hatten endgültig die Kirchenleitungen erobert.

Bis heute hält der Siegeszug der historisch-kritischen Methode auf der Leitungsebene der EKD an. Manfred Kock hat als Ratsvorsitzender 2003 vor der EKD-Synode ein Referat über „Die Bibel als Quelle und Richtschnur des Glaubens“ gehalten. Darin bekennt er sich ohne Vorbehalte zu dieser Auslegung und nennt sie sogar „befreiend“. „Die Bibel ist Gotteswort im Menschenwort. Dieser Charakter der Bibel macht es ebenso möglich wie notwendig, sie historisch-kritisch zu betrachten und zu erforschen. Denn die Bibel ist nüchtern betrachtet und wissenschaftlich studiert ein Buch wie jedes andere“. Die Bibel selber sieht das anders. In 2. Tim. 3,15 schreibt Paulus an Timotheus: „Die Heiligen Schriften können dich unterweisen zur Errettung durch den Glauben an Jesus Christus“. Da das andere Bücher nicht können, ist die Bibel nicht ein Buch wie jedes andere. Auch der jetzige Präsident des Kirchenamts der EKD, Hermann Barth, hat sich immer wieder zur historisch-kritischen Auslegung bekannt. In seiner Predigt anläßlich seiner Einführung im März 2006 erklärte er: „Wir verehren die Bibel, weil uns hier im Menschenwort Gotteswort begegnet, aber wir haben die Freiheit, ja die Aufgabe, von der sachlichen Mitte der Bibel her Kritik an ihren menschlich-allzumenschlichen Zügen zu üben“.

Man kann sagen, daß seit über einem halben Jahrhundert die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung die im Raum der EKD anerkannte Auslegungsmethode ist. Daß diese Methode dem Selbstanspruch der Heiligen Schrift, Gottes Wort zu sein, nicht gerecht wird, daß sie die Heilige Schrift dem Urteil des zeitgeistabhängigen kritischen Denkens unterwirft, daß sie die Heilige Schrift durch das geschichtliche Denken zu einem bloßen Geschichtsbuch degradiert, daß sie den reformatorischen Grundsatz des sola scriptura auflöst – das scheint man entweder gar nicht zu sehen oder sogar zu akzeptieren.

6 Die kirchliche Anerkennung der historischen Methode ist aber nicht nur die Anerkennung einer bestimmten Auslegungsmethode, vielmehr stellt sie einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Umgang mit der Heiligen Schrift dar. Wo diese Methode in Geltung steht, beurteilt nicht mehr Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott. Der Mensch entscheidet, was ihm an der Bibel glaubwürdig erscheint und was nicht. Der Mensch entscheidet zwischen geschichtsbedingten und bleibend wichtigen Aussagen. So wird die Heilige Schrift zur Verfügungsmasse. Die Folgen sind verheerend: Desinteresse am Heilshandeln Gottes in Raum und Zeit. Menschliche Zeugnisse und Gotteserfahrungen treten an die Stelle des Wortes Gottes. Der „Geist der Neuzeit“ mit all seinen Variationen wird zum eigentlichen Inspirator und Regisseur der Auslegung, ja noch mehr, er wird zum beherrschenden Dogma! Neuzeitliche Ideen, Ideologien und gesellschaftliche Trends setzen nun biblische Weisungen außer Kraft. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist voller Beispiele für diese Fremdbestimmung der Auslegung. Einige seien genannt.

6.1 Die Idee der Gleichberechtigung von Mann und Frau erweist sich in den innerkirchlichen Diskussionen um die Einführung der Frauenordination in den 60er Jahren als stärker als die beiden apostolischen Verbote der öffentlichen Gemeindelehre durch die Frau in 1. Kor. 14,33b-38 und 1. Tim. 2,8-15. Noch 30 Jahre später begründet ein Landesbischof die Einführung der Frauenordination damit, daß die kirchliche Situation Teil der „kulturellen und gesellschaftlichen Transformation“ sein, welche „die vollständige Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen und Männern“ zum Ziel habe.

Eine Berufung auf die beiden genannten Bibelstellen hat die „Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Theologie“ 1992 für unzulässig erklärt. In ihrem Text „Frauenordination und Bischofsamt“ heißt es: „Daß es keine Gründe aus der Heiligen Schrift und dem Bekenntnis gibt, Frauen von der Ordination zum Pfarramt und also auch von der Berufung in kirchliche Leitungsämter auszuschließen, muß die evangelische Kirche gerade auch aus ökumenischer Verpflichtung lehren und in ihrer Ordnung praktizieren“.

6.2 Die Idee der Selbstbestimmung erweist sich anfangs der 90er Jahre in der innerkirchlichen Diskussion um die Abtreibung als stärker als das klare biblische Verbot des Tötens. Im April 1991 erklärte die Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche in Bayern in der sog. „Rosenheimer Erklärung zum Schutz des ungeborenen Lebens und zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs“: „In Konfliktfällen kann die letzte Entscheidung der betroffenen Frau von niemandem abgenommen werden; sie muß sie in ihrer Verantwortung vor Gott treffen“. Die letzte Entscheidung über Leben und Tod eines ungeborenen Menschen trifft also nach dieser synodalen Erklärung nicht das Wort Gottes, sondern der Mensch. Bis heute ist übrigens die bayrische Landessynode nicht bereit, diesen Passus aus der Rosenheimer Erklärung zurückzunehmen oder zu ändern.

Der neue Präsident des Diakonischen Werks, Klaus-Dieter Kottnik, hat im Februar 2007 in einem idea-Interview zur Frage des Abtreibungsrechts dem Lebensschutz zwar persönlich Priorität eingeräumt, aber gleichzeitig an der Selbstbestimmung festgehalten: „Ich möchte auch nicht in das Selbstbestimmungsrecht von Menschen eingreifen“.

6.3 Ebenfalls in den 90er Jahren hat sich die Evangelische Kirche gegen das ausdrückliche apostolische Verbot in Röm. 1,26f. und 1. Kor. 6,9 dem gesellschaftlichen Trend der Anerkennung der homosexuellen Lebensweise angeschlossen. 1991 erklärte die Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg: „Homosexualität ist – wie wir heute wissen – weder sündhaft noch krankhaft, sondern ein anderer Ausdruck menschlicher Sexualität“. 1996 gab der Rat der EKD eine sog. Orientierungshilfe unter dem Titel „Mit Spannungen leben“ heraus. Darin heißt es, daß „die homosexuelle Lebensweise ethisch verantwortlich gestaltet“ werden könne und daß in diesem Fall das Pfarramt für „homosexuell lebende Menschen“ geöffnet werden könne. Mittlerweile haben etliche Landessynoden Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Partnerschaften erlaubt. 2004 hat die Bischofskonferenz der VELKD das homosexuelle Zusammenleben im Pfarrhaus für zulässig erklärt, wenn „diese Form akzeptiert wird“. Im selben Jahr hat die Ev. Kirche in Hessen und Nassau eine Frau, die mit ihrer Lebensgefährtin in einer sog. eingetragenen Partnerschaft lebt, zur Stellvertreterin des Kirchenpräsidenten ernannt.

6.4 In der sog. „Bibel in gerechter Sprache“ übernimmt der Feminismus nicht nur die Deutungshoheit über die Auslegung der Bibel, sondern auch die Vollmacht für eigenmächtige Textveränderungen. Das Vaterunser beginnt in dieser verfälschenden Übertragung „Du, Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel“. Der Missions- und Taufbefehl Jesu in Mt. 28,17-20 wird verfälscht in „Taucht sie ein in den Namen Gottes, Vater und Mutter für alle, des Sohnes und der heiligen Geistkraft“. Die Selbstoffenbarung Gottes als Vater wird durch diese feministische Bibelübertragung vollständig zerstört. Ebenso wird die Gottessohnschaft Jesu Christi zerstört. Ps. 2,4 heißt in der „Bibel in gerechter Sprache“: „Dieses ist mein geliebtes Kind, ihm gehört meine Zuneigung“. Die exklusive Gottessohnschaft Jesu Christi wird eingeebnet zur Gotteskindschaft, die alle Christen kennzeichnet. Der Begriff „Geistkraft“ schließlich zerstört die Personalität des Heiligen Geistes. Gottes Selbstoffenbarung als Dreieiniger Gott ist damit aufgegeben, mit allen Konsequenzen für den Glauben, die Taufe und die gottesdienstliche Liturgie.

Die „Bibel in gerechter Sprache“ ist zwar kein Auftragswerk der EKD, aber sie wird von kirchenleitenden Gremien aus acht Landeskirchen unterstützt (Württemberg, Baden, Pfalz, Hessen-Nassau, Rheinland, Hannover, Bremen, Nordelbien). Die große Anzahl von landeskirchlichen Frauenwerken und Kirchengemeinden, die auf der Fördererliste vermerkt sind, läßt vermuten, daß die „Bibel in gerechter Sprache“ bald in die Liturgie der gemeindlichen Gottesdienste einziehen wird. Die Ev. Kirche im Rheinland hat bereits eine Handreichung „Beim Wort genommen“ mit Gebetsvorschlägen herausgegeben. Dort heißt es z.B. in einem Gebet zum Sonntag Trinitatis: „Dreieine. Tragender Urgrund im Schatten. Verborgene Mutter und Schöpferin“. Reinhard Slenczka kommt in seiner dogmatischen Beurteilung der „Bibel in gerechter Sprache“ unter dem Titel „Die Anbetung der Weiblichkeit Gottes und das Bilderverbot“ völlig zutreffend zu dem Schluß: „Kirchenleitungen, die dieses Projekt unterstützt haben und weiterhin fördern, müssen sich vorwerfen lassen, daß sie damit die Kirche und den christlichen Glauben zerstören“. Diesem Vorwurf ist nichts hinzuzufügen.

7 Wir kehren zurück zur Ausgangsfrage. Welche Autorität hat das Wort Gottes in der Evangelischen Kirche? Was können unsere Überlegungen zur Antwort beisteuern?

Die biblische Besinnung über das Wesen des Wortes Gottes hat gezeigt, daß die Autorität des Wortes Gottes in Ewigkeit unerschütterlich fest steht. Keine Theologie und keine Kirche kann diese Autorität untergraben. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt. 24,35). Daraus ergibt sich die Gewißheit: Gott erschafft sich und erhält seine Kirche durch sein Wort zu jeder Zeit. Das gilt selbstverständlich auch für uns. Gerade auch nach Zeiten geistlicher Dürre wie der unseren kann er in seiner schöpferischen Weise eine geistliche Erweckung schenken, so wie er es z.B. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei uns getan hat. Darauf gilt es zu hoffen und dafür gilt es zu beten.

Der Blick auf die Entstehung und den Durchbruch des geschichtlichen Denkens und der historischen Methode in der Theologie hat gezeigt, wie gefährlich es ist, dem Geist der Zeit die Herrschaft über die Heilige Schrift zu übertragen. Der Heiligen Schrift selbst wird dadurch nicht geschadet, denn sie ist unzerstörbar, weil der lebendige Gott durch sie redet. Aber der Gemeinde wird geschadet. Die seit einem halben Jahrhundert in der Evangelischen Kirche in Geltung stehende historisch-kritische Auslegungsmethode führt die Gemeinde nicht zum Wort Gottes hin, sondern an ihm vorbei. Anstatt der Gemeinde die Wohltaten des Reiches und der Herrschaft Gottes zu bezeugen, liefert diese Methode die Gemeinde der Herrschaft gesellschaftspolitischer Ideen, Ideologien und Trends aus.

Es ist an der Zeit, daß die Evangelische Kirche anknüpft an den geistlichen Durchblick und Mut der Nachkriegsbischöfe Wurm, Bender und Haug und die Gemeinde befreit von einer Auslegungsmethode, die sich über statt unter das Wort Gottes stellt. Wenn die Autorität des Wortes Gottes neu erkannt und ernstgenommen wird, wird dieses Wort Menschen zum Glauben führen, geistlich träge gewordene Christen erwecken und die Gemeinde festigen im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe. Dann wird die Evangelische Kirche wieder geistlich aufblühen.

Walsrode, 10.3.2007

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Samstag 10. März 2007 um 18:04 und abgelegt unter Theologie.