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Jenseits der Klischees: Die Kirchen im Spiegel der Statistik

Mittwoch 7. September 2011 von Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.


Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Jenseits der Klischees: Die Kirchen im Spiegel der Statistik

Die Statistik lügt nicht: 182.000 Kirchenaustritte – mehr gab es nur 1992 – dokumentieren, wie verheerend das Jahr 2010 für die katholische Kirche in Deutschland war. Für viele Ex-Katholiken waren die medial aufbereiteten Missbrauchsskandale wohl der letzte Auslöser, nach einem längeren Prozess der Entfremdung ihre Mitgliedschaft auch formal zu „kündigen“ – wie es seit 1970 schon Millionen vor ihnen getan haben (1). Aber auch bleibende Katholiken praktizieren ihren Glauben immer weniger: Der Anteil der sonntäglichen Gottesdienstbesucher ist seit den 1960er Jahren von 45% auf nunmehr knapp 13% zurückgegangen – Tendenz weiter sinkend (2). Und selbst unter den Kirchgängern finden die lebenspraktischen Gebote der Kirche (z. B. zur „Buße“ oder Sexualmoral) wenig nachweisbare Gefolgschaft.

Natürlich: Soziale Verhältnisse und empirische Trends sind nicht deckungsgleich mit theologischen Wahrheiten. Aber sie üben Einfluss aus. Das zeigt sich auch in der Lebenspraxis. Ein symptomatischer Aspekt des Bedeutungsverlusts katholisch-christlicher Lebenspraxis ist, dass Konfession und Glaube für die Partnerwahl in breiten Bevölkerungskreisen eigentlich keine Rolle mehr spielen. Augenfällig zeigt dies der Rückgang kirchlicher Heiraten: Der Anteil der katholischen Trauungen an 100 zivilen Eheschließungen ist seit 1990 von 48% auf 30% zurückgegangen. Da gleichzeitig auch die Zahl der zivilen Eheschließungen gesunken ist; fällt der Rückgang in absoluten Zahlen noch drastischer aus: Seit 1990 ist die Anzahl der katholischen Trauungen um mehr als die Hälfte eingebrochen. Wo die christlichen Ehepaare fehlen, mangelt es auch an Täuflingen: In den letzen beiden Jahrzehnten ist ihre Zahl um etwa ein Drittel zurückgegangen, im Vergleich zu 1970 haben sich die Taufen sogar mehr als halbiert (3). Der Kirche mangelt es daher chronisch an Nachwuchs: Bereits seit den 1970er Jahren sterben jährlich mehr Katholiken als neue getauft werden; künftig wird sich diese „natürliche“ Schrumpfung noch beschleunigen (4).

Weniger Mitglieder bzw. Kirchensteuerzahler bedeuten weniger Ressourcen; seit Jahren bemühen sich deshalb deutsche Diözesen, den gewaltigen Immobilienbestand der Kirche zu verkleinern. Besonders schmerzhaft ist die Aufgabe von Gotteshäusern – mit dem Abriss oder der „Umnutzung“ von Kirchen manifestiert sich die Säkularisierung nun auch in den Orts-und Stadtbildern.

Schwund an Gläubigen, Abkehr von den Sakramenten, politische Ohnmacht – nicht nur in Deutschland, sondern in praktisch allen westlichen Industrieländern hat die katholische Kirche unter einem rasanten gesellschaftlichen Bedeutungsverlust zu leiden. Dies gilt in besonderer Weise für die historisch betrachtet „katholischen“ Länder; aufsehenerregende Skandale wie derzeit in Irland sind dabei weniger die Ursache als ein Symptom der Krise (5). Exemplarisch für die rasante Entkirchlichung einer einstmals „erzkatholischen“ Region ist das französischsprachige Kanada (Québec): In den 1960er Jahren ging hier der Anteil der Gottesdienstbesucher von 80% auf 20% zurück, innerhalb weniger Jahre brach das Ordensleben zusammen und die Kirche verlor ihre beherrschende Stellung im Bildungswesen (6). Mit der Lösung von der Kirche einher ging eine Lebensformenrevolution: Kleinere Familien, weniger Heiraten und stattdessen immer mehr nichteheliches Zusammenleben, mehr Trennungen und Patchworkfamilien – Québec ist mit dieser „stillen Revolution“ exemplarisch für die im späten 20. Jahrhundert aufgerissene tiefe Kluft zwischen den Lebensregeln und Idealen der katholischen Kirche und den (post)modernen Verhaltensweisen und Lebensstilen (7).

Ist dieser Graben zwischen der Lebenswirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts und der altmodisch-hierarchischen Kirche die Ursache der Krise? Falls ja, lässt sich der Graben durch ein entschlosseneres „Aggiornamento“ überbrücken? Die protestantischen Kirchen in Deutschland bieten hier einen großen Erfahrungsschatz: Sie sind demokratisch (synodal) organisiert, weniger „doktrinär“ und in ihren ethischen Lehren „flexibler“ – nicht zuletzt im Blick auf Sexualität, Ehe und Familie. Krisenresistenz erwächst ihnen daraus jedoch nicht: Seit Ende der 1960er Jahre hat die evangelische Kirche mehr als 5 Millionen Mitglieder durch Austritt verloren – ein Aderlass der den der katholischen Kirche (3,7 Mio.) sogar noch übertrifft (8). Engagierter in ihrer Kirche sind die verbliebenen Protestanten auch nicht: An Gottesdiensten nehmen sie deutlich noch seltener teil als Katholiken (9). Auch hier lügt die Statistik nicht: Wer die Gründe für die postmoderne Kirchenkrise sucht, muss offensichtlich tiefer forschen als es die Schablonen der öffentlichen Diskurse hergeben.

(1) Zur exakten Zahl der Austritte: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Katholische Kirche in Deutschland – Statistische Daten, Bonn 2011, S. 2. Zur Entwicklung der Nettoaustritte (Austritte-Ãœber- und Wiedereintritte) siehe Abbildung unten: „Kirchenflucht als Signum der Postmoderne“.

(2) Zur Entwicklung des Gottesdienstbesuchs seit den 1950er Jahren: Thomas Sternberg: Veränderungen der religiösen Landkarte Deutschlands, in: Soziales Seminar – Informationen 1/2004, S. 2. Zu den aktuellen Zahlen: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Katholische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten 2010/11, Bonn 2011, S. 20.

(3) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Katholische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten 2010/11, Bonn 2011, S. 14-15.

(4) Zur „natürlichen“ Bevölkerungsentwicklung der Kirchen in Deutschland siehe Abbildungen unten: „Christensterben: Mehr Beerdigungen als Taufen“.

(5) Zur Krise der katholischen Kirche seit den 1960er Jahren schreibt der britische Historiker Eric Hobsbawm: „Der Zement, der die römisch-katholischen Gemeinden zusammengehalten hatte, zerbröckelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit. […] Berufungen zum Priester oder zu anderen religiösen Lebensformen gingen jäh zurück, ebenso wie die Bereitschaft, tatsächlich oder zumindest für die Öffentlichkeit ein zölibatäres Leben zu führen. Kurzum: Die Moral der Kirche und ihre gewaltige Macht über die Gläubigen verschwand in dem schwarzen Loch, das sich zwischen ihren Lebensregeln und Moralvorstellungen und den Verhaltensregeln des späten 20. Jahrhunderts aufgetan hatte […].“ Siehe: Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 434-424.

(6) Zum Rückgang des Kirchenbesuches in Québec: Vgl. ebd. Zur Schicksal der Orden in Québec: Vgl.: Joseph Ratzinger: Zur Lage des Glaubens. Ein Gespräch mit Vittorio Messori, Freiburg im Breisgau 2007 (Neuauflage), S. 101-102.

(7) Zum Wandel der Lebensformen in Québec: Valérie Martin/Céline Le Bourdais: Stepfamilies in Canada and Germany, a Comparison, S. 241-278, in: Walter Bien/Jan Marbach (Hrsg.): Familiale Beziehungen, Familienalltag und soziale Netzwerke. Ergebnisse der drei Wellen des Familiensurvey, Wiesbaden 2008, S. 245-247.

(8) Eigene Berechnungen; Datenquelle: Joachim Eicken/Ansgar Schmitz-Veltin: Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland, S. 576-590, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik 6/2010, S. 589. Auch in anderen westlichen Ländern verzeichneten protestantische Glaubensgemeinschaften z. T. noch stärkere Rückgänge als die katholische Kirche. Vgl.: Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, op. cito, S. 424.

(9) Weniger als 4 Prozent der Mitglieder der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) nehmen am Sonntag an Gottesdiensten teil. Vgl.: Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Evangelische Kirche in Deutschland: Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2011, S. 15.

 

 

Quelle: IDAF, Wochen 36-37 / 2011 (www.i-daf.org)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 7. September 2011 um 15:44 und abgelegt unter Kirche.