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„Das ist gewißlich wahr!“

Donnerstag 5. April 2007 von Prof. Dr. Oswald Bayer


Prof. Dr. Oswald Bayer

„Das ist gewißlich wahr!“ Kraft und Profil des reformatorischen Glaubens.

I. Zugang

I.1 Wahrheitsgewißheit

Kraft und Profil des reformatorischen Glaubens fassen sich unüberbietbar kurz und klar in die Bekräftigungsformel, die uns aus Luthers Kleinem Katechismus vertraut ist: „Das ist gewißlich wahr!“ Mit dieser treffenden und sprechenden Übertragung und Umschreibung des hebräischen AMEN schließen Luthers Erklärungen der drei Artikel des„Apostolischen“ Glaubensbekenntnisses.

„Das ist gewisslich wahr!“ Das Christentum steht und fällt mit einer solchen assertio, einer solchen Wahrheitsbezeugung. „Tolle assertiones, et Christianismum tulisti“: „Nimm die Wahrheitsbezeugungen weg und du hast das Christliche aufhoben“ – schreibt Luther in seiner Streitschrift gegen Erasmus „Vom unfreien Willensvermögen“ (de servo arbitrio) 1525 (WA 18, 603,28f)(1). Der skeptische Humanist hatte in seiner ein Jahr zuvor (1524) veröffentlichten Erörterung über das freie Willensvermögen bekannt, dass er an den assertiones, den Wahrheitsbezeugungen keine Freude habe und das skeptische Abwägen vorziehe. Luther widerspricht mit aller Leidenschaft und allem Scharfsinn und besteht auf der Notwendigkeit der Wahrheitsgewißheit. „Was gibt es denn Schlimmeres als Ungewißheit?“ („Quid enim incertitudine miserius?“; WA 18, 604,33) fragt er. Aus der Klarheit der Bibel als Heiliger Schrift, aus ihrer Aufklärungskraft, folgt assertorisches Reden – das heißt: in bestimmter Weise die Wahrheit zu bezeugen, ihr beständig anzuhängen, sie zu bekräftigen, zu bekennen, auf sie Acht zu haben und bei ihr unerschütterlich auszuharren.

In diesem Sinne fragen wir nach dem, was „evangelisch“ ist.

 I.2 „Evangelisch“

„Evangelisch“ war in der frühen Neuzeit hauptsächlich ein reichsrechtlicher Begriff. Das „corpus evangelicorum“ umfaßte seit 1653 im Gefolge des Westfälischen Friedens die lutherischen und calvinistischen Territorien. Zu den Evangelischen gezählt zu werden, konnte in jener Zeit eine Frage von Krieg und Frieden sein. So war, was uns heute als geschichtlich-empirischer Befund vorliegt, von Anfang an mit existentiellen Entscheidungen verbunden; die Frage nach der normativen Kraft des Geglaubten konnte damals und kann auch heute nicht suspendiert werden.

In dezidiert theologischem Interesse in Anspruch genommen wurde der Begriff des „Evangelischen“ dann durch den Unionstheologen Schleiermacher, der den „Christlichen Glauben nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange“ darzustellen und dabei die lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften gleichermaßen zu verarbeiten suchte.(2) Wie auch immer die Durchführung einer solchen Unionstheologie im einzelnen zu bewerten ist – die Aufgabe ist auch uns gestellt: Es gilt, den Begriff des „Evangelischen“ bzw. „Reformatorischen“ im Sinne eines theologischen Normbegriffs zu bestimmen. Dabei ist Schleiermacher jedenfalls in seinem Leitsatz zum § 23 der Glaubenslehre ganz zuzustimmen: „Eine zu jetziger Zeit innerhalb der abendländischen Kirche aufzustellende Glaubenslehre kann sich zu dem Gegensatz zwischen dem Römisch-Katholischen und dem Protestantischen nicht gleichgültig verhalten, sondern muß einem von beiden Gliedern angehören.“(3) Zu jetziger Zeit – auch heute noch, nach Edmund Schlinks „Ökumenischer Dogmatik“(4), nach vielfachen Konsensgesprächen und Bemühungen um Gemeinsame Erklärungen, Annexe und Feststellungen. Denn die Kernfrage ist – bei allen erfreulichen atmosphärischen und durchaus auch sachlichen Annäherungen – zwischen Rom und Wittenberg heute noch so strittig wie 1518: Worin ist Heilsgewißheit begründet? Und was bedeutet das für das Verständnis von Kirche?

I.3. „Reformatorisch“

Es waren diese beiden eng zusammengehörigen Fragen, die zwischen Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518 in Augsburg strittig waren. Auf diese Kontroverse und das in ihr Strittige, das „Reformatorische“, kann nun in verschiedener Perspektive zurückgeblickt werden.

In der Kirchengeschichtsschreibung dominiert die Tendenz, das Adjektiv „reformatorisch“ zur vermeintlich rein historischen Kennzeichnung eines Epochenbegriffs zu verwenden.(5) Daß dies im Interesse nüchterner Wissenschaftlichkeit geschieht, ist durchaus zu begrüßen. Bedenklich aber ist eine Tendenz, die sich mit diesem Objektivitätsinteresse verbindet – die Tendenz nämlich, den Zaun zwischen den Disziplinen der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie so zu erhöhen, daß Fragen inhaltlicher Gewichtung und Urteilsfindung prinzipiell aus dem Bereich des Historischen hinausverwiesen werden. Mit dem Schritt ins vermeintlich rein Historiographische möchte man dem Streit der Positionen und Konfessionen entgehen, läuft aber Gefahr, unter der Hand den Gegenstand auch der historischen Forschung selbst zu verlieren.

Soll die Rede vom „Reformatorischen“ ein „bleibendes Recht“ haben, wie im Untertitel dieses Vortrags behauptet, so muß vom „Reformatorischen“ als von einem mehr als nur historischen Phänomen gesprochen werden. Wir fragen deshalb jetzt nicht nach soziokulturellen Bedingungen der Reformation oder nach Luthers psychischer Disposition, auch nicht nach der Beharrungskraft konfessioneller Institutionen als solcher, sondern präzis danach, inwiefern „reformatorisch“ ein systematisch-theologischer Normbegriff ist bzw. sein kann. Wenn es stimmt, daß die reformatorische Ursituation zwar geschichtlich verfaßt, aber sachlich von epochenübergreifender – gar: bleibender! – Bedeutung ist, dann ist uns zwar nicht Luther als Person, wohl aber die von ihm vertretene Sache – jedenfalls in ihrem entscheidenden Punkt – trotz aller historischen und geistesgeschichtlichen Umformungen auch heute noch gegenwärtig. Entsprechend formuliert Wilhelm Maurer: „Evangelisch ist ein Normbegriff; er bezeichnet, was mit der Lehre des Evangeliums übereinstimmt. Sobald diese strittig wird, tritt ein Anspruch hervor: evangelisch ist, was christlich ist. So hat Luther das Wort verstanden und seine Verengung zum Parteinamen abgelehnt.“(6)

 II. Zentrum

II.1. Die Ursituation: der Streit um die Heilsgewißheit
zwischen Luther und Cajetan 1518

Was ist in diesem Sinne „evangelisch“ und „reformatorisch“, ja, in der Streitsituation: was ist im eminenten Sinne „christlich“? Nur einen ersten undeutlichen Hinweis auf das Erfragte gibt das Wort „reformatio“ selbst. Es meint einen Rückgriff auf Ursprüngliches, einen Versuch, dieses neu zur Geltung zu bringen oder neu gelten zu lassen. Doch kann die Untersuchung seines Gebrauchs vor, bei und nach Luther nicht die bestimmte Inhaltlichkeit ermitteln, die einem Begriff zukommen muß, der nicht nur ein kirchen- und weltgeschichtliches Phänomen einschließlich seiner gegenwärtigen Wirkungen allgemein historiographisch bezeichnen, sondern eine normative Funktion ausüben soll. Die Erfüllung solcher Funktion erwartet von ihm, wer Bekenntnisschriften vorlegt, verteidigt, auf sie verpflichtet und sich auf sie verpflichten läßt – wie bei der Ordination zum Pfarramt. Er bekundet damit, daß die reformatorische Wende in Luthers Theologie nicht einfach nur zufälliger Ausgangspunkt eines bis heute dauernden geschichtlichen Prozesses ist, in dem das „Reformatorische“ gar erst nach und nach zu sich käme, sondern daß es in bestimmter sprachlicher Artikulation als systematische und kontroverstheologische Ursituation in die Geschichte verfaßt ist.

Diese Ursituation sehe ich im Streit um die Heilsgewißheit und – damit zusammenhängend – um das rechte Verständnis der Kirche gegeben, wie er sich im Augsburger Verhör Luthers durch Kardinal Cajetan im Oktober 1518 zuspitzt. An anderer Stelle habe ich gezeigt, warum ich die verschiedenen Selbstzeugnisse Luthers über seine reformatorische Wende historisch wie sachlich in dieser Ursituation zusammengefaßt sehe (7); heute möchte ich mich gleich auf die Sache selbst konzentrieren und dann im dritten Teil dieses Vortrags zu zeigen versuchen, was sie – für das Sünden- und Glaubensverständnis, für die Gotteslehre, speziell für das Verständnis der Theodizee und der Prädestination, für die Ekklesiologie und schließlich für das Theologieverständnis überhaupt – bis heute für das Streitgespräch mit Rom austrägt.

Mit Wilhelm Maurer vertrete ich die Auffassung, angesichts der Bestreitung des Evangelischen werde die Frage nach diesem zur Frage nach dem Christlichen selbst. So schreibt Luther am 14. Oktober 1518 an Karlstadt im Blick auf das Augsburger Verhör durch Cajetan: „Ich will nicht zu einem Ketzer werden, indem ich dem widerspreche, wodurch ich zu einem Christen worden bin; eher will ich sterben, verbrannt, vertrieben und verflucht werden.“(8)

Was ist es, wodurch Luther zu einem Christen geworden ist? Es ist die „fides specialis“: der spezielle und spezifische Glaube, der sich auf die Zusage des Evangeliums – die promissio – richtet und durch sie begründet ist.(9) Luther verantwortet vor Cajetan die These, „daß niemand gerechtfertigt werden kann, es sei denn durch den Glauben, so nämlich, daß es für ihn notwendig ist, mit festem Glauben zu glauben, daß er gerechtfertigt wird [certa fide credere sese iustificari], und in keiner Weise zu zweifeln, daß er die Gnade erlangt. Wenn er nämlich zweifelt und ungewiß ist, wird er eben damit nicht gerechtfertigt, vielmehr speit er die Gnade aus.“(10) Die römischen Theologen – so hält Luther in seinem veröffentlichten Bericht über das Augsburger Verhör fest – „meinen, daß diese Theologie neu sei und ein Irrtum.“(11) Luther dagegen beruft sich auf die „unfehlbare Wahrheit“ – die „infallibilis […] veritas“(12) – von Röm 1,17 und Joh 3,18: „Der Gerechte lebt aus Glauben“; „wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet.“(13) Unter den zahlreichen weiteren biblischen Belegen, die Luther beibringt (14), hebt er besonders Mt 16,19 hervor: Wer dem im Namen Jesu Christi gesprochenen Vergebungswort nicht glaubt, macht ihn zum Lügner. „Wenn du aber sagst: ‚Was, wenn ich unwürdig und nicht in der rechten Disposition fürs Sakrament bin?‘, so antworte ich […]: Durch keine Disposition wirst du würdig, durch keine Werke wirst du geeignet zum Sakrament, sondern allein durch den Glauben. Denn allein der Glaube an das Wort Christi rechtfertigt, macht lebendig und würdig und ist die rechte Vorbereitung. […] Der Gerechte nämlich lebt nicht aus seiner Disposition, sondern aus Glauben.“(15) Luthers Bericht bekundet, wie sich das Verhör, von diesem Glaubensverständnis ausgehend, auf die Frage der Autorität Roms ausweitete.(16) Angesichts des von Luther vertretenen Wort- und Glaubensverständnisses (17) stellte Cajetan hellsichtig fest: „Dies bedeutet, eine neue Kirche zu bauen.“(18)

II.2. Das Urmotiv: promissio und Glaube

Die Sache, die in dieser Kontroverse verhandelt wurde, ist im strengen Sinn als das reformatorische Urmotiv zu bezeichnen – „reformatorisch“ nun präziser gebraucht als vorhin (I.2) im Blick auf die Gemeinsamkeit von Lutheranern und Reformierten. Das reformatorische Urmotiv besteht im Verständnis der promissio als der Anrede, die das Heil nicht nur ansagt, sondern zusagt und durch den Heiligen Geist im Glauben selbst ins Werk setzt. Der Durchbruch zu diesem Verständnis läßt sich bei Luther literarisch erstmals in der Thesenreihe „Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis“ – „Zur Erforschung der Wahrheit und zum Trost der geängsteten Gewissen“ – vom Frühsommer 1518 nachweisen.(19) Hier wird das Absolutionswort nicht als deklaratorisches Urteil im Sinne einer Aussage über die vom Priester festgestellte Reue des Beichtenden verstanden, sondern als die Sache – als die Vergebung – selbst. Damit sprengt Luther den Rahmen des antiken Sprachverständnisses, vor allem des stoischen, das sich Augustin vererbte und noch heute weithin herrscht. Für Luther ist die menschliche Sprache in ihrem sakramentalen Gebrauch kein System von Zeichen, die auf Gegenstände oder Sachverhalte hinweisen oder eine Emotion ausdrücken. Daß vielmehr das sprachliche Zeichen selbst schon die Sache ist, daß es nicht Abwesendes, sondern Anwesendes sagt (20): das war Luthers große hermeneutische Entdeckung, seine im strengen Sinne reformatorische Entdeckung. Das Absolutionswort konstatiert nicht, sondern konstituiert. Es ist eine Sprachhandlung, die einen Tatverhalt erst herstellt, ein Verhältnis erst schafft – zwischen dem, in dessen Namen gesprochen wird, und dem, zu dem gesprochen wird und der der Zusage glaubt.

Das neue Verständnis des Bußsakraments, das Luther im Kampf gegen das Ablaßunwesen gewann, führt auch zu einer Wandlung im Verständnis von Taufe und Herrenmahl. Das Evangelium hat seinen bestimmten „Sitz im Leben“; es ergeht als mündliches, leibliches Wort, das keiner sich selber sagen kann, das er sich vielmehr im Namen Gottes von einem anderen sagen lassen muß. Die reformatorische Rechtfertigungslehre ist nichts anderes als die allgemeine Ausweitung der spezifisch reformatorischen Sakramentenlehre. Doch selbst in ihrer Allgemeinheit bleibt sie speziell, weil sie sich nicht von der bestimmten Wortförmigkeit des Glaubens abstrahieren läßt.

Erst durch dieses Verständnis der promissio ist die konkrete Unterscheidung von Gesetz und Evangelium möglich. Anders gesagt: Die nominelle Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als solche besagt noch nicht viel für das Verständnis des „Reformatorischen“. Es kommt vielmehr darauf an, in welcher Weise und auf welcher Basis sie getroffen wird. Nach lutherischem Verständnis kann reformatorische Theologie nicht von einem neuen Gesetz sprechen, das etwa aus dem Evangelium folgte, wenn sie angesichts des Letzten Gerichts die Gewissen schärfen und trösten will. Erst als Luther die promissio Dei als das eindeutige, mündliche Heilswort entdeckt hatte, die, wie er sagt, „im ganzen Papsttum allen Theologen dunkel und unbekannt war“ (21), fand er eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Heilsgewißheit, die vor der reformatorischen Wende seines Lebens und seiner Theologie in angstvoller Weise offengeblieben war und ihn in den Strudel nie endender Ungewißheit gerissen hatte.

„Ich will nicht zu einem Ketzer werden, indem ich dem widerspreche, wodurch ich zu einem Christen worden bin.“ War Luther also vor 1518 (22) noch kein Christ? Und wären demnach auch heute alle diejenigen keine Christen, die seine reformatorische Entdeckung nicht kennen oder nicht teilen? Damit wäre eine unaufgebbare Unterscheidung nicht wahrgenommen. Denn kein Mensch kann über das Gottesverhältnis eines anderen ein letztes Urteil fällen; deswegen empfiehlt Luther, im Zweifelsfall den „Maßstab der Liebe“ anzulegen – dem „canon charitatis“ zu folgen und das Christsein des andern anzunehmen.(23) Das letzte Urteil über den „Maßstab des Glaubens“ des Herzens kommt Gott allein zu; Gott sieht das Herz an. Dennoch aber müssen wir uns, was unsere Verantwortung für die lehrmäßige Entfaltung der christlichen Wahrheit betrifft, um höchstmögliche Klarheit und Deutlichkeit bemühen. „Es ist Sache der Liebe“, sagt Luther, „alles zu ertragen [1Kor 13,7] und allen zu weichen. Dagegen ist es Sache [der öffentlichen Lehre] des Glaubens, schlechthin nichts zu ertragen und keinem zu weichen.“(24) Solches Bestehen auf der klaren Wahrheit von Predigt und Lehre dient angesichts des Letzten Gerichts der Erschütterung der sicheren und dem Trost der geängsteten Gewissen. Denn ein Christ muß „wissen“ – um Luthers Leipziger Predigt von 1519 zu zitieren –, „wie er mit Gott dran ist, wenn das Gewissen befreit sein und bestehen“(25), der Mensch also nicht zugrunde gehen soll. Damit komme ich zur Entfaltung des bleibenden Rechtes der Reformation.

III. Implikate und Folgen

Das „Reformatorische“ steht nicht in eiserner Unbeweglichkeit in der Geschichte. Deshalb muß es ständig auf sein Recht und seinen Wahrheitsanspruch hin geprüft werden – vor allem angesichts des erfreulichen Gesprächs zwischen römisch-katholischer und evangelischer Theologie seit dem Zweiten Vatikanum. (Ernsthafte und sorgfältige kontroverstheologische Bemühung ist eine unverzichtbare Voraussetzung ökumenischer Verständigung!) Meine These: Die reformatorische Sache hat ihr bleibendes Recht; die Kirchentrennung hingegen ist hoffentlich nur zeitlich begrenzt. Doch führt diese Hoffnung keineswegs zu einer Wahrnehmung ökumenischer Verständigung als Streben nach Einheit um jeden Preis, sondern als Dienst an der Einheit durch präzise Benennung auch des Dissenses.

Was atmosphärische Dinge betrifft, können und müssen immer wieder auf beiden Seiten Hindernisse beseitigt werden. Die eine Kernfrage und ihre Implikate sind aber nach wie vor strittig. Ich nenne – am Leitfaden der Heilsgewißheit gleichsam von innen nach außen vorgehend – die folgenden Implikate:

III.1. Sünden- und Glaubensverständnis

Geht es in der Theologie letztlich um die Ehre Gottes und damit um das Heil der Welt, so ist ihr Gegenstand mit Luther zu bestimmen als das Auseinander und Beieinander, das Gegeneinander und Miteinander des sündigen Menschen und des rechtfertigenden Gottes.(26) Wer Sünder ist, der ist es ganz und gar, weil ihm die Heilsgewißheit fehlt oder weil er sich in einer falschen Gewißheit wiegt; wer von Gott gerechtfertigt ist, der ist es als Sünder, der von sich selbst in seinem Trotz und seiner Verzagtheit befreit sein darf.

Um diesen Hauptpunkt reformatorischer Theologie in treffender Weise bestimmen zu können, bedarf es der klaren Unterscheidung dreier Widerfahrnisse. Das erste liegt in dem allen Menschen geltenden „politischen“ Gebrauch des Gesetzes (usus politicus legis); das zweite geschieht in dem den Sünder überführenden Gebrauch des Gesetzes (usus elenchticus legis); das dritte Widerfahrnis begegnet in dem immer wieder überraschend neuen, von außen her zukommenden Evangelium der Vergebung und Befreiung. Führte man diese drei irreduziblen Widerfahrnisse mit Hilfe einer transzendentalanthropologischen Einheitsfigur aufeinander zurück oder leitete sie auseinander ab, so wäre die Schärfe der Brüche zwischen der von Anfang an sehr guten Schöpfung (Gen 1,31) und der Sünde sowie zwischen Sünde und Gnade verkannt. Wenn sich die Heilsgewißheit auf anthropologische oder kosmologische Substitute stützen müsste, verlöre sie ihre konkrete Begründung, ihren „Sitz im Leben“ in der in der Taufe ein für allemal zugesagten, im Abendmahl und in jeder abendmahlsgemäßen Predigt je und je neu ergehenden promissio.

III.2. Gottesverständnis

Es ist kein Existentialismus oder Anthropozentrismus, wenn reformatorische Theologie die genannten Brüche auch in der Gotteslehre wahrnimmt. Sie entspringt keineswegs nur projizierten Gottesbildern des einzelnen – womöglich depressiven – „jungen Mann[es] Luther“, der Schwierigkeiten mit seinem autoritären Vater hatte, wie Erikson meinte.(27) Es gibt doch zu denken, dass viele seiner Zeitgenossen einstimmten und in Luthers Lebenswende ihr eigenes Leben gewendet sahen; Albrecht Dürer etwa bezeugt, Luther habe ihm mit seinem reformatorischen Wort „aus großen Ängsten geholfen“.(28) Doch geht es auch nicht bloß um das Gottesbild einer Epoche, die nun vergangen ist und deren Voraussetzungen – vor allem die Angst vor dem Jüngsten Gericht – wir nicht mehr teilen; der Wahrheitsanspruch des im dargelegten Sinn normativ Reformatorischen ist universal. Gleichwohl lässt er sich nicht abstrakt demonstrieren; seine Verallgemeinerungsfähigkeit läßt sich nicht vorweg bedingen und sicherstellen. Es bedarf dazu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den oft impliziten Gotteslehren der Moderne und Postmoderne sowie mit den Transformationen der Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium.(29)

In einer solchen Auseinandersetzung ist geltend zu machen, daß nur von der in Christus geschehenen Rechtfertigung des Gottlosen her der Glaubende „wissen kann, wie er mit Gott dran ist“ (30) – und nicht durch eine vermeintlich allgemein gegebene Gotteserkenntnis. Zwar wissen oder ahnen – in der Sehnsucht nach dem Lebensnotwendigen, im Stoßgebet und in der Klage – alle Menschen, daß ein Gott ist, aber sie wissen nicht, wer er ist – wer er ihnen, wer er mir ist, so dass Luther (zu Jona 1,5) pointiert formulieren kann, dass „alle von Gott wissen“, „aber keinen gewissen Gott“ haben (31); sie sind des Heils nicht gewiß.

III.3. Theodizee und Prädestination

„Extra Iesum quaerere deum, est diabolus.“ (32) – „Außerhalb Jesus Gott zu suchen, das ist der Teufel.“ Ohne Heilsgewißheit läßt sich nicht in rechter Weise von Gott sprechen, geschweige denn an ihn glauben. Doch ist gerade die Heilsgewißheit immer wieder neu angefochten durch das vierte, dunkle, verstörende Widerfahrnis: durch Gottes Verborgenheit, ob sie nun in bedrängend-heißer Nähe oder tödlich-kalter Ferne erfahren wird. Der schrecklich verborgene Gott ist, reformatorisch geredet, das genaue Gegenteil dessen, was in den ersten drei Widerfahrnissen erfahren wird. Spricht Gott dort noch in jeweils spezifischer Weise – sei es indirekt durch Ordnungen und Naturgesetze (usus politicus), sei es in anklagender Deutlichkeit (usus elenchticus) oder aber in tröstender, befreiender Klarheit (Evangelium) –, so läßt sich der schrecklich verborgene Gott in keiner Weise fassen, ansprechen oder aussagen. Und dennoch ist er auch darin Gott: jene Allmacht, die gegen den Menschen kämpft, die ihn in der Vermischung von Lebensgewährung und Lebensversagung, Glück und Unglück in die Ungewißheit treibt; Luther sagt von diesem verborgenen Gott, daß er „Leben und Tod und alles in allem wirkt“.(33) Gott widerspricht seiner eigenen Offenbarung, so daß von einem Kampf und Gegeneinander in Gott selbst zu sprechen ist: Gott gegen Gott – wie im Buch Hiob. Gewißheit des Heils stellt sich gerade da ein, wo der Glaubende „zu Gott gegen Gott flieht“.(34)

Reformatorische Theologie ist daher, vor allem wo sie die zwei Weisen der nicht verstehbaren Verborgenheit Gottes bedenkt – die von allen Menschen erlittene Theodizeefrage und die insbesondere von den Gläubigen empfundene Problematik der Prädestination –, kämpfende Theologie.(35) Sie kann sich nicht bei dem Gedanken einer nach einem kosmischen ordo gestuften Welt und einem entsprechenden Gottesbild beruhigen, wie es klassisch von Thomas von Aquin vertreten wird. Gott, den wir, solange wir unterwegs sind, in mehrdeutiger Allmacht erfahren müssen, jetzt schon als gütigen und barmherzigen Vater anrufen zu dürfen, ist nur im Licht der weltüberwindenden Gewißheit von Röm 8,31-39 möglich. Des Heils gewisser Glaube ist die je aktuelle Überwindung der Anfechtung.

 III.4. Ekklesiologie und Ökumene

Daß das Kirchenverständnis ebenfalls vom Streit um die Bestimmung des „Reformatorischen“ betroffen ist, liegt auf der Hand. Da es aber oft – vor allem in der Presse – so klingt, als sei dies das einzig verbliebene Problem, während alle anderen bereits im Sinne einer diplomatischen Scheibentaktik gelöst worden seien, ordne ich es hier an vierter Stelle in die Reihe der Implikate und Folgen der reformatorischen Entdeckung ein. So wird die Einbettung dieses Themas in den Zusammenhang des gesamten – von der Rechtfertigung her bestimmten – Lehrkorpus deutlicher.

„Ubi est verbum, ibi est ecclesia“.(36) Auf ihre Weise mag auch römisch-katholische Theologie und Ekklesiologie diesem reformatorischen Grundsatz zustimmen. Jedoch: von welchem Wort sprechen wir? Bei all seinen zugestandenen Profilierungs- und Stabilisierungsproblemen – teils von außen induziert, teils hausgemacht – sucht doch evangelisches Kirchenverständnis der Souveränität und Selbstwirksamkeit des göttlichen Wortes, die durch den Heiligen Geist geschieht, Rechnung zu tragen. Daß Gott selbst durch das „leibliche Wort“ den rechtfertigenden Glauben wirkt, „wo und wann es ihm gefällt“ („ubi et quando visum est Deo“; CA 5), läßt sich weder sakraments- noch amtstheologisch absichern, weder kirchenrechtlich ordnen noch in das vermeintlich selbstregulierende Zusammenspiel von Heiliger Schrift, Tradition, Glaubensverständnis des Kirchenvolkes (sensus fidelium), kirchlichem Lehramt und wissenschaftlicher Theologie einbinden.(37) In einer akademischen Disputation über die Kirche sagte Luther kurz und bündig: „Evangelium soll die successio sein.“(38)

III.5. Theologie, Religion, Philosophie

Kommen wir schließlich zum weitesten Kreis der Auswirkungen reformatorischer Theologie: zum Selbstverständnis der Theologie und damit zu den sogenannten Prolegomena. Da diese in jedem Fall von materialer Theologie durchdrungen sind und im Entstehungsprozeß einer Dogmatik zumeist auch als letzte verfaßt werden, ist es durchaus sachgemäß, sie hier an den Schluß zu stellen.

Theologie ist keine Sonderform von Philosophie und auch keine Religionslehre. Sie ist auch weder eine bloße Funktion der Kirche noch der an einer staatlichen Fakultät verankerten Wissenschaft. Sie ist nicht nur eine professionelle Bemühung des Denkens, sondern kommt im ursprünglichsten Sinn vom Gottesdienst her und geht auf ihn hin. In diesem ursprünglichen Sinn ist sie identisch mit jenem Glauben, der sich auf die promissio gründet. Von ihrem Ursprung her verhält sie sich daher bei aller Anschlußfähigkeit und weisheitlichen Weite kritisch gegenüber einer Natürlichen Theologie und einer Theologie der Religionen – jedenfalls dann, wenn beide meinen, die bezeichneten Brüche in prozeßhaft-evolutionäre oder quantitative Übergänge verwandeln zu können.

Das „Reformatorische“ erschöpft sich mithin nicht in einer Sonderlehre, die sich additiv mit anderem kombinieren ließe. Es bildet eher das Salz in der Suppe der gesamten Theologie, das jedem Einzelthema seinen Geschmack und seine Prägung verleiht. Zwischen quasi-juridischem und an einer Summe von zu glaubenden Einzelsätzen (credenda) orientiertem Lehrverständnis auf der einen Seite und bewußtseinstheologischen, anthropologisch-funktionalen „Verflüssigungen“ andererseits wird es reformatorischer Theologie wohl bis ans Ende der Tage bedürfen. Erst dann werden wir auch in konfessioneller Hinsicht „nichts mehr fragen“ müssen (Joh 16,23).

Anmerkungen

1 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe = WA), Weimar 1883ff.

2 Vgl. FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube […], hg.v. MARTIN REDEKER, §§ 25.27 (142ff; 148ff). Entscheidendes Kriterium ist der „Geist“ des Evangelischen: „Endlich ergreift die Eigentümlichkeit der [dogmatischen] Darstellung auch jenes allmählich antiquierte Gebiet [der altprotestantischen Lehrstücke], um einzelne Lehren dem protestantischen Geist entsprechender umzubilden. […] Wenn aber nun Heterodoxes sich dafür geltend zu machen weiß, daß es mit dem Geist der evangelischen Kirche besser zusammenstimmt als der Buchstabe der Bekenntnisschriften: so wird dieser dann antiquiert, und jenes wird orthodox“ (§ 25 [144f]).

3 AaO. 134 (Leitsatz von § 23).

4 EDMUND SCHLINK, Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen 1983.

5 Vgl. zur Diskussionslage: BERND HAMM, BERND MOELLER, DOROTHEA WENDEBOURG, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995; VOLKER LEPPIN, Wie reformatorisch war die Reformation? (ZThK 99, 2002, 162-176); GOTTFRIED SEEBASS, Geschichte des Christentums III. Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung, Stuttgart 2006, 17-22: „Epochenproblem und Gliederung.“

6 WILHELM MAURER, Art. „Evangelisch“, RGG3 Bd. 2, 1958, Sp. 775f; vgl. HEINRICH DE WALL, Art. „Evangelisch“, RGG4 Bd. 2, 1999, Sp.1709f. Zu Luthers Ablehnung des parteiischen Namens: WA 8, 685,4-16 („Treue Vermahnung […]; 1522).

7 Vgl. OSWALD BAYER, Die reformatorische Wende in Luthers Theologie (ZThK 66, 1969, 115-150, besonders 115-122); DERS., Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt 21989, 1-7 (Vorwort zur zweiten Auflage).

8 WA Br 1, 217,60-63. Vgl. WA 2, 18,14-16 (Acta Augustana; 1518) an den Leser der Dokumentation: „Du bist kein schlechter Christ, ob du nun [die Bulle] ‚Extravagantem‘ kennst oder nicht; du bist jedoch nichts anderes als ein Häretiker, wenn du den Glauben an das Wort Christi verneinst“; Übersetzung (wie auch im folgenden).

9 Vgl. BAYER, Promissio (s.o. Anm. 7), 186-202).

10 WA 2, 13,7-9 (Acta Augustana); Ãœbersetzung.

11 Ebd. Z.10.

12 Ebd. Z.12-14.

13 Ebd.

14 Röm 4,3; Jes 55,11; Heb 11,6.

15 WA 2, 14,4-9.

16 AaO. 16,22-17,27.

17 In Cajetans Worten: „fides, qua poenitens credat certissime se esse absolutum a Deo“ (Opuscula, 111a, 3ff, Lyon 1575).

18 Ebd., Z.7f („Hoc est novam ecclesiam construere.“). Umstritten ist freilich bis heute, wer von dem Vorwurf, „neue Kirche“ zu sein, getroffen wird: Während aus römischer Sicht der Protestantismus eine Neuerung gegenüber 1500 Jahren Kirchengeschichte darstellt, erheben die Reformatoren den Anspruch, mit ihrem Wort- und Schriftverständnis zur wahren Kirche zurückzukehren, während das Papsttum als inzwischen aufgekommene Neuerung anzusehen sei (vgl. v.a. WA 51,447-507,13 [Wider Hans Worst; 1541]).

19 WA 1, 630,1-633,12. Vgl. BAYER, Promissio (s.o. Anm. 7), 164-202.

20 „Signum philosophicum est nota absentis rei; signum theologicum est nota praesentis rei“: WA TR 4, 666,8f (Nr. 5106); 1540.

21 WA 44, 719,18-23 (zu Gen 48,21): „[…] in toto Papatu omnibus Theologis obscura et ignota erat.“

22 „Die Frühdatierung kann man letztlich nur vertreten, wenn man dieser Frage [der Heilsgewißheit] kein alles beherrschendes Gewicht zumißt. Es ist die Stärke der Spätdatierung, auf diesem nach dem Urteil von Freund und Gegner doch offenkundig zentralen Punkt zu bestehen, ob man ihn nun am Wortverständnis oder am Gerechtigkeitsverständnis oder an beidem zusammen festmacht“ (OTTO HERMANN PESCH, Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers ‚Reformatorischer Wende’ Catholica 38, 1984, 128).

23 WA 18, 651,31-652,11 (De servo arbitrio; 1525).

24 WA 40 II, 48, (13-27)13f (zu Gal 5,9f; 1531).

25 WA 2, 249,4f (Predigt zu Mt 16,13-19; 29. Juni 1519 bei der Leipziger Disputation).

26 WA 40 II, 328,1f (Auslegung von Ps 51; 1532).

27 ERIK H. ERIKSON, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, stw 117, Frankfurt/M. 1975.

28 Brief an Spalatin von Anfang 1520 (ALBRECHT DÜRER, Schriftlicher Nachlaß, hg. v. HEINRICH RUPPRICH, Bd. I, 1956, 32. Brief [86f], 86; Zitat modernisiert.

29 Vgl. o. I,1: Mit Luther in der Gegenwart.

30 S.o. Anm. 25 (Leipziger Predigt 1519).

31 WA 19, 208,21f (Der Prophet Jona ausgelegt; 1526).

32 WA 40 III, 337,11 (zu Ps 130,1; 1532/33).

33 WA 18, 685, 22f (De servo arbitrio; 1525).

34 WA 5, 204,26f (operationes in Psalmos; 1519-1521).

35 Vgl. THOMAS REINHUBER, Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio (TBT 104), Berlin/New York 2000.

36 WA 39 II, 176,8f (Promotionsdisputation von Johannes Macchabäus Scotus de ecclesia; 1542).

37 Vgl. OSWALD BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007, 78-80, zu „Communio Sanctorum“.

38 WA 39 II, 177,2 (de ecclesia: s.o. Anm. 36).

Vortrag beim Kongreß des Gemeindehilfsbundes am 9. März 2007 im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 5. April 2007 um 15:36 und abgelegt unter Theologie.