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Die drei Märtyrer von Malatya: Leben, Sterben und eine theologische Einordnung

Mittwoch 20. Dezember 2023 von Wolfgang Häde


Wolfgang Häde

Am 18. April 2007 wurden in der osttürkischen Provinzhauptstadt Malatya drei Christen brutal ermordet: die Türken Necati Aydın und Uğur Yüksel, sowie der Deutsche Tilmann Geske. Tilmann Geske war von 1982–1987 Student der STH Basel (damals noch «FETA»).

Mit Tilmann überschnitt sich meine eigene Zeit an der FETA. Ein Jahr spielten wir gemeinsam im kleinen Streichorchester. Später traf ich ihn als Missionar wieder in Malatya, wo wir unsere Verwandten besuchten. Necati Aydın war nämlich mit der Schwester meiner türkischen Frau verheiratet. Uğur Yüksel kam als Student nach İzmit, im Westen der Türkei. Er besuchte als neuer Christ ein paar Monate unsere kleine Gemeinde, bevor er in seine Heimat im Osten zurückkehrte.

Als Necati einige Monate vor seinem Tod bei uns zu Besuch war, predigte er in unserer Gemeinde. Ein junger Türke war sehr beeindruckt vom ernsten Glauben Necatis. Dieser junge Mann brachte aber durch Internetkontakte unwissentlich meinen Schwager in Verbindung mit seinen späteren Mördern. Vermutlich war es auch diese Verbindung, die dazu führte, dass die Mörder der drei Christen nach ihrer schrecklichen Tat im Büro von Necati bei der Polizei aussagten, sie hätten auch «Pastor Wolfgang, den Chef der Missionare»[1] umbringen wollen. Daraufhin stellte mir die türkische Polizei einen Personenschützer. Was hatten die drei Männer, die ausdrücklich aufgrund ihres evangelistischen Dienstes ermordet wurden, gemeinsam? Sie waren ungefähr gleich alt – zwischen 32 (Uğur) und 46 (Tilmann) Jahren – also «Männer im besten Alter». Sonst waren sie sehr unterschiedlich: Ein recht stiller Deutscher mit namenschristlicher Herkunft, ein Kurde (Uğur), der aus dem Alevitentum stammte, einer eher liberalen muslimischen Sondergruppe in der Türkei, und ein Türke (Necati) mit konservativ sunnitischem Hintergrund. Mir scheint, dass ihre Gemeinsamkeit darin bestand, dass jeder von ihnen sein Herz auf Jesus Christus ausgerichtet hatte. Das lässt sich nicht exakt definieren; aber irgendwann habe ich gedacht: Unser Gott hat die drei Märtyrer gut ausgewählt. Wir wollen einen kurzen Blick auf ihr Leben werfen.

 

 

Biografisches

 

Tilmann Geske (1961–2007)

Leider ist das Buch über das Leben von Tilmann Geske und seiner Frau Susanne[2] nur noch antiquarisch erhältlich. Tilmann wurde in Mindelheim in Bayern geboren, wuchs aber im norddeutschen Landkreis Celle auf. Als Jugendlicher stand Sport für ihn im Vordergrund. Er betrieb Rudern als Leistungssport.

Kurz vor seinem Abitur kam es durch Kontakt zu Christen in der von Evangelist Wilhelm Pahls gegründeten «Freien evangelischen Gemeinde» in Wienhausen zur persönlichen Hinwendung zu Gott. Seine Energie investierte der Leistungssportler nun zunehmend in Gemeindearbeit: Jugendgruppe, Singen und Beten mit Freunden, Einsätze mit «Operation Mobilisation». Bei solch einem Einsatz traf Tilmann auch die Entscheidung für ein Theologiestudium an der FETA.

Während des Studiums lebte Tilmann in einer Wohngemeinschaft mit Daniel Pahls, dem Sohn von Wilhelm Pahls, heute Pastor der FeG Rhein-Sieg in St. Augustin. Nach Tilmanns Tod erinnerte sich Daniel:

«Eine intensive Zeit mit Tilmann erlebte ich während unseres Studiums in Basel … Wir arbeiteten in der FeG Lörrach gemeinsam im Jugendkreis, sangen zusammen im Chor, führten zusammen Straßenaktionen durch … Tilmann hatte schon in dieser Zeit ein starkes missionarisches Anliegen. Und er nahm sich viel Zeit für das Gebet und war sehr diszipliniert darin.»

Ein Jahr lang wohnten wir zusammen in einem Zimmer. Wenn ich morgens aufstand, saß er schon lange in der Küche und betete. Beeindruckt hat mich immer seine tiefe Hingabe an Jesus. Er war schon damals bereit, wirklich alles für Jesus zu geben und jeden Weg zu gehen, den sein Herr ihn führen würde.

Obwohl ich länger gläubig war als er, war er mir in seiner Hingabe und Konsequenz ein grosses Vorbild.

Nach dem Theologiestudium leitete Tilmann zusammen mit einem anderen Christen die kleine, im Aufbau befindliche Gemeinde FeG Lindau. Da es keine volle Stelle für ihn gab, arbeitete er Teilzeit nachts und morgens bei der Post. In 13 Jahren in Lindau knüpfte er schon einige Kontakte zu Türken.

Susanne, Tilmanns spätere Frau, war Bibelschülerin an der New-Life-Bibelschule in Walzenhausen. 1992 heirateten die beiden. Nach der Geburt von zwei Kindern siedelte die kleine Familie 1997 in die Türkei um.

Hingabe war für den eher stillen und tief denkenden Tilmann nicht nur ein frommer Spruch. Der Hingabe seiner Zeit und Kraft für Jesus in einem sehr fremden Land folgte die Hingabe seines Lebens. Kurze Zeit vor seinem Tod hat Tilmann mit Susanne über die Möglichkeit der Verfolgung von Christen gesprochen. Sicher hat er nicht mit seinem unmittelbar bevorstehenden Märtyrertod gerechnet, aber er schien bereit zu sein.

 

Necati Aydın (1972–2007)[3]

Necati war das neunte und letzte Kind einer Familie aus Erzurum im Osten der Türkei, die wegen eines Erdbebens ihre Heimat verließ und sich schließlich in Menemen bei Izmir, an der Westküste der Türkei, niederliess.

Einige seiner älteren Brüder waren aktiv in der damaligen islamistischen Partei. Necati selbst tat sich durch besonders gewissenhafte Befolgung der islamischen Regeln hervor. Wenn er eine der täglichen Gebetszeiten verpasst hatte, machte er sich Notizen, um sie nachzuholen, damit er nicht vor Gott ins Minus gerate. Als er seine spätere Frau Şemse im Bus zu seiner Arbeit in der Großstadt Izmir traf, kamen sie über den Glauben ins Gespräch – anfangs mit der Absicht,

den jeweils anderen zu bekehren. Im Laufe vieler Gespräche wurde Necati jedoch von der Hoheit Jesu überzeugt. In der Bergpredigt erkannte er, dass auch Gedankensünden schmutzig machen vor Gott. Im 5. Kapitel des Römerbriefes überwältigte ihn die Wahrheit, dass Christus für seine Feinde gestorben ist.

Nach der Eheschliessung und dem Quasi-Ausstoss aus der eigenen Familie arbeitete Necati missionarisch bei einer christlichen Organisation. Auch 30 Tage im Gefängnis, wohin er wegen seiner Bibelverteil-Aktivitäten geraten war, brachten ihn nicht von seiner Berufung ab. Die junge Familie zog um nach Malatya im Osten der Türkei, um dort, wo es noch keine christliche Gemeinde gab, das Evangelium zu verbreiten und zusammen mit anderen jungen Familien Gemeinde zu gründen. Nach einer Weile wurde Necati zum Pastor der Hauskirche berufen.

Kurz vor seiner Ermordung war Necati als Redner zu einer Konferenz in Deutschland eingeladen. Er forderte Missionare unter Türken auf, seine Landsleute tatsächlich zu lieben. Vor einem der späteren Mörder, die anfingen, den Kontakt zu Necati zu suchen, hatte seine Frau ihn gewarnt. Dieser gab sich als Wahrheitssucher aus. Necati merkte, dass er nicht wirklich aufrichtig suchte, wollte ihm aber eine Chance geben, so wie Jesus den Judas neben sich geduldet hatte.

 

Uğur Yüksel (1975–2007)

Uğur kam aus einer alevitischen Familie im Osten der Türkei und war ein Wahrheitssucher. Schon bevor er Christ wurde, bezeichnete er sich gerne als «Sohn der Wahrheit» (gerçeğin oğlu). So hiess auch seine E-Mail-Adresse. Als Student der Bautechnik kam er nach İzmit am östlichen Rand von İstanbul. In einem Containerhaus, das noch vom letzten Erdbeben da stand, fand er günstigen Wohnraum. Als er auf ein Neues Testament stiess, las er es in kurzer Zeit mehrmals durch. Seiner Freundin erzählte er, dass er beim ersten Durchlesen gemerkt habe: «Da wird der Gott beschrieben, den ich immer gesucht habe.»

Uğur kam zum Glauben und dann für ein paar Monate in unsere kleine Gemeinde in İzmit – ein stiller junger Mann, dem man aber das innere Feuer anmerkte, wenn er redete. Sein Vater konnte bald das Studium nicht mehr finanzieren, und Uğur kehrte nach Elazığ, einer Nachbarstadt von Malatya, zurück. Er rief mich von dort einmal an und fragte: «Ich habe gelesen, dass Christen 10 % ihres Einkommens für die Sache Gottes geben. Wie kann ich eure Gemeinde unterstützen?» Wegen Verleumdungen, dass Christen Geld austeilten, um Menschen zu Christen zu machen, erwarten manche Gemeindebesucher Hilfe. Uğur aber wollte geben. Er meinte es ernst. Durch mich und auch die Vermittlung von anderen ihm bekannten Christen kam Uğur dann mit Necati und Şemse in Verbindung, die gerade davorstanden, nach Malatya umzuziehen. Später wurde er Mitglied ihrer Gemeinde und begann, mit Necati für das christliche Verlagshaus Zirve zu arbeiten. Am 18. April 2007 musste Uğur zuerst mitansehen, wie seinen Brüdern und Freunden, Necati und Tilmann, die Halsschlagadern aufgeschnitten wurden. Als die Mörder auch ihn angriffen, rief er mehrmals laut «Mesih!» – «Christus!». Er lebte noch, als die Polizei kam, starb aber wenig später im Krankenhaus.

Uğur hat mal einem guten Freund gesagt: «Der Mensch muss entweder für eine gute Sache oder für seine grosse Liebe sterben.» Uğur starb für seine grosse Liebe, Jesus Christus, und für dessen wunderbare Sache des Evangeliums.

 

 

Theologische Einordnung

Einige theologische Fragestellungen können hier eher angerissen als ausgiebig behandelt werden – in der Hoffnung, dass sie eine Anregung für eigenes intensiveres Nachdenken über das Martyrium sein können.

 

1. Wer ist ein christlicher Märtyrer?

Die verschiedenen Versuche, christliches Martyrium möglichst klar zu definieren, können hier nicht behandelt werden.[4] Vielmehr geht es um die Frage: Ist es von theologischer Bedeutung, den Tod gewisser Christen als Martyrium einordnen zu können – oder eben nicht?

Für die Römisch-Katholische Kirche ist die Frage nach echtem Märtyrertum von größerer Wichtigkeit, weil dort die Anerkennung als Märtyrer auch mit der Selig- bzw. eventuellen Heiligsprechung verknüpft ist. Schon im 18. Jahrhundert definierte der Kirchenrechtler und spätere Papst Benedikt XIV (1740–1758) in seinem Werk «De Servorum Dei Beatificatione et Beatorum Canonizatione» Kriterien für echtes Martyrium, die in der Katholischen Kirche bis heute richtungsweisend sind.[5]

Wir können Gott dankbar sein, dass wir als evangelische Christen niemanden selig oder heilig sprechen müssen. Wir müssen auch nicht bindend erklären, wer nun genau ein Märtyrer sei. Das überlassen wir Jesus, dem Richter der Lebenden und der Toten. Trotzdem ist es gut, sich für die theologische Einordnung, aber auch um der Kommunikation in der Welt willen, um Definitionen und Kriterien zu bemühen. Gute Definitionen helfen nicht nur dem theologischen Dialog, sondern auch der Sprachfähigkeit des «einfachen Christen».

Jedenfalls sollten wir uns den Begriff «Märtyrer» als Bezeichnung für das Sterben um des Glaubens an Christus willen nicht rauben lassen; denn das Wort ist urchristlich. Wir alle sollen martys (griech. für «Zeuge», pl. martyres) Jesu Christi sein. Dieses Zeugesein ist ein unbedingter Auftrag. Wenn Jesus uns das Zeugnis für seine Wahrheit aufgetragen hat, dann müssen wir es ausrichten, «koste es, was es wolle».

Einige der Zeugen wird es das eigene Leben kosten. Sie werden zu «Blutzeugen». So wird schon in neutestamentlicher Zeit der Begriff martys auf Blutzeugen angewandt, so im Buch der Offenbarung, wo Jesus Christus selbst als der «treue Zeuge» (1,5) sowie «der treue und wahrhaftige Zeuge» (3,14) bezeichnet wird.

Auch Antipas, ein Christ in Pergamon, wird dann als «mein treuer Zeuge» (2,13) charakterisiert. Laut Kontext ist er einer, dessen Zeugesein bis zum gewaltsamen Tod reichte (vgl. auch Apg 22,20).

Manchmal wird Christen durch vermeintlich schlaue Analysen das Martyrium abgesprochen. Gerade den Zurückgebliebenen kann dadurch ein Trost und auch die Ehre genommen werden. Einige Zeit nach den Malatyamorden las ich über einen kirchlichen Diskussionsbeitrag, der darauf hinwies, dass es «nach neusten Erkenntnissen» in Malatya nicht wirklich um Christenverfolgung gegangen sei, sondern um eine innenpolitisch motivierte Tat. Mit ähnlicher Rhetorik könnte man anmerken, dass es beim versuchten Lynchmord gegen Paulus in Ephesus (Apg 19,23–40) nicht um religiöse, sondern um wirtschaftliche Motive gegangen sei, oder dass die Hinrichtung des Jesusjüngers Jakobus (Apg 12,1f.) keine Christenverfolgung dargestellt habe, sondern nur Ausfluss der populistischen Ambitionen des kalt kalkulierenden Politikers Herodes Agrippa gewesen sei.

Ohne Gottes letztes Urteil vorwegnehmen zu können, bin ich mir bei den drei Männern von Malatya sehr sicher, dass sie ihr Leben als authentisch christliche Märtyrer hingaben.

 

2. Gibt es ein von Gott gebotenes Gedenken an Märtyrer?

Das Märtyrergedenken hat vermutlich unter evangelischen Christen deshalb einen unangenehmen Beigeschmack, weil es in den frühen Kirchen ein erster Schritt war zur Verehrung oder sogar Anrufung von Heiligen und zum Missbrauch von Reliquien – also den materiellen Überresten der Märtyrer. Solche Missbräuche kann man bis heute in der Römisch-Katholischen und in verschiedenen orthodoxen Kirchen finden. Es gilt jedoch das Prinzip: abusus not tollit usum – «der Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf.»

In der türkischen Gemeinde Jesu habe ich in Bezug auf die drei Märtyrer von Malatya ein Bedürfnis nach dem Gedenken an diese Männer und ihre Geschichte erlebt. In der nicht-christlichen türkischen Kultur gilt die Teilnahme an Beerdigungen als Verpflichtung und Ehrerbietung gegenüber den Verstorbenen und ihren Angehörigen. Diese Verpflichtung gegenüber den geistlichen Brüdern, die für ihren Glauben gestorben sind, empfindet auch die Gemeinde Jesu.

Das Ereignis des Martyriums ist zu einem Teil der Identität der mittlerweile vor allem aus ehemaligen Muslimen bestehenden evangelikalen Gemeinde Gottes in der Türkei geworden. Es gibt für Christen in der Türkei ein «vor Malatya» und ein «nach Malatya». Bis heute führt man kleinere und größere Gedenkfeiern am Jahrestag der Morde vor den jeweiligen Gräbern der Brüder durch.

Gerade bei Gedenkfeiern ist es schließlich zu so etwas wie einer «Ökumene der Märtyrer» gekommen, von der meines Wissens zuerst Papst Johannes Paul II. gesprochen hat.[6] Einige Monate vor den Morden von Malatya war in der Schwarzmeerstadt Trabzon der römisch-katholische Priester Andrea Santorio in seiner Kirche erschossen worden. An seiner Gedenkfeier nahmen Vertreter der protestantischen Gemeinden teil, wie auch später Vertreter der Katholischen und verschiedener orthodoxer Kirchen an den Gedenkfeiern für Malatya.

Ruft Gottes Wort uns dazu auf, der Märtyrer zu gedenken? In Ps 116,15 lesen wir: «Der Tod seiner Heiligen ist wertgehalten vor dem Herrn.» Das gilt ganz bestimmt dann auch für die Märtyrer: Der allmächtige Gott selbst gedenkt ihrer. Dass die Grausamkeiten gegen Christen Gott nicht kalt oder teilnahmslos lassen, wird auch deutlich, als in der Offenbarung das Gericht über die «Hure Babylon», das gottfeindliche System der Welt, angekündigt wird. In 16,6 wird begründet: «… denn sie haben das Blut der Heiligen und Propheten vergossen.» In 19,2 wird zu Gottes Gericht über Babylon gedeutet: «… und hat das Blut seiner Knechte gerächt, das ihre Hand vergossen hat.» Gott gedenkt der Märtyrer – daher sollten wir das auch tun. In Hebr 12,1–3 wird an die in Hebr 11 geschilderte «Wolke von Zeugen» erinnert, zu der auch Menschen gehören, die im Gehorsam gegenüber Gott ihr Leben gelassen haben. Das Gedenken an die Zeugen soll uns zum Aufsehen auf unseren Herrn veranlassen. Wir denken der Zeugen zu unserem Nutzen – allerdings nicht in erster Linie durch Zeremonien, sondern durch Ablegen der Sünde und geduldiges Weiterkämpfen. Ehrbezeigungen gegenüber Märtyrern werden angedeutet, wenn in Bezug auf den ersten christlichen Märtyrer in Apg 8,2 berichtet wird: «Es bestatteten aber den Stephanus gottesfürchtige Männer und hielten eine große Klage über ihn.»[7] Dass Antipas, der Märtyrer aus Pergamon, von Jesus einer namentlichen Erwähnung wert geachtet wird (Offenbarung 2,13), wurde schon erwähnt. Christof Sauer fasst seine Schlussfolgerung zum Gedenken an Märtyrer so zusammen:

«Die Kirche darf ihre Bekenner und Märtyrer nicht vergessen. Wenn sie dies täte, würde sie sich von der ‹Wolke der Zeugen›, die uns vorausgegangen sind, abkoppeln und ginge ihres auf Christus weisenden Vorbildes sowie der darin enthaltenen glaubens- und zeugnisstärkenden Kraft verlustig. [Es] darf auch die Kritik an übermäßiger Verehrung von Märtyrern … oder die Abgrenzung von der Anrufung von Heiligen und Märtyrern weder zu einem Vergessen der Bekenner und Märtyrer noch zu ihrer Nivellierung führen. Sie bleiben herausragende Leitbilder des Glaubens.»[8] Allerdings ist der Missbrauch tatsächlich zu vermeiden. Dass in der neutestamentlichen Kirche nicht einmal in Ansätzen die spätere Heiligen- oder auch Reliquienverehrung vorgezeichnet war, erkennen wir u. a. daran, dass bei aller Hochachtung vor den Blutzeugen doch auch nicht zu viel Aufhebens von ihnen gemacht wird. Der Tod des Apostels Jakobus in Apg 12 wird in gerade einmal zwei Versen berichtet, um dann schnell wieder auf die Ausbreitung des Wortes Gottes zu verweisen (12,24). Auch beim Tod des Stephanus hält sich Lukas nicht sehr lange auf. Auch nach dieser Mordtat resümiert der Schreiber vor allem:

«Die nun zerstreut worden waren [wegen der ausbrechenden Verfolgung], zogen umher und predigten das Wort» (Apg 8,4).

Dass Christen für Christus leiden und sterben, ist eine beobachtbare Tatsache. Die Frage aber bleibt:

 

3. Will Gott Märtyrer?

Nach Malatya haben auch Christen gefragt: Hätte Gott diese Männer nicht schützen können? Wäre ihr Leben nicht fruchtbarer gewesen als ihr Tod?

Eine Szene im Buch der Offenbarung (6,9–11) ist Teil des Blickes in Gottes unsichtbare Wirklichkeit. Dort stehen Menschen, die bereits zu Märtyrern geworden sind «am Altar», also in der Gegenwart Gottes. Sie sind nicht gleichgültig gegenüber dem, was nach ihrem Abscheiden auf der Erde abläuft. Sie dürsten nach göttlicher Gerechtigkeit im Universum. Gott lässt ihnen als Zeichen ihrer Gerechtigkeit weiße Kleidung anlegen; aber die Antwort auf ihre Frage nach dem «Wann?» göttlichen Gerichts wird so beantwortet: «… dass sie ruhen müssten noch eine kleine Zeit, bis vollzählig dazukämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch noch getötet werden sollten wie sie» (6,11).

Nach Gottes Plan muss es also bis zur Wiederkunft Jesu eine bestimmte Anzahl von Märtyrern geben. Die Illusion, es werde vorher eine Welt ohne Verfolgung geben, hat keine Grundlage in Gottes Verheißungen.

Gott hat auch einzelne Christen individuell zum Märtyrertod bestimmt, wie etwa den Apostel Petrus, der die verschlüsselte Ankündigung Jesu, ein anderer werde ihn «führen, wo du nicht hinwillst» wohl verstanden hat (Joh 21,18f.).

Warum muss es nach Gottes Willen Märtyrer geben? Die Verbindung von Zeugnis (martyria) und Martyrium deutet darauf hin, dass das Sterben einiger Zeugen um ihres Zeugnisses willen notwendig ist für die letzte und tiefste Glaubwürdigkeit der bezeugten Botschaft.

Wenn kein Bote des ewigen Lebens im Ernstfall dieses Leben höher werten würde als sein irdisches Leben – wie sollte die Welt dann glauben können? Kommen wir zuletzt noch zur Frage nach der Ehre des Martyriums.

 

4. Ist das Märtyrertum eine Ehre?

Meine Schwägerin Şemse hat im Rückblick auf Malatya wiederholt betont: «Jesus hat meinen Mann geehrt durch den Tod als Märtyrer!» Das wirkte auf manche Christen im Westen befremdlich. Es geht jedoch nicht nur in sogenannten «Schamkulturen», sondern auch in der biblischen Botschaft ganz gewiss um Ehre. Die entscheidende Frage ist allerdings dort, ob wir die Ehre von Menschen oder von Gott erwarten und anstreben.

Als nicht lange nach dem Pfingstereignis sämtliche Apostel verhaftet, dem Hohen Rat vorgeführt und dann geschlagen und bedroht wurden, wird berichtet:

«Sie gingen aber fröhlich von dem Hohen Rat fort, weil sie würdig gewesen waren, um seines Namens willen Schmach zu leiden» (Apg 5,41). Die Schmach vor den Menschen wird zur Ehre, weil damit Gott verherrlicht wird.

Letztlich geht es in der Geschichte Gottes mit den Menschen um Anbetung, um die Entscheidung, Gott die ihm gebührende Ehre darzubringen. In Röm 12,1 werden Christen aufgefordert, ihre Leiber als Opfer hinzugeben. Gerade das sei der «vernünftige Gottesdienst». Kann es auf dieser Grundlage eine ehrenvollere Art des Gottesdienstes geben als die, den eigenen Leib buchstäblich als Opfer für den allmächtigen Gott in den Tod zu geben?

Die Ehre, die von Gott kommt, sollten wir gerade im Blick auf Verfolgung und Martyrium neu in den Blick nehmen.

Zwei Türken und ein Deutscher haben in Malatya die Ehre empfangen, für Jesus gemeinsam in den Tod zu gehen. Türken sind sehr empfindsam für Angedeutetes und Symbolisches. Für die Deutschen – und ich schließe hier mal alle Deutschsprachigen mit ein – erwächst uns eine Verantwortung für das türkische Volk, für die Weitergabe des Evangeliums an Menschen aus der Türkei unter uns und für die Unterstützung der Gemeinde Jesu in der Türkei.

 


[1] In Wirklichkeit hatte ich keinerlei Leitungsfunktion unter Missionaren.

[2] Carswell, Jonathan & Wright, Johanna. Susanne Geske, Ich will keine Rache. Das Drama von Malatya, Gießen: Brunnen, 2008.

[3] Weit ausführlicher über das Leben von Necati Aydın schreibe ich in: Häde, Wolfgang, Mein Schwager – ein Märtyrer. Die Geschichte des türkischen Christen Necati Aydın, Schwarzenfeld: Neufeld, 2. Aufl. 2010.

[4] Empfehlenswert dazu sind unter anderen: Tieszen, Charles L., Towards Redefining Persecution. International Journal for Religious Freedom 1/1 (2008), S. 67–80 – und davon ausgehend, aber ausführlicher: Sauer, Christof, Martyrium und Mission im Kontext: Analyse ausgewählter theologischer Positionen aus der weltweiten Christenheit, Neuendettelsau/Erlangen 2021, S. 22–33.

[5] Vgl. die ausdrückliche Anwendung dieser Kriterien im von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Werk: Moll, Helmut (Hg.), Zeugen für Christus: Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Paderborn: Schöningh, 7. Aufl. 2019, S. XXXI–XXXII.

[6] Enzyklika «Tertio Millennio Adveniente» (Nr. 37): «Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die Gemeinschaft der Heiligen spricht mit lauterer Stimme als die Urheber der Spaltung.»

[7] Daniel Röthlisberger widmet in seiner ausgezeichneten Studie dem Thema «Bergung und Bestattung von Märtyrern» ein ganzes Kapitel: Röthlisberger, Daniel. Hilfe und Selbsthilfe für verfolgte Christen: Eine Studie zum neutestamentlichen Ethos. Leipzig: EVA, 2021, S. 442–475).

[8] Sauer, Martyrium und Mission, S. 381.



Dr. Wolfgang Häde (*1958) hat seinen Abschluss (lic. theol.) an der STH Basel (damals FETA) 1983 erhalten.

Der Text wurde zuerst in der STH Perspektive vom Dezember 2023 veröffentlicht und vom Autor freundlicherweise für uns freigegeben.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 20. Dezember 2023 um 8:00 und abgelegt unter Allgemein, Kirche.