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Wie tot ist Hirntod? Eine medizinisch-theologische Bewertung der Hirntodkonzeption

Mittwoch 13. Dezember 2023 von Dr. med. Matthias Klaus


Dr. med. Matthias Klaus

Von der ersten Stunde an wurde von medizinischer, theologischer und philosophischer Seite aus massive Kritik an der Hirntodkonzeption geübt. Allen voran war es der Philosoph Hans Jonas, der die Ungereimtheiten des Hirntods benannte. Vor wenigen Jahren geriet das Thema Hirntod und Organspende erneut in die öffentliche Diskussion, weil der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn eine doppelte Widerspruchslösung einführen wollte – was ihm jedoch nicht gelang. Die Frage nach der Grenze von Leben und Tod ist seit den Möglichkeiten moderner Intensivmedizin komplexer und herausfordernder geworden.

Bis in die 1960er Jahre hinein galt jemand mit den sogenannten sicheren Todeszeichen als tot: dem Auftreten von Totenflecken, -starre und Leichenfäulnis. Durch das Aufkommen der modernen Intensivmedizin eröffneten sich auch Möglichkeiten zur Organspende. Hierfür sind jedoch Organe aus Leichen ungeeignet. Die Organe müssen frisch sein und dürfen nur für wenige Minuten vom Blut-Kreislauf abgetrennt sein. Es braucht also Menschen, die so tot wie nötig, aber so lebendig wie möglich sind! Die Idee des Hirntods wurde durch die Ad-Hoc-Kommission der Harvard Universität 1968 geboren.

Was bedeutet Hirntod?

Durch eine schwere Schädigung des Gehirns, häufig infolge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas mit Hirnblutung, kann es zu einem unumkehrbaren (irreversiblen) Ausfall aller Hirnfunktionen kommen. Durch die intensivmedizinischen Maßnahmen wird der ausgefallene Atemantrieb mittels Beatmungsmaschine ersetzt. Das Herz schlägt eigenständig weiter und Nahrung wird per Sonde zugeführt. Blutdruckschwankungen und Elektrolytstörungen werden durch Infusionen ausgeglichen. In diesem Zustand ist der Patient meist für wenige Tage bis wenige Wochen überlebensfähig, bevor er an der Beatmungsmaschine verstirbt.[1]Liegt ein unumkehrbarer Hirnfunktionsausfall vor, dann ist davon auszugehen, dass dieser Patient keinerlei Wahrnehmung der Außenwelt mehr hat. Ohne Hirnfunktion kann er weder sehen noch hören, weder verbal noch nonverbal kommunizieren, weder reflektieren noch irgendeine Form von Gedanken fassen.

Was geschieht mit einem Hirntoten?

Aus der Tatsache, dass ein Hirntoter nie wieder mit der Außenwelt interagieren und keine Sinneseindrücke verarbeiten kann, leiten viele Vertreter des Hirntodkonzepts nun eine weitreichende Schlussfolgerung ab: Sie behaupten, dass eine Person mit unwiderruflich ausgefallener Hirnfunktion bereits gestorben ist – obwohl das Herz noch schlägt und einige weitere Funktionen des Körpers noch mittels intensivmedizinischer Maßnahmen funktionieren. Eine entsprechende Todesbescheinigung wird nach erfolgter Hirntoddiagnostik von zwei Fachärzten ausgestellt,[2] während der Patient mit schlagendem Herzen auf der Intensivstation liegt. Hat der Patient zuvor bekundet, dass er seine Organe spenden wolle, erfolgt die Organentnahme, indem im Operationssaal ein Schnitt von der Kehle bis zum Schambeinknochen durchgeführt wird. Die Organe werden mit Eiswasser gespült, entnommen und gekühlt zu den einzelnen Empfängern gebracht. Infolge der Organspende hört das Herz auf zu schlagen, der Patient stirbt endgültig und der Leichnam wird zur Beerdigung freigegeben.[3] Wenn sich der Patient (oder die Angehörigen entsprechend des mutmaßlichen Patientenwillens) gegen eine Organspende ausgesprochen hat, wird die Beatmungsmaschine auf der Intensivstation abgestellt. Infolgedessen kommt es zu einem Herzkreislaufstillstand.

Ist ein Hirntoter tot? Argumente der Hirntodvertreter

In Deutschland werden zwei Argumente benannt, warum ein Hirntoter bereits tot ist. Zum einen die bereits angeführte Tatsache, dass ein Hirntoter weder Reize der Umwelt wahrnehmen noch mit der Außenwelt interagieren kann. Ein Patient mit unumkehrbarem Ausfall aller Hirnleistungen verfügt also über keinerlei Bewusstsein. Zum anderen wird eingebracht, dass die unterschiedlichen biologischen Funktionen (wie etwa der Herzschlag, das Immunsystem, die Verdauung) zu einer Einheit zusammengeführt beziehungsweise integriert werden müssen. Diese Integrationsleistung zur Einheit übernimmt das Gehirn. Fällt das Gehirn aus, so können die unterschiedlichen biologischen Funktionsweisen nicht mehr zentral gesteuert werden. Mit anderen Worten: Um lebendig zu sein, benötigt es einen Dirigenten, der die einzelnen biologischen Subsysteme orchestriert. Wenn der Dirigent nicht mehr dirigiert, das Gehirn also nicht mehr funktioniert, ist das Leben nicht mehr vorhanden. Diese Argumentation setzt die Annahme voraus, dass das Gehirn über die maßgebliche Integrationsleistung des menschlichen biologischen Lebens verfügt. Erst durch diese Integrationsleistung wird der Organismus zu einer Einheit. Wenn diese Integrationsleistung entfällt, gibt es keine zentrale Steuerung der unterschiedlichen biologischen Prozesse mehr, auch wenn diese zum Teil fortbestehen. In dem Moment, wo es keine zentrale Steuerung und Integrationsleistung mehr gibt, ist – so die Hirntodvertreter – der Tod bereits eingetreten.

Kritik am Hirntodkonzept: Warum ein Hirntoter im Sterben liegt, aber noch nicht tot ist

Wenn Bewusstsein, Wahrnehmung und Interaktion mit der Umwelt maßgeblich dafür sind, was den lebendigen Menschen auszeichnet, wieso sprechen wir dann bei Personen, die im anhaltenden Wachkoma liegen, nicht von toten Menschen? In der tragischen Situation von anencephalen Neugeborenen, die ohne Großhirn zur Welt kommen, ist davon auszugehen, dass diese Babys ebenfalls weder in der Lage sind, Reize der Umwelt wahrzunehmen, geschweige denn auf die Umwelt zu reagieren. Und doch ist es indiskutabel, dass Neugeborene mit einer Anencephalie lebendig sind, auch wenn die Lebenserwartung meist nur wenige Tage bis wenige Wochen beträgt. Aufgrund dieser Schwäche der Hirntodkonzeption hat die aktuelle Diskussion sich vor allem darauf konzentriert, den Tod als Ausfall der zentralen Integrationsleistung des Gehirns zu beschreiben. Dieses Verständnis vom Tod klingt sehr viel abstrakter, hält jedoch einer genaueren Analyse nicht stand. Wieso muss ein Mensch über eine zentrale Integrationsleistung verfügen, um lebendig zu sein? Ohne die zentrale Steuerung des Gehirns ist ein Mensch nicht lange überlebensfähig. Aber aus welchem Grund soll der Ausfall der zentralen Steuerung die Grenze zwischen Leben und Tod sein? Durch die Forschungsarbeit des Neurologen Alan Shewmon ist deutlich geworden, dass eine Vielzahl an biologischen Subsystemen im menschlichen Körper nach Eintritt des Hirntods – zumindest eine Zeit lang – weiterhin ihre Funktion aufrechterhalten (hier nur in Auszügen):

  • Resorption von Ernährung, Ausscheidung im Magen- Darmtrakt
  • Beseitigung, Entgiftung und Recycling von Zellabfällen im ganzen Körper
  • Aufrechterhaltung der Energiebilanz mit Wechselwirkungen zwischen Leber, endokrinen Systemen, Muskeln und Fett
  • Unterstützung und Aufrechterhaltung der Körpertemperatur und des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts
  • Bekämpfung von Infektionen und Fremdkörpern durch Interaktionen zwischen Immunsystem, Lymphbahnen, Knochenmark und Mikrokreislauf
  • Entwicklung einer fieberhaften Reaktion auf eine Infektion
  • kardiovaskuläre und hormonelle Stressreaktionen auf Schmerzreize
  • erfolgreiches Heranwachsen eines Fötus mit anschließender Entbindung durch Kaiserschnitt
  • Wiederbelebbarkeit und Stabilisierbarkeit nach einem Herzstillstand
  • Fähigkeit, sich von Episoden von Hypotonie, Aspiration und Sepsis zu erholen

Die Forderung, dass diese fortbestehenden biologischen Subsysteme eine Zentrale brauchen, durch die sie ge­steuert werden, ist willkürlich gesetzt. Besonders konkret und anschaulich wird diese Diskussion am Beispiel einer Schwangeren, die einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall erleidet. Bei fortgeführter intensivmedizinischer Behandlung wird immer wieder von erfolgreichen Schwangerschaften mit Entbindung berichtet. Wie kann eine bereits Gestorbene ein Kind entbinden?

Im Grunde erschafft die Hirntodkonzeption eine völlig neue Definition von dem, was lebendig und was tot bedeutet, nämlich eine organspezifische Definition. Da, wo Gehirnaktivität ist, ist Leben; wo die Funktion des Gehirns erloschen ist, hat das Leben aufgehört. Dieses Verständnis hat außerdem weitere schwerwiegende Implikationen. Auf den Beginn des Lebens angewendet, müssten beispielsweise Embryonen in den ersten Wochen als tot bezeichnet werden, da sie weder über eine zentrale Steuerung durch das (noch nicht angelegte) Gehirn noch über Bewusstsein verfügen.

Zusammengefasst ist bei Patienten mit irreversiblem Hirnfunktionsausfall der Sterbeprozess eingetreten, jedoch sind diese Patienten noch nicht tot. Eine Entnahme der Organe kommt aber vor diesem Hintergrund nicht infrage, da dies einer Tötung des im Sterben befindlichen Menschen gleichkäme.

Was sagt die Bibel zum Ende des physischen Lebens?

Seit dem Sündenfall ist der Tod in die zuvor geniale Schöpfung eingetreten. Der physische Tod ist das Ende des menschlichen Lebens auf dieser Erde (vergleiche Hebräer 9,27). Der physische Tod ist nicht Teil von Gottes vollkommener Schöpfung und wird deshalb auch als Feind (vergleiche 1. Korinther 15,26) bezeichnet. Der Tod ist die Folge der Abkehr des Menschen von Gott: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist; denn du bist Staub und kehrst wieder zum Staub zurück!“ (1. Mose 3,19) Der materielle Teil des Menschen kehrt also wieder zur Erde zurück, ist mit anderen Worten endlich und begrenzt. Als Stephanus gesteinigt wird, ruft er aus: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ (Apostelgeschichte 7,59, vergleiche auch Lukas 23,46) Das heißt, dass Stephanus davon überzeugt ist, dass in dem Moment des physischen Todes sein Geist direkt zu Gott kommt. Mit anderen Worten: Im Moment des physischen Todes ist die leibliche Existenz beendet, unsere Seele dagegen existiert fort. Entsprechend formuliert Jesus: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“ (Matthäus 10,28)

Während die Bibel sehr klar Leben und Tod definiert und festlegt (Todesdefinition), beschreibt sie lediglich Todeskriterien (wie beispielsweise Leblosigkeit, vergossenes Blut, erloschene Atmung), schreibt diese jedoch nicht als medizinische Richtlinie und Handlungsanweisung zur Feststellung des Todes vor.

Eine biblische Einordnung des Hirntodkonzepts

Ist nach biblischem Verständnis ein Mensch tot, wenn seine Gehirnfunktion unwiderruflich erloschen ist? Der Mensch wird als Einheit von Leib und Seele aufgefasst – doch welche Kriterien geben an, dass diese Einheit aufgebrochen ist?

Spricht gegebenenfalls die mit dem Organ Gehirn verbundene Fähigkeit für bewusstes Erleben für das Hirntodkonzept? Die Einheit von Seele und Leib beginnt nach biblischem Verständnis nicht dort, wo ein Embryo die Fähigkeit für bewusste Erlebnisinhalte entwickelt, sondern wird völlig unabhängig von etwaigem Bewusstsein dort definiert, wo ein Mensch bei der Zeugung gebildet wird (vergleiche Hiob 3,3; Psalm 139). Der Mensch muss also nicht erst höhere Hirnleistungen wie Kommunikation oder Selbst-Bewusstsein aufweisen und äußern, um als lebendiger Mensch zu gelten. Im Gegenteil: Jeder Mensch – egal wie fähig oder unfähig zur Interaktion mit der Umwelt – ist umfassend eine Person und als Ebenbild Gottes mit voller Würde ausgestattet.

Das Gehirn als Organ findet in der Bibel keine Erwähnung, vielmehr wird das Herz als Zentrum des Menschen dargestellt. Aber auch andere Organe (wie etwa die Niere) werden als Bild für verschiedene Regungen des Menschen erwähnt. Das gesamte Bild, welches die Bibel vom Menschen zeichnet, spricht dagegen, ein einzelnes Organ als die „Wohnung der Seele“ anzunehmen. Neurophysiologisch ist das Gehirn nach aktuellem Forschungsstand die nahezu umfassende Schnittstelle zwischen Seele und Leib. Daraus jedoch zu schlussfolgern, dass mit dem Erlöschen der Gehirnfunktion auch zugleich die Seele den Körper verlassen hat, der Mensch also gestorben ist, setzt einen organgebundenen Sitz der Seele voraus, der durch die Gesamtheit der biblischen Befunde nicht gedeckt ist. Die Bibel entfaltet ein holistisches Menschenbild, welches sich nur schwer mit einem organspezifischen Lebens- und Todesverständnis wie dem des Hirntods in Übereinstimmung bringen lässt. Sie zeigt vielmehr, dass der Mensch nicht eine Seele hat, sondern Seele ist.

Fazit: Wann ist der Mensch tot?

Unsere Analyse führt uns schließlich dazu, das Hirntodkonzept abzulehnen. Weder ist das aktuelle Hirntodkonzept auf den Beginn des Lebens anwendbar, da sonst Embryonen für tot erklärt werden müssten, noch auf Koma-Patienten mit ausgefallenem Bewusstsein, da sie folglich lebendig begraben werden müssten. Zu guter Letzt ist es auch biologisch nicht haltbar, da dieses Konzept den bei Hirntoten (noch) intakten hochkomplexen, interagierenden Subsystemen nicht Rechnung trägt (insbesondere bei hirntoten Schwangeren).

Ein Patient mit irreversiblem Hirnfunktionsausfall befindet sich im Sterbeprozess, ist aber noch nicht tot. Die Analyse des menschlichen Lebens spricht daher für eine Konzeption von biologischen Subsystemen, die gegebenenfalls mit Unterstützung (beispielsweise des mütterlichen Organismus zu Beginn des Lebens beim Fötus oder apparativer Medizin zum Ende des Lebens) miteinander interagieren. Wird diese Interaktion der unterschiedlichen biologischen Subsysteme irreversibel zerstört, tritt der Tod ein. Entsprechend lässt sich aus dieser Todesdefinition der irreversible Herz-Kreislaufstillstand als valides und sinnvolles Todeskriterium ableiten. Im Gegensatz dazu befindet sich der Patient mit irreversiblem Hirnfunktionsausfall im Sterbeprozess, ist aber noch nicht tot.

Dr. med. Matthias Klaus

Quelle: CDK-Magazin, Nr. 88 / 2023, Im falschen Körper geboren?

Weitere Informationen zur Arbeit des CDK e.V. erhalten Sie hier: www.cdkev.de

Eine ausführliche Analyse des Hirntodkonzepts aus medizinischer, philosophischer und theologischer Sicht mit Fußnoten und Literaturverzeichnis finden Sie unter https://www.cdkev.de/ethik-am-lebensende/. Daher wird in diesem Artikel zur besseren Verständlichkeit und Lesbarkeit weitgestgehend auf Fuß- und Endnoten verzichtet.

[1] Ausgenommen Kleinkinder, die bis zu mehreren Jahren an der Beatmungsmaschi­ne überleben können.

[2] Zum genauen Prozedere der Hirntoddiag­nostik s. https://www.cdkev.de/ethik-am-le­bensende/zwang-oder-freie-entscheidung-zur-organspende/

[3] Im Gegensatz zu Hirntoten, die nicht begraben werden, sondern entweder der Organspende zugeführt oder von der Beatmung aufgrund einer Therapiezielände­rung abgenommen werden.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 13. Dezember 2023 um 8:49 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Lebensrecht, Medizinische Ethik.