Wie christlich kann die Politik sein? – Wie politisch darf die Kirche sein?
Mittwoch 4. Mai 2022 von Prof. Dr. Rainer Mayer
1. Das biblische Evangelium als Quelle der Freiheit und die Demokratie
Die Antwort auf die Titelfrage sei vorweggenommen: „Christliche Politik“ im engeren Sinne gibt es nicht, sehr wohl gibt es jedoch christliche Verantwortung in Gesellschaft und Staat sowie für Gesellschaft und Staat. Man kann es nicht oft genug sagen: Das Christentum ist, wenn man es recht im biblischen Sinne versteht, eine Freiheits- und Entscheidungsreligion.
Ein Vergleich mit anderen Religionen, insbesondere mit dem Islam, kann diese Tatsache deutlich machen: Nach islamischer Lehre ist jeder Mensch eigentlich ein Muslim, denn Adam, der Urvater aller Menschen, von dem der Koran zu berichten weiß, war Muslim und sogar der erste „Prophet“. Alle Menschen, die nicht Muslime sind, gelten insofern als defizitär. Ihnen fehlt der rechte Glaube zum vollen Menschsein. Deshalb kann man nach islamischem Recht nur zum Islam hin konvertieren. Wer hingegen vom Islam weg zu einer anderen Religion übertritt, verliert ein wesentliches Merkmal seines Menschseins und damit mindestens teilweise seine Persönlichkeitsrechte. Deshalb kann nach der Scharia für einen solchen „Abfall“ Strafe bis hin zur Todesstrafe verhängt werden. Aus dieser Sicht folgt: Ein neu geborenes Kind, dessen Vater Muslim ist (die Mutter spielt in diesem Rechtssystem nicht die entscheidende Rolle), ist von Anfang an ebenfalls ein Muslim. Es muss sich nicht für oder gegen den Glauben entscheiden. Im Mit- und Nachvollzug der gemeinschaftlich festgelegten und vorgeschriebenen Riten drückt sich im mündigen Alter der Glaubensvollzug aus. Selbst nicht praktizierende, säkularisierte oder gar atheistische Muslime bleiben ihr Leben lang Muslime und verstehen sich in der Regel auch als solche. Man kann nämlich aus dem Islam nicht austreten, wie man etwa aus der Kirche austreten kann. So etwas ist im Islam-System nicht vorgesehen.
Anders in der Bibel: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn…“ (1Mose 1,27). (Schon diese Aussage ist für einen Muslim eine Gotteslästerung, weil Gott so hoch erhaben ist, dass er dem Menschlichen nicht so nahe gerückt werden darf!) Mit der Gottebenbildlichkeit hat Gott den Menschen in die Freiheit gesetzt. Das Gebot der Freiheit lautet: „Von allen Bäumen im Garten darfst du essen; nur von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von dem darfst du nicht essen…“ (1Mose 2,16 f.). Somit hat der Mensch die freie Entscheidung, ob er dem Gebot folgen will oder nicht. Es ist ein Gebot der Freiheit, weil in der paradiesischen Vollkommenheit alles erlaubt ist; nur eine einzige Schranke bleibt, der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. – Doch es folgte der Sündenfall, weil der Mensch der satanischen Versuchung „ihr werdet sein wie Gott…“ (1Mose 3,5a) nicht widerstand. Damit nahm der Mensch die Bestimmung dessen, „was gut und böse ist“, gott-los in die eigene Hand, in die autonome Selbstverfügung (1Mose 3,5b).
Unter diesem Verhängnis stehen alle „Adamskinder“ von Geburt an. Daher wird kein Mensch als Christ geboren. Vielmehr gibt es nur die Entscheidung hin zum Glauben im Verlauf eines Menschenlebens oder die Absage an den Glauben. Sogar die Säuglingstaufe gibt dem Ausdruck. Denn so sehr man die sakrale Bedeutung der Taufe auch werten mag: Beim Vollzug der Säuglingstaufe versprechen Eltern und Paten, das Kind in der Weise zu unterrichten und zu erziehen, dass es sich, wenn es mündig ist, zum bewussten Glauben entscheiden kann oder eben dagegen.
Was hat das alles mit Demokratie zu tun? Nun, sehr viel! Der Begriff „Demokratie“ stammt zwar aus der antiken Polis (dem griechischen Stadtrecht, etwa in Athen), doch abstimmen durften dort nur die freien Bürger, Männer mit Bürgerrecht, nicht etwa Fremde, Frauen und Sklaven. – Das moderne Demokratieverständnis beruht hingegen auf den Menschrechten, wie sie aus der aufgeklärten abendländischen jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangen sind. Das spiegelt sich z.B. in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Dort heißt es: „Diese Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen, unveränderlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer eine Regierung sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen…“ – Demnach ist eine staatliche Ordnung mit Regierungen nötig (also keine Anarchie; vgl. Römer 13), diese aber sind in einer Demokratie nur auf Zeit eingesetzt und von der Zustimmung des Volkes abhängig (Wahlen). Die Regierungen haben ihrerseits (so auch z.B. laut dem deutschen Grundgesetz) die Menschenwürde, die Freiheit der Persönlichkeit, das Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die freie Meinungsäußerung sowie die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu schützen. Freiheit bedeutet hier nicht bloße Willkür, nach der jeder machen kann, was ihm beliebt (nicht „Freiheit von…“), sondern Mitverantwortung für die Gemeinschaft (also „Freiheit zu…“).
Was aber geschieht bei einer Bevölkerung, die solche Voraussetzungen nicht bejaht? Gewiss ist Demokratie im beschriebenen freiheitlichen Sinne dann schlecht möglich! Es entstehen Minderheitenprobleme (vgl. die Situation von Christen in islamischen Ländern). Eine gelingende Demokratie setzt eine gebildete, informierte Bevölkerung voraus, die den genannten Grundlagen mehrheitlich zustimmt. Man kann deshalb das Modell westlicher Demokratie, die sich aus den genannten Quellen speist, anderen Kulturen, die diese Voraussetzungen nicht teilen, nicht aufzwingen. Ein solcher Versuch wird scheitern, wie es derzeit z.B. im Irak, Pakistan und Afghanistan zu sehen ist. Es gilt das viel zitierte Wort des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Das heißt andererseits, dass eine Demokratie, wie die unsere, verfallen wird, wenn die genannten Quellen versiegen. Die Zeiterscheinungen weisen in diese Richtung.
2. Staat und Kirche in biblischer Sicht
Für das in den Gottesbund berufene auserwählte Volk, das alttestamentliche Israel, gab es keine grundsätzliche Trennung zwischen Glaubensleben und politischen Strukturen. Die Weisungen Gottes, die in der Tora Ausdruck fanden, galten für das ganze Leben. Da konnte kein „geistlicher“ von einem „weltlichen“ Bereich getrennt werden. Das ganze Volk sollte heilig sein, das heißt: „für Gott ausgesondert“. – Doch von Anfang an gab es zwei verschiedene Ämter, zunächst personifiziert in Mose und seinem Bruder Aaron. Beide standen in engster Beziehung zu Gott. Mose übte neben seinem Prophetentum das Amt aus, das Gottesvolk politisch zu führen, während der Priester Aaron ausschließlich für den Kult zuständig war.
Nach der Sesshaftwerdung Israels in Kanaan, der Richterzeit und dem Übergangskönig Saul, begann mit David die staatliche Epoche Israels. Von nun an unterschieden sich mit Königtum und Priestertum „weltliches“ und „geistliches“ Amt noch deutlicher. Nach wie vor hatten beide Ämter dasselbe Ziel, nämlich nach dem Willen Gottes zu leben, den Bund zu bewahren und das Volk entsprechend zu leiten.
Im Neuen Testament schließt der Gottesbund alle Menschen ein, die an Jesus Christus glauben. Nun kommen Angehörige aus Heidenvölkern hinzu. Gott, der Vater, und Jesus Christus herrschen über die ganze Welt, auch über die Heidenvölker. Doch Glieder des Gottesbundes sind nicht alle Menschen – wie es im Alten Testament ganz Israel war – sondern nur die, die an Jesus Christus glauben. Weltreich und Gottesreich sind nun noch deutlicher unterschieden, nämlich als Staat und Kirche.
Von hierher erschließt sich, was neutestamentlich über den Staat gesagt wird: Der Staat ist eine Ordnungsmacht unter den Völkern, aber seine Aufgabe bleibt klar begrenzt. Er darf sich nicht in den Bereich einmischen, der allein Gott zusteht, nämlich in den Bereich des Glaubens. Der staatliche Auftrag ist auf die äußere Ordnung begrenzt, Frieden zu wahren, Recht zu schaffen, Zerstörung abzuwehren, und die Möglichkeit offen zu halten, dass das Evangelium verkündigt werden kann. Die Verkündigung des Evangeliums wiederum ist Aufgabe der Kirche. Sie hat keinen staatlichen Auftrag. In diesem Sinne ist Jesu Wort vor Pilatus zu verstehen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36).
Die Aufgabe des Staates ist, Leben zu schützen, Frieden zu wahren und eine Ordnung zu schaffen, durch die das moralisch Gute gefördert, das Böse hingegen eingedämmt und notfalls bestraft wird (vgl. Römer 13,4). In diesem Sinne ist die Obrigkeit „Gottes Dienerin“ (ebd.). Es geht um die Welterhaltung bis zur Wiederkunft Jesu Christi. Das ist ein wichtiges, aber äußerliches Werk, für welches die „zweite Tafel“ der Zehn Gebote maßgeblich ist: Nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, kein falsch Zeugnis geben, der Habgier absagen. Luther sagte, dass der Dekalog [=die Zehn Gebote] „auf’s Rathaus“ gehört. Denn auch Nichtchristen können die zweite Tafel der Zehn Gebote im Sinne äußerer Gerechtigkeit halten.
Die Aufgabe der Kirche hingegen ist, dass sie Gottes Wort verkündigt und (entsprechend dem Amt des Predigers, wie Luther in seiner Auslegung des 82. Psalms schrieb) dass sie „Gottes Reich mehrt, den Himmel füllt mit Heiligen, die Hölle plündert, den Teufel beraubt, dem Tode wehrt, der Sünde trotzt…“. Während der Staat nicht um seinen göttlichen Auftrag weiß, und quasi „blind“ handelt, wissen die Christen um Gottes Willen für Kirche und Staat. Die neun folgenden Gebote des Dekalogs hängen nämlich wie eine Tür in der Angel alle am ersten Gebot: „Ich bin der HERR, dein Gott, [der dich aus der Sklaverei unter Sünde, Tod und Teufel erlöst hat], du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die „erste Tafel“ der Zehn Gebote (keine anderen Götter haben, den Namen Gottes nicht missbrauchen, den siebten Tag zu heiligen) richtet sich in erster Linie an die glaubende Gemeinde.
In einem tieferen Sinn allerdings kann die „zweite Tafel“ nicht ohne die erste gehalten werden. Der lebendige Glaube ist nämlich Voraussetzung dafür, dass die Gebote als Gebote der Freiheit verstanden und gelebt werden können. Anderenfalls werden sie von den Menschen auf die Dauer als fremdes, unerträgliches Gesetz empfunden und umzudeuten oder zu umgehen versucht.
Der lebendige Glaube ist also die Quelle auch für eine gelingende Alltagsmoral. Im Bild gesprochen: Der Glaube („erste Tafel“ der Gebote) ist die feuerflüssige Lava, durch welche das erstarrte und verwitternde Gestein moralischer Tradition, nämlich die zwischenmenschliche Ethik („zweite Tafel“ der Gebote) stets erneuert wird. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die Aufgabe der Christen in Gesellschaft und Politik.
Eine Tendenz des unverwandelten menschlichen Herzens und der natürlichen Religiosität besteht allerdings darin, die Aufgaben von Staat und Kirche zu vermengen. Eine Kirche jedoch, die staatlichen Auftrag und politische Macht an sich reißt oder sich blind gesellschaftlichen Trends anpasst, verweltlicht und verliert ihre Verheißung. Umgekehrt entartet ein Staat zur Diktatur, der Weltanschauung und Glauben der Bürger bestimmen will. So heißt es in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, als der Hitler-Staat in die Belange der Kirche eingreifen wollte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung des menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. – Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“ [Barmen V].
So steht der Staat nach biblischer Sicht in der Spannung zwischen positiver Ordnungsmacht einerseits, die das Gute fördert und das Böse eindämmt (gemäß Römer 13) und andererseits dem Tier aus dem Abgrund (gemäß Offenbarung 13), das die Gerechten verfolgt, Gott lästert, Menschen knechtet und seine tödliche Tyrannei errichtet. Einen Vorgeschmack dieser endzeitlichen Perversion des Staates boten und bieten totalitäre Systeme wie Nationalsozialismus oder Kommunistische Staaten, die in ihrer christusfeindlichen Haltung pseudo-religiöse Züge annahmen. Vielfach wird die Vermischung von Religion und Politik sichtbar an dem Personenkult, der den politischen bzw. religiösen Führern dargebracht wird.
3. Christen als Salz der Erde und Licht der Welt
Aus der Trennung von Staat und Kirche folgt nicht, dass beide nichts mit einander zu tun haben. Ein Staat, der die Verkündigung des Wortes Gottes behindert oder gar bekämpft, beschädigt seine eigenen Grundlagen.
Für die Christen gibt es zwei Irrwege: Der eine ist, sich zu isolieren, sich aus der Welt zurückzuziehen, nur das eigene Seelenheil zu suchen und die „verlorene Welt“ ihrem Schicksal zu überlassen. – Auf dem anderen Irrweg geben Christen sich so in die Welt hinein, dass sie ihr Ureigenes verlieren, ihren Auftrag vergessen und selbst verweltlichen; dieser zweite Irrweg bildet heutzutage zweifellos die größere Gefahr. Christen sind gemäß Jesu Abschiedsgebet „in der Welt“, obwohl sie andererseits nicht „von der Welt“ sind (vgl. Joh. 17,15). Im Bild gesprochen: Der Christ gehört in die Welt wie das Schiff ins Wasser, aber das Wasser gehört nicht ins Schiff, das Weltliche nicht ins Innere des Christen.
Luther fährt in seinem zitierten Wort (Auslegung von Psalm 82) über die Aufgabe der Kirche bzw. eines Predigers fort: „…danach unterrichtet und tröstet er die Welt, einen jeglichen in seinem Stande, hält Frieden und Einigkeit, zieht ein fein junges Volk auf und pflanzt allerlei Tugend im Volk…“ – Das also wäre die „politische“ Aufgabe der Kirche, eine Aufgabe „nebenbei“, für die „linke Hand“, durch welche auch für Nichtchristen die ethischen Folgen des christlichen Glaubens erkennbar und fruchtbar werden.
Ganz in diesem Sinne hat ein nicht genannter Verfasser geschrieben: „Die Grundlagen für eine freie Gesellschaft liegen in Charakter, Anschauung und Lebensführung, die von der Gnade Gottes geprägt und verändert wurden. Um wirklichen Frieden und Wohlstand zu erlangen muss sich eine Gesellschaft zusammensetzen aus aufrichtigen Bürgern, die nicht stehlen, aus fleißigen Menschen, die bereit sind, auch hart zu arbeiten, und die produktiv sind, aus einfühlsamen Familien, die sich um ihre Nachbarn kümmern, und aus verantwortungsbewussten Arbeitern, die ihre Pflicht erfüllen, und Führungskräften, die treue Verwalter öffentlicher Ressourcen sind. Völker können nur stark sein, wenn sie starke Familien haben“ (Herold seines Kommens, Juni 1995, S.6).
Christen gehören in die Welt, indem sie Verantwortung nicht nur für die Kirchengemeinde, sondern auch für die Bürgergemeinde übernehmen. Doch stets ist zu beachten: Wo vom Glauben her politisch Stellung genommen wird, geschieht ein Überschritt in eine andere Dimension. Alles andere ist Schwärmerei, so z.B. wenn Pfarrer im Talar politisch demonstrieren. (Deshalb gibt es auch nicht „christliche Staaten“ in dem Sinne, wie es „islamische Staaten“ gibt.) Dietrich Bonhoeffer hat geschrieben: „Die Kirche kann zwar nicht eine konkrete irdische Ordnung, die aus dem Glauben an Jesus Christus notwendig folgt, verkündigen, aber sie kann und muss jeder konkreten Ordnung, die ein Ärgernis für den Glauben an Jesus Christus bedeutet, entgegentreten und dadurch mindestens negativ die Grenze abstecken für eine Ordnung, innerhalb deren Jesus Christus geglaubt und Gehorsam geleistet werden kann. Diese Grenzen sind in allgemeinster Form im Dekalog gegeben, in concreto werden sie immer neu bezeichnet werden müssen“ (Werke Bd. 9, Ethik, S. 362).
Dieser Grundgedanke sei an einem Beispiel veranschaulicht: Schwangerschaftsabbruch ist Sünde. Der Staat kann sie zwar gesetzlich verbieten, aber er kann die Einhaltung nicht lückenlos überwachen, wenn er nicht zum Polizeistaat ausarten will. In der Bevölkerung geschieht Schwangerschaftsabbruch immer häufiger. Soll der Staat deshalb Schwangerschaftsabbruch erlauben? Gewiss nicht, denn der Staat hat eine andere Aufgabe als nur „Notar von Mehrheitsmeinungen“ zu sein. (Allerdings gehen die heutigen Entwicklungen in diese Richtung.) Was sollen Christen tun? Sie wissen, dass man Nichtgläubige weder zum Glauben noch zu der aus dem Glauben folgenden Ethik zwingen darf. Doch die Grenze ist klar. Der Staat sollte auf keinen Fall Schwangerschaftsabbruch fördern, was derzeit dadurch geschieht, dass die öffentlichen Kassen weithin die Kosten übernehmen. Im übrigen bleibt für Christen der Weg der Ermahnung, der Verkündigung des göttlichen Gebotes und des Vorbildes.
Somit gibt es eine doppelte christliche Verantwortung im Bereich des Politischen: Gesetze und Verhaltensweisen, die den Glauben an Jesus Christus offensichtlich hindern, müssen mit der Autorität des Wortes Gottes für verwerflich erklärt werden. Als Alternative kann ein Vorschlag zur Neuordnung dagegen gestellt werden; dies jedoch nicht mit der Autorität des Wortes Gottes, sondern nur im Sinne eines Rates christlicher Fachleute (vgl. Bonhoeffer, Ethik, S. 363 f.).
Jeder Einzelne wirkt durch sein Vorbild, ebenso die Gemeinde. Die missionarische Verkündigung ruft zur Umkehr. In einer parlamentarischen Demokratie ist es zusätzlich von Bedeutung, dass entschiedene Christen bereit sind, politische Ämter zu übernehmen. Doch eine christliche Partei im engeren Sinne kann es nicht geben. Die Reduktion auf ein „christliches Menschenbild“ hilft nicht weiter, denn eingangs wurde gezeigt, dass das Menschenbild nicht vom Gottesverständnis und vom Glauben gelöst werden kann.
Die Epoche des „christlichen Abendlandes“ ist vorüber. Man sollte ihr auch nicht allzu sehr nachtrauern. Denn das Mittelalter war gekennzeichnet vom Kampf zwischen Papst und Kaiser, von Übergriffen der Kirche in den staatlichen Bereich und umgekehrt. Das führte zu Verfälschungen des christlichen Glaubens. – Der moderne Rechtsstaat ist „gottloser“ als das autoritäre „Gottesgnadentum“, aber gerade dadurch korrigieren sich politische Fehldeutungen des Evangeliums. Sofern der liberale Staat die Verkündigung des Evangeliums ermöglicht und sich selbst von Weltanschauungszwängen frei hält, ist er „frömmer“ als es die religiöse Staatsideologie früherer Zeiten war.
Wie gesagt, in dieser Situation ist ein offenes Staatswesen, in dem sich viele bekennende Christen in Politik und Gesellschaft zum Wohl aller Menschen einsetzen und sich verantwortlich an den öffentlichen Aufgaben beteiligen, das anzustrebende Ideal. Gegenwärtig reißen jedoch in Staat und Gesellschaft nicht nur viele bisher noch tragende christliche Traditionen und damit verbundene ethische Haltungen ab, sondern Staat und Gesellschaft befinden sich in einer Phase der Re-Ideologisierung. Dieser Prozess vollzieht sich schleichend, zunächst kaum wahrnehmbar. Eine grundsätzliche Änderung fällt nicht immer sofort auf. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, hatte sich am folgenden Tag nichts sichtbar geändert: Die Morgenzeitung lag im Briefkasten wie eh und je, der Milchmann läutete wie bisher, der Bäcker brachte frische Brötchen wie immer. Wieso sollte ein sein Frühstück genießender Bürger beunruhigt sein?
Noch verführerischer ist, dass der Prozess der ideologischen Unterwanderung in unseren Tagen nicht nur im harmlosen Gewand geschieht, sondern darüber hinaus sogar im Namen hoher Ideale proklamiert wird: in Gestalt des Guten, des Sozialen, der Toleranz. Ob Lebenspartnerschaftsgesetz, Anti-Diskriminierung, Gender Mainstreaming, Multikulturalismus – das alles erscheint als gut und gerecht. – Zweifellos sind Toleranz und Gleichberechtigung etwas Gutes! Man muss schon genauer hinsehen, um zu erkennen, dass mit den beschriebenen hohen Worten etwas ganz anderes angestrebt wird als diese Werte, nämlich eine grundsätzliche Abkehr von den moralischen Grundlagen unseres Gemeinwesens und eine radikale Gesellschaftsveränderung. Was Dietrich Bonhoeffer im Widerstand gegen den Nationalsozialismus feststellte, wird in der heutigen Situation neu aktuell: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“ – Es geht im heutigen Prozess der ideologischen Unterwanderung um die Auflösung jeglicher Struktur, einschließlich der sozialen. Denn nur die völlige Ungebundenheit gibt dem postmodernen Menschen „jene totale Autonomie, die ihm seine unbegrenzte Selbstverwirklichung und Befriedigung ermöglicht, auf die er Anspruch zu haben meint“ (Klaus Bockmühl).
Die heutige Situation der Christen in Staat und Gesellschaft ähnelt einerseits jener der Urgemeinde, andererseits unterscheidet sie sich von dieser.
Die Ähnlichkeit besteht in der Minderheitensituation in einem oftmals feindlichen Umfeld. Doch auch heute können bekennende Christen in einer zerfallenden Kultur – wie die Urgemeinde – Leuchtturmfunktion ausüben. Es gilt das Wort des Apostels Paulus: „Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel, damit ihr ohne Tadel und lauter seid, Gottes Kinder, ohne Makel mitten unter einem verdorbenen und verkehrten Geschlecht, unter dem ihr scheint als Lichter in der Welt, dadurch dass ihr festhaltet am Wort des Lebens“ (Philipper 2,15 f.). Und in 1Timotheus 2,1-4 heißt es: „So ermahne ich nun zuallererst, Bitten, Gebete, Fürbitten, Danksagungen darzubringen für alle Menschen, für Könige und alle, die in obrigkeitlicher Stellung sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ – Auf diese Weise wirkt die christliche Gemeinde als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ (Matthäus 5,13 f.).
Der Unterschied zur Situation der Urgemeinde besteht darin, dass heutzutage – trotz aller Einschränkungen – immer noch demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in Staat und Gesellschaft bestehen, die es damals nicht gab. Die biblische Sichtweise „entmythologisiert“ den Staat. Er soll dem Wohl der Menschen dienen, kann aber nicht das Heil der Welt schaffen. Als „Zwischengröße“ hat er nur den Auftrag, an der Welterhaltung Gottes teilzunehmen, bis das Reich Gottes kommt. Die Aufgaben und Möglichkeiten des Staates sind nüchtern zu sehen. Ein wahrhaft demokratischer Staat ist bescheiden in seiner Selbsteinschätzung und entspricht damit am ehesten der biblischen Sicht. Er benötigt jedoch die Mitwirkung seiner Bürger. Und gerade dann, wenn gute Ordnungen zu zerfallen drohen, ist die Verantwortung jedes einzelnen Christen gefragt.
Einzelne Verfehlungen jedenfalls entheben den Staat noch nicht seines grundsätzlichen Auftrags, als Ordnungsmacht zur Welterhaltung beizutragen und die Evangeliumsverkündigung zu ermöglichen. Erst wenn sich weltweit Anarchismus und Totalitarismus durchsetzen und die dem Chaos wehrende (Staats-?) Macht hinweggenommen wird (2Thessalonicher 2,7), endet die Mitverantwortung der Christen. Dann tritt der Antichrist auf den Plan. Dann aber steht auch Jesus Christus, der wiederkommende HERR, der Sieger, vor der Tür.
Stuttgart, im September 2011
Rainer Mayer
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 4. Mai 2022 um 9:50 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik, Kirche, Theologie.