Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Eine Meditation zu Luthers großer Reformationsschrift

Dienstag 20. Juni 2017 von Dr. Klaus-Rüdiger Mai


Dr. Klaus-Rüdiger Mai

Im ausgehenden 16. Jahrhundert kam das Wort von der Herzens- und von der Mauerkirche auf. Die evangelische Christenheit war in zweifacher Weise geplagt, zum einen natürlich vom steten Überlebenskampf gegen den katholischen Gegner, zum anderen intern von der nicht weniger heftig geführten Auseinandersetzung zwischen Calvinisten und Lutheranern. Für die Lutheraner kam noch eine dritte Querele hinzu, die sich aus den sich verschärfenden Spannungen zwischen Gemeindegliedern, auch Pastoren und Theologen auf der einen Seite und einem aus Theologen bestehenden sich verfestigenden kirchlichen Apparat auf der anderen Seite ergab, den man später als lutherische Orthodoxie bezeichnete.

Die zeitgenössischen Kritiker fassten den Gegensatz freilich unter das polemische Begriffspaar Herzenskirche oder Mauerkirche, wobei die Herzenskirche auf dem lebendigen Glauben, der nicht institutionell zu verwalten war, bestand. Als Beispiel hierfür sei nur auf den theologischen Bestseller Vier Bücher vom wahren Christentum des mitteldeutschen Pfarrers Johann Arndt verwiesen.

Den Anhängern der Herzenskirche oder des wahren Christentums ging es vor allem darum, Luthers reformatorischen Impuls weiterzutragen, mit dem Priestertum aller Getauften ernst zu machen, denn sie beschlich das Gefühl, dass mit der lutherischen Amtskirche als Kirchenapparat im Grunde eine neue Papstkirche allerdings mit vielen kleinen Päpsten in Gestalt der Generalsuperintendenten und vielen kleinen Kurien in Form der Kirchenämter entstehen würde. Den Mauerwerken der Gebäude, dem Äußeren, der Macht und dem Prunk suchten sie die schrittweise Vervollkommnung im Glauben entgegenzustellen, den profectus, wie vormals Bernhard von Clairvaux, später Martin Luther den Weg in den Himmel nannte, der nur aus dem Glauben allein gelingen konnte, und das bedeutete, in einem ständigen Prozess von Buße und Reue sich zu reinigen von den Sünden, denen der Mensch nicht auszuweichen vermochte, denn sein Weg führte ihn zwischen dem Status des miseri und dem des beati hindurch.

Lutherische Theologen wie Johann Valentin Andreae und der Arzt und Alchemist Tobias Hess strebten mit den Manifesten der Rosenkreuzer und anderen in den Jahren vor dem Dreißigjährigen Krieg sogar eine Zweite Reformation an. Aus all diesen Bestrebungen ging schließlich der Pietismus hervor.

Die gesamte Kirchengeschichte findet im Grunde in dieser Spannung von gelebtem Glauben und Glaubensinstitution statt. Aus den konträren Notwendigkeiten, in dieser Welt zu wirken, und dem Eschatologon, das Jesus Christus vor Pilatus in den Satz fasst: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, ergibt sich der Grundwiderspruch der Kirche bis auf den heutigen Tag, der zugleich Antrieb und Wirklichkeit bedeutet.

Sowohl die Anhänger der Mauerkirche als auch die der Herzenskirche durften sich hierbei mühelos auf Martin Luther berufen. Auch wenn im Anfang der Reformation grob gesagt bis 1521, bis Worms die Bemühungen der Verbesserung der Kirche im Vordergrund standen und nach dem Bruch mit Rom es notwendig wurde, eine neue Kirchenordnung zu schaffen, würde es ein allzu schematisches, ja gewaltsames Vorgehen bedeuten, den Luther vor Worms der Herzenskirche und den Luther nach Worms der Mauerkirche zuzuordnen. Der ordnende, der systematisierende Reformator war Philipp Melanchthon, während Martin Luther denkend in neue Räume vorstieß.

In seinen drei großen Reformationsschriften von 1520 – An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, De captivitate  Babylonica Ecclesiae (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche) und Von der Freiheit eines Christenmenschen –  begründete Martin Luther die Freiheit des Christen, definierte die Aufgaben der Obrigkeit innerhalb seiner Zwei-Regimenten-Lehre und setzte zur schonungslosen Kritik der Kirche an, die er zunehmend als Kirche des Papstes und der „römischen Speichellecker“ sah.

Zum Scheidebrief geriet die 1520 verfasste Schrift De captivitate Babylonica Ecclesiae (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche). Der Wittenberger Doktor der Heiligen Schrift begann furios: „…so weiß ich nun und bin mir sicher, dass das Papsttum das Reich von Babylon ist, das Herrschaftsgebiet Nimrods, des gewaltigen Jägers.“[1] und gelangte schließlich zu dem vernichtenden Urteil: „Papatus est Robusta Venatio Romani Episcopi“[2] („Das Papsttum ist die gewaltige Jagd des Römischen Bischofs“[3]). Damit spielte er mit maliziöser Ironie nicht nur auf den legendären Wüterich Nimrod an, sondern auch auf Papst Leo X., Giovanni de Medici, der die Jagd möglicherweise inniger als sein Petrusamt liebte. Oft zog er sich auf sein Jagdschloss in der Nähe Roms zurück, um sich den Freuden der Jagd und nicht nur diesen ganz hinzugeben. Der junge Professor zu Wittenberg im kalten, finsteren, barbarischen Norden, wie es dem Florentiner erscheinen musste, hatte keine drei Jahre zuvor mit seinen Ablassthesen, dann mit dem Sermon von Ablass und Gnade, mit der Leipziger Disputation und dem Traktat Von den guten Werken für Aufsehen gesorgt und geriet ungewollt, aber auch unvermeidbar in eine existentielle Auseinandersetzung, in der die Kirche für ihn immer mehr zu einer Institution „römischer Speichellecker“, und der Papst schließlich zum Antichrist, die Kirche selbst zur Großen Hure Babylon wurde.

Die verblüffende Aktualität dieses Textes zu verstehen,  setzt voraus, ihn in seine Zeit einzuordnen. Hierzu seien folgende Prämissen genannt:

  1. 1417–1517: das Jahrhundert des Kampfes um die Reformen mündet schließlich in die Reformation, weil die Reformen immer wieder vertagt wurden.
  2. Die Kirche agierte in dieser Zeit als Universalinstitution, es existiert noch keine Trennung zwischen Staat und Kirche. Die Kirche ist selbst politischer Akteur, der Papst nicht nur das Haupt der Christenheit, sondern der Herrscher des Kirchenstaates, tritt also auf weltlicher Ebene als Fürst und weltliche Obrigkeit auf.
  3. Die Theologie war damals eine Universalwissenschaft und keine Fachwissenschaft wie heute.
  4. Die Theologie stand unter der Herrschaft der scholastischen Philosophie.
  5. Zwischen Rom und Deutschland vertiefte sich ein Konflikt, weil die Beschwerden der Deutschen, die als Zahlmeister die römische Kurie finanzierten, die sogenannten Gravamina der deutschen Nation abgewiesen wurden.
  6. Schließlich erhöhte sich der religiöse Druck und die seelische Not, die den einzelnen unter einen unerhörten Leistungsdruck im Verbringen guter Werke stellte, zu denen die Ablässe gehörten. Erst durch den Werkleistungsdruck ließen sich die Ablässe erfolgreich vermarkten.

Mit den Ablassthesen legte Martin Luther die Axt an die ökonomische Wurzel der römischen Kirche, die obendrein vollkommen verweltlicht und politisiert war. Wenn es auch möglich ist, dass Martin Luther die Griseldis Geschichte aus dem Decameron des Giovanni Boccaccio allerdings in der Version Petrarcas gelesen hatte, jedenfalls besaß die Bibliothek der Amploniana ein Exemplar, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er eine weitere Geschichte, nämlich die des Juden Abraham rezipiert hatte, die doch ein so hübsches Seitenstück zu seiner Schrift De captivitate Babylonica Ecclesiae bildet. Ein reicher Pariser Jude namens Abraham wurde von seinem christlichen Freund Giannotto di Civigni schließlich überzeugt, zum Christentum zu konvertieren. Doch als Giannotto sich bereits auf die Taufe des Juden freute, fuhr ihm der Schreck in die Glieder, als der verkündete, er wolle zuvor nach Rom reisen, „um dort den zu sehen, von dem du sagst, er sei Gottes Stellvertreter auf Erden, um sein Auftreten und sein Verhalten sowie das seiner Brüder Kardinäle zu betrachten.“[4] Da Giannotto die schlimmen Zustände in Rom und das unwürdige Treiben an der Kurie kannte, sah er all seine Bemühungen scheitern. Es gelang ihm nicht, Abraham von der Reise abzuhalten. Doch wie groß war sein Erstaunen, als der Jude von der Reise zurückgekehrt die Taufe gar nicht mehr erwarten konnte und jetzt umso stärker danach trachtete, Christ zu werden. Dem verwunderten Giannotto erklärte er: „Und ich meine, dass euer Hirte und mit ihm alle anderen ihr ganzes Streben, ihren ganzen Verstand und ihre ganze Kunst darauf verwenden, der christlichen Religion den Garaus zu machen und aus dieser Welt zu vertreiben, wo sie doch ihr Fundament und ihre Stütze sein sollten. Da ich sehe, dass nicht eintritt, was jene erstreben, dass sich vielmehr eure Religion ständig ausbreitet, immer heller leuchtet und glänzt, kann ich daraus billigerweise nur schließen, dass der Heilige Geist das Fundament und die Stütze dieser als der vor allen übrigen wahren und heiligen Religion ist.“[5]

Auch der junge Luther reiste in Ordensangelegenheit nach Rom, und die Beobachtungen, die er dort anstellte, waren alles in allem niederschmetternd. Änderung war also dringend geboten, zumal er seine Stellung als Doktor der Heiligen Schrift als Berufung, Verantwortung und als Wächteramt verstand, nämlich darauf zu achten, dass Gottes Wort geehrt und wohl verstanden und nicht verdreht würde, um anderes, nur allzu Weltliches damit zu begründen. Statt um Macht ging es Martin Luther um den Glauben, statt um Reichtum und wirtschaftlichen Erfolg stand für Luther das Heil im Vordergrund. „Die Kirche wird nämlich aus dem Wort der Verheißung durch den Glauben geboren, und sie wird durch dasselbe Wort genährt und erhalten.“[6], schrieb er in der Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche.

Es stellt gewiss keinen Zufall dar, dass der Konflikt mit der Kirche auf dem Feld des Ablass begann, denn nirgendwo vereinten sich Machtstreben, ökonomische Ausbeutung und fragwürdige theologische Begründung so sehr wie im Ablasswesen, das dazu angetan war, den Päpsten und der Kurie eine enorme Machtfülle und sprudelnde Einnahmen zu bescheren. Das erklärt auch die heftige Reaktion auf die Thesen.

Im Verlauf der Eskalation der Auseinandersetzung verfasste Martin Luther 1520 die drei großen reformatorischen Schriften, die man im Zusammenhang sehen sollte, weil sie jeweils einen anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens ausgehend von der neuen Rechtfertigungslehre, von dem Gerechtfertigt-werden aus dem Glauben als eine Gnade Gottes behandeln. In der Adelsschrift legte der Reformator ausgehend von der Zwei-Regimenten-Lehre dar, welche Aufgaben der Obrigkeit in weltlichen Bereich in einer christlichen Gesellschaft und aus christlicher Sicht zukommen. Später wird er diesen Gedanken vor allem in der Obrigkeitsschrift ausbauen.

In der Freiheitsschrift denkt er über das Leben des Christen in dieser Welt, dessen Perspektive Gott und das Leben nach dem Tode, die Ewigkeit, bildet, nach, wobei er ausgehend von den beiden Welten den äußeren Menschen, der ganz Teil der diesseitigen Welt ist, und den inneren Menschen, der Anteil am jenseitigen Reich hat, unterscheidet. Sachwalter des anderen Reiches, Bastion des Reiches nicht von dieser Welt in dieser Welt ist für Martin Luther die Kirche. Deshalb kommt ihr auch die wichtigste Aufgabe zu, nämlich sich um das Seelenheil der Menschen zu kümmern, nicht Macht, nicht Politik, nicht Eitelkeit und Wohlleben, nicht Selbstvergottung, sondern Dienst am Christen ist ihr Zweck. Christus hat „keine Reiche, keine Gewalten und keine Herrschaften, sondern Dienste in seiner Kirche gestiftet.“[7]

Doch nichts nahm die Kirche weniger wahr als ihre genuinen Aufgaben. So stellt er in der Schrift Von der babylonische Gefangenschaft der Kirche fest: „Jetzt aber da vom Glauben keine Rede mehr ist, ist die Kirche erloschen unter unendlich vielen Gesetzen über Werke und Zeremonien, sind Kraft und Verständnis der Taufe abgeschafft, ist der Glaube an Christus verstellt.“[8]

Der wesentliche Befund lautet: Durch das Tun der Kirche wird der Glaube an Christus „verstellt“ und damit zugleich das Heil, der Weg des Menschen ins Himmelreich, mehr noch: die Menschen werden um ihre Erlösung betrogen. Darin sah Luther das Wirken des Teufels. Deshalb wollte er wieder zum Wesen der Kirche zurück. Das bedeutet im Grunde das Wort Reformation: zurück zum Wesen der Kirche, denn forma bedeutet im ausgehenden Mittelalter Wesen. Wie weiland die Juden nach Babylon verschleppt worden waren und dort auf den Tag ihrer Rückkehr nach Jerusalem warteten, befand sich auch die Kirche im weltlichen Babylon, in der Gefangenschaft und hoffte auf ihre Rückkehr. „Es liegt auf der Hand, was notwendigerweise auf die Auslöschung des Glaubens folgen musste: eine ganz unchristliche superstitiöse Werkreligion. Wo nämlich der Glaube fehlt und das Wort vom Glauben verstummt, da tauchen nur zu bald an deren Stelle die Werke auf und entsprechende Festschreibungen. Durch diese sind wir in einer Art von babylonischer Gefangenschaft aus unserem Land verschleppt worden…“[9] Der Reformator beklagte, dass die Priester und Bischöfe ihre eigentlichen Aufgaben vergessen hätten und sich ganz und gar weltlichen Angelegenheiten widmeten, um in dieser Welt Macht, Einfluss und Wohlleben zu gewinnen, einzig und allein ihrer Gier und ihren Eitelkeiten verpflichtet. „Daher sind es diese Priester und Bischöfe, von denen die Kirche heutzutage voll ist – falls sie nicht doch noch auf andere Weise für ihr Heil sorgen wollen, das heißt, falls ihnen nicht bewusst wird, dass sie weder Priester noch Bischöfe sind, und Schmerz darüber empfinden, dass sie einen Titel führen, dessen Werk ihnen entweder unbekannt ist oder das sie doch nicht ausführen können, und so unter Gebet und Tränen das traurige Los ihres unwahren Lebens beklagen – wahrlich ein Volk des ewigen Verderbens, und an ihnen wird das Wort aus Jesaja 5 wahr: „Gefangengeführt ist mein Volk, denn es fehlt ihm das rechte Verständnis! Seine Vornehmen sind Hunger gestorben und die Menge verschmachtet vor Durst. Und so hat die Hölle ihre Seele weit gemacht und ihren Rachen aufgerissen ohne Ende. Und die Starken und das Volk, die Stolzen und die Ruhmreichen müssen nun dort hinab“ O wie grauenhaft das Wort doch klingt in unserem Jahrhundert, da die Christen in solch riesigen Schlund verschwinden.“[10]

Wenn man bedenkt, dass die Sakramente als Tore auf dem Weg zur Seligkeit, ja zu Gott fungieren, und dass die Macht der Kirche auf diesen Sakramenten beruhte, die sie austeilte, dass im Übrigen auch ihre eigentliche Aufgabe im Hirtenamt und in der Seelsorge bestand, wird deutlich, welche große und zentrale Bedeutung den  Sakramenten zukommt. Diese Sakramente wurden nun vom Papst und von der Kurie gefangen gehalten, weil Papst und Kurie dachten, darüber nach Gutdünken verfügen zu können. Die Sakramente, der Weg zum Heil aber, wurde so in die alleinige Verfügungsgewalt des Papstes, der Bischöfe und Priester gelegt. Luther setzte mit dem wichtigsten der Sakramente, dem Abendmahl, ein, in dem er zeigte, wie die Laien in der Kirche geknechtet wurden, weil man ihnen ein Teil des Abendmahles vorenthielt. Glänzend wies er nach, dass es unchristlich wäre und eine reine Machtdemonstration darstellte, wenn die Priester das Abendmahl in beiderlei Gestalt nähmen, dem Laien aber nur der Leib gereicht würde. Das Abendmahl selbst litt also in dreifacher Gefangenschaft, einmal in der Gefangenschaft durch die Verweigerung des Laienkelchs, zweitens durch die Transsubstantiationslehre und drittens durch die Fälschung der Messe als Opfer und Werk. All jenes geschah nur, um die Macht des Priesters, der nach Papst Innozenz III. nicht ganz so viel wie Gott, aber mehr als der Mensch war, das sogenannte dritte Geschlecht, zu zementieren. Dem hielt Luther das Priestertum aller Getauften entgegen. „Aber die Leute, die jetzt die Messe auslegen, treiben allegorischen Unfug auf der Grundlage menschlicher Zeremonien.“[11]

In der Schrift begründet Martin Luther ausgehend von der Heiligen Schrift und seiner Vorstellung, dass ein Sakrament drei Elemente enthalten muss:

  1. Verheißung (promissio): das Sakrament ist eine Gnadengabe Gottes.
  2. Glaube (fide) Das Sakrament wirkt nicht durch den bloßen Vollzug (ex opere operato), sondern benötigt den Glauben, wenn nicht an die Verheißung geglaubt wird, kann sie auch nicht wirken.
  3. Zeichen (signum) Das äußerliche Zeichen, das auf die Verkündigung hinweist, ist wichtig. Darum ist die Buße kein Sakrament, weil ihr das Zeichen fehlt, wird aber reditus ad baptismum zum Taufsakrament gezählt. Auch Taufe ist ein Wortgeschehen, weil sich das Wort im Sakrament verleiblicht hat und es interpretiert und darstellt: Der Tod des alten und die Geburt des neuen Menschen.

Nach Prüfung der Sakramente, womit er sich in der Schrift beschäftigt, bleiben von den sieben: Taufe, Firmung, Ehe, Priesterweihe, letzte Ölung, Abendmahl, Beichte – nur zwei bestehen: Abendmahl und Taufe. Nach dem Augsburger Bekenntnis kommt die Absolution hinzu: „Wahrhaft jedoch sind Sakramente die Taufe, das Mahl des Herrn, die Absolution, d. h. das Bußsakrament.“

Luther charakterisiert sehr deutlich den Sinn der Sakramente: „Alle Sakramente sind dazu eingesetzt, den Glauben zu nähren“[12] Und: „Aber ohne Glaube, wer hofft da? Wer liebt da? Ohne Glaube, Hoffnung und Liebe aber, was sollte das für ein Gottesdienst sein?“[13]

Wenn wir aber aus dem Glauben gerechtfertigt werden vor Gott, dann sind die Sakramente dazu eigesetzt, den Glauben zu vertiefen, dienen also dem Glauben. Dann bedeutete die Befreiung der Sakramente aus einer scholastischen Theologie, die den Machtinteressen einer verweltlichten Kirche diente, die Jesu Satz: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ vollständig vergessen und all ihr Sinnen auf das Reich in dieser Welt gerichtet hatte, zugleich auch die Befreiung des Christenmenschen selbst, über dessen Freiheit Martin Luther in seiner nächsten Schrift handelte.

Versteht man Luther recht, so ist der aktuellen Politisierung der Kirche zu wehren, weil sie nämlich den Heilsauftrag der Kirche ganz in diese Welt auflöst und Jesu Satz vor Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ praktisch dementiert. Daraus folgt geradezu unausweichlich, dass die Kirche statt Heilsinstitution zu sein, zur Moralagentur wird. Moralagentur bedeutet dann auch, dass man in Versuchung gerät, Glaubensinhalte nicht mehr zu benennen, um dafür politisch erfolgreicher agieren zu können. Wenn man dann noch den „Feind“ theologisch definieren will[14], hat man die Theologie zur Magd der Politik erniedrigt.

Martin Luther hingegen trat für den freien Disput ein und entgegnete allen, die sich nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzten wollten, sondern sie stattdessen nur mit Etiketten versahen: „Ich will die nicht hören, will auch ihre Meinung nicht achten, die jetzt gleich losschreien, dass alles sei Wyclifismus, Hussitismus, Häresie und überhaupt wider die Bestimmung der Kirche.“[15] Und weiter: „aber wie kann die Heiligkeit eines anderen meine Freiheit beeinträchtigen? Wieso legt mich der Eifer eines anderen in Fesseln? Soll doch heilig und eifrig sein, wer es will und so viel er will, wenn er nur keinem anderen schadet und mir meine Freiheit nicht raubt.“[16] Und an die Mächtigen in der Kirche gewandt: „Ich sage also: Weder der Papst noch ein Bischof noch sonst irgendwer hat das Recht, über einen Christenmenschen auch nur eine einzige Silbe zu erlassen, außer mit dessen Zustimmung. Und was auch immer auf andere Weise geschieht, das geschieht im Geist der Tyrannei.“[17]

Ein Politisierung der Kirche und eine Konzentration auf Moral läuft Gefahr, schließlich Glauben durch Gesinnung zu ersetzen und würde einer Entwicklung Vorschub leisten, die an die Stelle der Verantwortungsethik die Gesinnungsethik setzt.

Deshalb wird es notwendig mit Luther wieder zu einer re-form zu kommen, mit einer Besinnung auf das Wesentliche, auf das, was Kirche ausmacht und welche Aufgabe sie hat. Die Kirche muss der Versuchung widerstehen, hinter Luthers Zwei-Regimenten-Lehre zurückzufallen und es scheint dringend geboten, dass sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentriert, die da wären: Bibelstudium, Gottesdienst, Seelsorge, Bildung, Diakonie und Mission. Für diese Besinnung leistet die Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche unschätzbare Dienste.

Dr. Klaus-Rüdiger Mai

Als Vortrag gehalten beim Treffen der Mitglieder und Freunde des Gemeindehilfsbundes am 17.6.2017 in Walsrode-Düshorn.

[1] Luther, Martin: Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in ders. : Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Leipzig 2009, Band 3, S. 175, im Weiteren nur : Studienausgabe 3

[2] Studienausgabe 3 S. 174

[3] Studienausgabe 3 S. 175

[4] Boccaccio, Giovanni: Das Decameron, Stuttgart 2012, S. 65

[5] a.a.O. S. 68

[6] Studienausgabe 3 S. 343

[7] Studienausgabe 3 S. 299

[8] Studienausgabe 3 S. 277

[9] Studienausgabe 3 S. 235

[10] Studienausgabe 3 S. 359

[11] Studienausgabe 3 S. 251

[12] Studienausgabe 3 S. 261

[13] Studienausgabe 3 S. 225

[14] vgl. Claussen, Johann Hinrich: Wut ohne Hass. Wie man Nationalisten und Populisten begegnet,  in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 18.Jahrgang, S. 9

[15] Studienausgabe 3 S. 205

[16] Studienausgabe 3 S. 325

[17] Studienausgabe 3 S. 277

 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 20. Juni 2017 um 10:52 und abgelegt unter Kirche, Theologie.