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„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46)

Freitag 3. April 2015 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Dieses Kreuzeswort Jesu ist das vierte von sieben und steht damit an zentraler Stelle. Umrahmt wird es vorher vom Wort Jesu an Maria „Siehe, das ist dein Sohn“ (Joh 19,26) und nachher vom Ruf „Mich dürstet“ (Joh 19,28). Nach der Überlieferung der vier Evangelisten hatte Jesus eine sechsstündige Schmerzensqual durchzustehen und hing von vormittags 9 Uhr bis nachmittags 15 Uhr am Kreuz. Kurz bevor er starb, scheint er noch den ganzen 22. Psalm gebetet zu haben. Matthäus hält daraus den ersten Satz fest (Ps 22,2): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Deutung ist seit jeher umstritten. Ist es Verzweiflung, ist es Resignation, ist es ein bloßes Zitat, hatte Gott seinen Sohn wirklich verlassen? Ich nähere mich dem Geheimnis dieses Kreuzeswortes in vier Schritten.

  • Mt 27,46 ist das einzige Kreuzeswort, das Matthäus überliefert

Das Matthäusevangelium ist von einem Judenchristen für Judenchristen geschrieben. Man merkt hier überall, dass Matthäus jüdisches Insiderwissen voraussetzt. Wenn man das nicht bedenkt, kommt man leicht zu Fehlschlüssen. Dass dieses Evangelium Jesu Stammbaum bei Abraham beginnt, ist begründet in dieser Tatsache. Wenn Matthäus in seiner Fassung der Bergpredigt die autoritativen Worte Jesu „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist…Ich aber sage euch…“ erwähnt, dann konnten Juden damit unmittelbar etwas anfangen. Die Ausnahmeklausel beim Scheidungsverbot „…mit Ausnahme im Fall von Unzucht“ konnten die zeitgenössischen Juden sofort auf die Unzuchtsehe ihres Königs Herodes Antipas beziehen, der mit seiner Halbschwester Herodias in einer blutschänderischen Beziehung lebte. Auch die Endzeitrede Jesu in Mt 24 und 25 ist in der Matthäusfassung deutlich auf Israel bezogen. Ebenso setzt das Kreuzeswort in Mt 27,46 genaue Kenntnis des Judentums voraus.

Man merkt das schon am Zusammenhang. Wenn Matthäus in 27,35 erwähnt, dass die Soldaten um die Kleider Jesu losten, dann weiß nur ein Jude, der mit den Psalmen aufgewachsen ist, dass sich hier eine Weissagung aus Ps 22,19 erfüllt. Auch Johannes überliefert dieses Schachern um Jesu Kleider, aber er erklärt die entsprechende Psalmstelle. Wenn Matthäus in 27,43 den abfälligen Spott der jüdischen Führer am Kreuz erwähnt „Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat, denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn“, dann weiß eben auch nur ein Jude, dass dieser Zug aus Jesu Leidensgeschichte in Ps 22,9 vorgebildet ist. Oder nehmen wir die Erwartung einiger Juden, die am Kreuz standen, dass Elia kommen und Jesus auf wunderbare Weise helfen wird (Mt 27,49). Um diese Erwartung zu verstehen, muss man den Propheten Maleachi kennen. In Mal 3,23 heißt es, dass Gott den Propheten Elia senden wird, bevor der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.

So verhält es sich auch mit dem von Matthäus überlieferten Kreuzeswort. Nur Juden konnten auf Anhieb wissen, dass der sterbende Jesus hier den 22. Psalm zitiert. Nur Juden konnten wissen, dass dieser Psalm nicht nur ein prophetischer Leidenspsalm aus Davids Mund ist, sondern auch ein Siegespsalm. Ab V. 23 wendet sich nämlich in diesem Psalm das Leben des Leidenden. Nachdem der dem Tod geweihte und sterbende Schmerzensmann gestorben ist, erhebt sich seine Stimme erneut, und er bezeugt seinen unbeirrten Willen, nun das Volk Israel, die Völker der Heiden und sogar die Toten zum Lob Gottes zu führen. Nur wenn man den ganzen Psalm kennt, kann man das von Matthäus zitierte Kreuzeswort richtig verstehen.

  • Die Situation beim Ausrufen des vierten Kreuzeswortes

Jesus hängt zum Zeitpunkt dieses Wortes bereits etwa sechs Stunden am Kreuz. Er hat unter allergrößten Schmerzen erlitten, wie sich die Prophezeiungen des 22. Psalms an ihm schrittweise erfüllten. Matthäus überliefert, dass Jesus laut schrie. Wörtlich heißt es „Jesus schrie hinauf, mit lauter Stimme sprechend“. Das war jedoch kein Verzweiflungs- oder Angst- oder Schmerzensschrei, sondern das war ein lautes, inständiges Beten. Auch Mt 27,50 „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied“ ist als ein letztes laut gerufenes Gebet zu verstehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Jesus den ganzen Ps 22 mit lauter Stimme betete.

Matthäus und Markus berichten, dass neben den Pharisäern, Schriftgelehrten und Ältesten und den vorbeigehenden Leuten auch die beiden mit Jesus gekreuzigten Verbrecher ihn lästerten. Lukas hingegen bemerkt, dass einer der beiden sich an Jesus gewendet hat mit der Bitte „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst“. Liegt hier ein Widerspruch oder eine ungenaue Überlieferung vor? Prof. Karl Bornhäuser äußert dazu in seinem Buch „Die Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu“ die Vermutung, dass sich dieser eine Verbrecher noch am Kreuz zu Jesus bekehrt habe, vielleicht unter dem Eindruck des ersten Kreuzeswortes „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Luk 23,34). Äußerste Todesangst kann einen Menschen gegen Gott verhärten, kann ihn aber auch für Gott öffnen. Die Vermutung Karl Bornhäusers ist nicht von der Hand zu weisen. Von all den vielen Lästerern hat Jesus in seinen sechs Sterbestunden diesen einen mit ins Paradies genommen.

Die drei Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas berichten von einer dreistündigen Finsternis von 12 Uhr bis 15 Uhr. Was Jesus im Herzen erlebte, bildete sich draußen ab. Gott legte die Sünde aller Menschen aller Zeiten auf ihn und richtete sie durch den Sühnetod seines Sohnes. Die Gottverlassenheit Jesu konnte jeder, wenn er das Zeichen zu deuten verstand, am finsteren Himmel ablesen.

Die Finsternis wurde – nach dem Matthäusbericht – von einem Erdbeben begleitet, das wiederum Begleiterscheinung für ein wunderbares Geschehen war: Gräber von entschlafenen Heiligen gingen auf, als Vorwegnahme ihrer Auferstehung, die dann kurze Zeit später nach Jesu Auferstehung geschah.

Die Situation, in die das vierte Kreuzeswort gesprochen wurde, war unerhört verdichtet. Die äußere Finsternis wich. Die innere Finsternis, die auf den Lästerern lag, wurde durch die Bekehrung des einen Verbrechers überwunden. Ein Erdbeben hatte das Auferstehungsgeschehen angekündigt. In diese Lage hinein ruft Jesus laut den 22. Psalm.

  • Der 22. Psalm, ein prophetisches Gebet des auferstandenen Jesus

Meistens wird der 22. Psalm Jesu Leidenspsalm genannt. In der Tat, die ersten 22 Verse haben fast ausschließlich bitterstes Leiden zum Inhalt. Aber man muss den Psalm zu Ende lesen. Ab V. 23 ändert sich schlagartig das Thema. Derjenige, der eben noch von seinem Leiden und Sterben berichtet hat, tritt plötzlich auf als strahlender Sieger, der nur eines im Sinn hat, alle Menschen zu einem großen Lobgesang vor Gott zusammenzuführen. Fast könnte man denken, es handele sich ab V. 23 um ein ganz anderes Subjekt. Aber das Merkwürdige und Unglaubliche an diesem Psalm ist es, dass ein und derselbe Mensch von seinen Schmerzen und von seinem Sterben spricht und dann ganz unvermittelt als Verkündiger der Ehre Gottes auftritt. Wenn der sterbende Jesus diesen Psalm gebetet hat, dann identifiziert er sich mit dem „Ich“ dieses Psalms. Und wenn er ihn ganz gebetet hat, dann spricht er – obwohl als Sterbender – schon als Auferstandener.

Auf gar keinen Fall ist der Psalm das Gebet eines Verzweifelten, der an Gott irr geworden ist. Schon im ersten Teil bricht inmitten aller Schmerzen immer wieder sein Glaube, seine Hoffnung und seine Hingabe an Gott durch. In V. 5 und 6 denkt er dankbar an Gottes Hilfe für die Väter. „Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden“. In V. 10 und 11 denkt der Beter dankbar an seine Kindheit. „Du hast mich aus meiner Mutterleibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an“.

Selbst in dem dunkelsten Abschnitt des Psalms, in den Versen 13 bis 22, wo der Leidende sein eigenes Sterben beschreibt, wie der „Bösen Rotte“ ihn umringt und seine „Hände und Füße durchgraben“, keimt immer noch Hoffnung auf Gottes Hilfe auf. „Meine Stärke, eile, mir zu helfen!“

Das wichtigste Kennzeichen des ganzen Psalms ist es aber, dass er nicht allgemein vom Verhältnis des leidenden Menschen zu Gott spricht, keine Abhandlung über die Not und die Anfechtung unschuldigen Leidens bietet, sondern die Leser hineinnimmt in ein ganz persönliches Zwiegespräch zwischen dem Beter und seinem Gott. Dementsprechend beginnt der Psalm nicht mit einer allgemeinen Anrede Gottes, sondern mit einer persönlichen „Mein Gott“. Dieser persönliche Gott ist das durchgängige „Du“ im ganzen Psalm. „Du bist heilig“; „Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen“; „Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an“; „Du, Herr, sei nicht ferne“; „Du hast mich erhört“; „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern“; „Dich will ich preisen in der großen Gemeinde“.

Selbst Hiob, der große Schmerzensmann im Alten Testament, hatte kein so intimes Gebetsleben mit seinem Gott. Erst nach seiner Leidenszeit, nach den beiden gewaltigen Offenbarungsreden Gottes, bekennt er „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (Hiob 42,5). Auch David, von dem Ps 22 stammt, kann nicht der Leidende dieses Psalms sein, denn um seine Kleider wurde nie ein Los geworfen, und die böse Rotte hat ihn nicht in den Staub des Todes gelegt (Ps 22,16 und 17). Der Leidende dieses Psalms muss Jesus selbst sein. Und weil der Psalm nicht nur Jesu Leiden beschreibt, sondern auch Jesu Triumpf und Sieg, kann man Ps 22 mit Fug und Recht ein prophetisches Gebet des auferstandenen Jesus nennen.

  • „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Für sich genommen, kann diese Frage zu Beginn des Psalms ganz verschieden gedeutet werden, als Resignation, Verzweiflung, ohnmächtige Trauer, Anklage, Absage an Gott, schmerzerfüllter Trotz, oder auch als aufrichtige Frage oder demütige Bitte. Wer der Erklärung näher kommen will, muss unbedingt den ganzen Psalm lesen. Der große erste Teil (V. 2-22) gibt noch keine Antwort, aber der zweite Teil (V. 23-32). Wer den zweiten Teil auf sich wirken lässt, wird merken, dass hier die Antwort auf die Warumfrage des ersten Teils zu finden ist. Dazu vier Beobachtungen:

4.1       „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern“ (V. 23), verkündet der auferstandene Jesus hier. Mit den „Brüdern“ ist das Volk Israel gemeint, wie aus dem nachfolgenden Vers 24 unzweideutig hervorgeht. Es ist dem Herrn ein Herzensanliegen, dass Israel den Namen Gottes recht gepredigt bekommt. Er hat mit Gottes Auserwählungsvolk noch viel vor. Es soll ja einst das heilige, königliche Priestervolk Gottes werden, das seit der Abrahams- und Sinaiverheißung berufen ist, ein Segensvolk für die Menschheit zu sein.

4.2       „Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden“ (V. 27). Über das Volk Israel hinaus hat Jesus die gesamte Menschheit im Blick. Alle, die Gott fürchten, die nach dem Herrn fragen, sollen satt werden an geistlicher und leiblicher Speise. „Aller Welt Enden“ werden sich „zum Herrn bekehren“. Aus allen Nationen werden Menschen in Christus ihren Herrn und Heiland finden. Hier weitet sich der Blick hin zur Weltmission.

4.3       „Ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen“ (V. 30). Noch mehr weitet sich der Blick. Jesus nimmt auch die Toten in den Blick. Auch sie werden einst Gott die Ehre geben. Entweder werden sie Gott anbeten oder sie werden, ob sie wollen oder nicht, vor ihm die Knie beugen. Im Endgericht über die Toten, von dem die Offenbarung in Kap. 20 spricht, wird es die große Scheidung geben. Dann werden die Toten nach ihren Werken beurteilt. Die im Lebensbuch stehen, kommen ins Leben und in Gottes Gemeinschaft. Die nicht im Lebensbuch stehen, kommen in die Gottesferne.

4.4       „Er wird Nachkommen haben, die ihm dienen“ (V. 31). Das ist die gewaltigste Horizonterweiterung. Gott selber wird dafür sorgen, dass der neuen Menschheit auf der neuen Erde seine Gerechtigkeit gepredigt wird. Es scheint, dass hier das erneuerte Israel in den Blick genommen wird. Es wird dann am Ziel seiner Bestimmung angekommen sein und als heiliges Priestervolk dafür sorgen, dass der Name Gottes überall verkündigt wird.

Im Licht des zweiten Teils von Ps 22 kann eine Antwort auf die Frage von V. 2 gefunden werden. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Antwort lautet: Gott musste im Kreuzigungsgeschehen seinen geliebten Sohn eine kurze Zeit verlassen. Er musste die Schuld aller Menschen aller Zeiten auf ihn legen und ihm so den Blick nehmen auf sich. Damit Gottes großer Heilsplan mit der Menschheit vorankommen konnte, musste sie erst mit ihm versöhnt werden. Das ist geschehen im Moment des Verlassens. Aber Jesus ist nach seinem Tod auferstanden. Nun sorgt er dafür, dass seinen Brüdern aus Israel und aller Welt Enden das Evangelium gepredigt wird. Er wird im Endgericht dafür Sorge tragen, dass auch viele, die aus dem Totenreich gekommen sind, Gott anbeten werden. Und er wird schließlich dafür Sorge tragen, dass auf der neuen Erde Gottes Gerechtigkeit Kind und Kindeskind verkündigt wird. So gibt der Auferstandene auf die Warumfrage, die er in Ps 22 eingangs gestellt hat, selber Antwort.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 3. April 2015 um 6:17 und abgelegt unter Predigten / Andachten.