Gemeindenetzwerk

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„Rosenheimer Erklärung“ der Evang.-luth. Kirche in Bayern vom April 1991

Freitag 26. November 2010 von Administrator


„Rosenheimer Erklärung
zum Schutz  des ungeborenen Lebens
und zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs“

Im April 2011 jährt sich zum 20. Mal die Verabschiedung der „Rosenheimer Erklärung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Schutz des ungeborenen Lebens und zu Fragen des Schwangerschafts-abbruchs“ (18. April 1991). Aus Anlaß dieses Jubiläums publiziert das Gemeindenetzwerk dieses schwer zugängliche Dokument. Es hat eine traurige Berühmtheit erlangt, weil es im Raum des deutschen Protestantismus die erste kirchenamtliche Erklärung war, die Frauen in sog. Konfliktsituationen die letzte Entscheidung über Tod und Leben ihres Kindes zubilligte und damit die „Selbstbestimmung“ über das Gebot Gottes stellte: „In Konfliktsituationen kann die letzte Entscheidung der betreffenden Frau von niemandem abgenommen werden; sie muß sie in ihrer Verantwortung vor Gott treffen.“ Die Synode scheute sich nicht festzustellen, dass der Entschluß zu einer Abtreibung eine „verantwortlich getroffene Entscheidung“ sein könne und für diese Entscheidung bereits im voraus die  vergebende Gnade Gottes zuzusprechen: „Eine verantwortlich getroffene Entscheidung schließt niemals aus, daß wir dabei schuldig werden. Gottes Vergebung will uns hier mitten in schwierigen Situationen neue Wege eröffnen.“ Der damalige Landesbischof Johannes Hanselmann hat sich geweigert, diese Erklärung zu unterschreiben. Ãœber ein Drittel der Synodalen hat ebenfalls die Zustimmung verweigert. Es ist tragisch und tief bedauerlich, dass die „Rosenheimer Erklärung“ bis heute nicht zurückgenommen wurde. 

April 1991

„Rosenheimer Erklärung der Landessynode zum Schutz des ungeborenen Lebens und zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs“

Angesichts der aktuellen Diskussion zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und über den Schutz des ungeborenen Lebens bekräftigt die Landessynode die Aussagen ihrer Memminger Erklärung „Zum Schwangerschaftsabbruch und zur Bewahrung des Lebens“ vom November 1986.

I
1. Gott will, daß menschliches Leben geschützt wird. Er vertraut uns das Leben an. Er traut uns darin zu, daß wir Verantwortung für eigenes und fremdes Leben in Achtung und Liebe übernehmen. Mitten in einer Welt von Konflikten und Gewalt, von Sünde und Schuld will Gott durch uns geborenes und ungeborenes menschliches Leben bewahren und schützen.

2. Uns ist es geboten, uns in allen Bereichen für den Schutz menschlichen Lebens einzusetzen und alles dafür zu tun, daß jedem menschlichen Leben in seiner unwandelbaren Würde eine menschenwürdige Zukunft eröffnet wird. Das nimmt die Christen und die Kirchen, die Gesellschaft und den Staat in die Verantwortung, für das Ja zum menschlichen Leben einzutreten, ungeborenes und geborenes Leben zu schützen und entsprechende Lebensbedingungen zu schaffen.

3. In unserer Gesellschaft erfährt solches Ja zum menschlichen Leben, auch einem Leben mit einer Behinderung, manchen Widerstand. Lebens- und kinderfeindliche Strukturen und Tendenzen, die sich auch gegenüber Menschen mit Behinderungen zeigen, (Lohnverhältnisse, wirtschaftliche Gegebenheiten, Situation am Arbeitsmarkt) erschweren oftmals ein verantwortliches und hoffnungsvolles Ja zum Kind. Familien und Alleinerziehende mit Kindern erscheinen mitunter als „unbequeme Nachbarn“ und erfahren Ablehnung. Reibungsloses Funktionieren ist mehr gefragt als die lebensnahe und oft spannungsvolle Orientierung am Kind. Persönliche Entfaltungsbedürfnisse treten in den Vordergrund. Wer für den Schutz allen ungeborenen und geborenen menschlichen Lebens eintritt, muß sich darum in besonderer Weise für die Veränderung dieser strukturellen Bedingungen und Tendenzen und für eine neue Einstellung zum Kind einsetzen.

4. Männer und Frauen sind gemeinsam verantwortlich für die Gestaltung von Sexualität, Partnerschaft und Ehe. Beide müssen wissen, daß Sexualität nur dann menschlich gestaltet wird, wenn die Partner sich nicht ausnutzen, sondern gegenseitig annehmen und gemeinsam die Partnerschaft gestalten und verantworten. Sexualität enthält zugleich die Möglichkeit der Entstehung neuen Lebens. Wer diese Möglichkeit und die damit im Zusammenhang stehende Notwendigkeit der Empfängnisverhütung außer acht läßt, handelt unverantwortlich. Es gibt Lebenssituationen, in denen der Verzicht auf ausgelebte Sexualität Ausdruck unserer Verantwortung ist. Schwangerschaftsabbruch darf kein Mittel der Geburtenregelung sein. Um Jugendliche zu einem verantwortlichen Umgang mit Sexualität und Liebe anzuleiten sind Eltern aufgerufen, ihren Kindern ein partnerschaftliches Miteinander vorzuleben. Rechtzeitig mit den Heranwachsenden über Sexualität und Empfängnisverhütung und deren verantwortliche Gestaltung zu reden, ist Aufgabe von Eltern, Schule und Kirche.

5. Jede Schwangerschaft ist ein die ganze Existenz einer Frau betreffendes Geschehen. Lebenssituation und Lebensperspektive werden durch die Schwangerschaft tiefgreifend verändert. Die Mutter und das in ihr wachsende Leben sind aufs engste miteinander verbunden. Darum sind die Mutter und das Leben des Kindes in jedem Fall zu schützen.

Das erfordert. daß Frauen in dieser Situation eine Perspektive in Familie und Beruf eröffnet wird (Chancen im Beruf, Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit, soziale Absicherung, gesellschaftliche Achtung und Anerkennung der Aufgabe der Erziehung).

Insbesondere sind auch die Männer an ihre Mitverantwortung für das werdende menschliche Leben, für Fürsorge und Erziehung, für die gemeinsame Übernahme von Aufgaben in Partnerschaft und Familien mit allem Nachdruck zu erinnern. Es geht nicht an, daß gerade in diesen Konfliktsituationen die moralische Verantwortung und die Lösung von Existenzfragen allein Frauen aufgebürdet wird und so tiefgreifende gesellschaftliche Probleme und Konflikte auf die einzelne betroffene Frau abgewälzt werden. Hier geht·es um Fragen, die alle betreffen und in denen alle in die Verantwortung gerufen sind.

6. Weil ungeborenes menschliches Leben geschützt und Mut zum Kind gemacht werden soll, bedarf es einer veränderten Einstellung zum Kind sowie Verbesserungen der Strukturen und konkreter Hilfe. Unabdingbar ist es, familienfreundliche Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Darum fördern wir die politisch Verantwortlichen auf, die Lebensbedingungen in unserem Staat so zu gestalten, daß sie nicht zum Anlaß für Überlegungen zum Schwangerschaftsabbruch werden, sondern das Ja zum·Leben und zum Kind stärken. Insbesondere die Kirche als Arbeitgeberin ist aufgefordert, in ihrem Bereich familien- und kinderfreundliche Arbeitsbedingungen zu schaffen und so ein Beispiel für eine lebensdienliche Gestaltung der Arbeitswelt zu geben. In Predigt und Gemeindearbeit ist klar und deutlich über die Einstellung zum Kind, die gesellschaftliche Situation, über verantwortliche Partnerschaft und die Freude am Kind zu sprechen. Denen, die in Not geraten sind und in Konflikten leben, soll in besonderer Weise die Zuwendung der Kirche gelten.

7. In ganz ausweglos erscheinenden Notlagen, in denen es zu einer Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch kommt, ist es dem christlichen Glauben nicht angemessen, mit einseitigen Schuldzuweisungen zu reagieren. Auch wenn der Schutz menschlichen Lebens bleibendes Gebot Gottes ist, sollen und dürfen wir in solchen Krisen- und Konfliktsituationen die Betroffenen·nicht allein lassen. Sie bedürfen unseres Beistandes und unserer Hilfe. Eine verantwortlich getroffene Entscheidung schließt niemals aus, daß wir dabei schuldig werden. Gottes Vergebung will uns hier mitten in schwierigen Situationen neue Wege eröffnen.

II
Aus christlicher Verantwortung setzen wir uns in der aktuellen Diskussion für folgende Grundsätze und Vorschläge ein. Dabei ist es auch Absicht dieser Vorschläge, eine kirchliche Entscheidungshilfe für die anstehende neue Rechtssetzung in diesem Problembereich für alle Bundesländer zu bieten.

1. Die Frau und das in ihr wachsende Leben sind aufs engste miteinander verbunden. Deshalb kann werdendes menschliches Leben nur geschützt werden mit der Frau, die das werdende Kind annimmt, sich mit ihrer ganzen Existenz für das Kind einsetzt, es nährt und ihm Zukunft gibt. In Konfliktsituationen kann die letzte Entscheidung der betroffenen Frau von niemandem abgenommen werden, sie muß sie in ihrer Verantwortung vor Gott treffen.

2. Eine Frau, die einen Abbruch erwägt, ist zur Teilnahme an einer Beratung durch eine staatlich anerkannte Beratungsstelle verpflichtet. In diesem Beratungsgespräch werden die Indikation und die Hilfsangebote erörtert. Dadurch wird der grundgesetzliche Auftrag, Leben zu schützen, in dieser Konfliktsituation so konkretisiert, daß der Staat das Recht auf Beratung nicht nur eröffnet, sondern zur Beratung verpflichtet. Aufgabe und Sinn einer solchen Beratung ist es nach evangelischem Verständnis:

– In der Situation des Konflikts, der Krise und des tiefgreifenden Umbruchs wesentliche und wirksame Entscheidungshilfen anzubieten,

– die Verantwortung vor Gott und seinem Gebot bewußt zu machen, den durch das Grundgesetz verbürgten Grundwert der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens ins Bewußtsein zu rufen, das Gewissen zu schärfen und damit die eigenständige Entscheidungsfindung zu stärken.

– das Recht auf Beratung zu wahren und die Möglichkeiten der materiellen und persönlichen Hilfen aufzuzeigen und zu eröffnen. Auch der Arzt/dieÄrztin, der/die in den Fragen der medizinischen und eugenischen Indikation sowie einer Notlagenindikation eine Frau berät, ist zu einem intensiven Beratungsgespräch verpflichtet und hat seine Entscheidung vor Gott zu verantworten.

3. Damit in der Beratung eine verantwortliche Gewissensentscheidung getroffen werden kann, ist uns wichtig:

Abtreibung ist Tötung menschlichen Lebens. Eine Schwangerschaft abzubrechen, ist ethisch nur gerechtfertigt,

– wenn eine Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährden wurde (medizinische Indikation).

Eine Abtreibung kann in jedem Fall nur ein letzter und auch immer mit Schuld aller Beteiligten verbundener Ausweg sein,

– wenn die schwangere Frau sich in einer aussichtslosen Notlage befindet, die die Fortsetzung der Schwangerschaft nach bestem willen und Prüfung des Gewissens nicht als zumutbar erscheinen läßt und die Notlage auf zumutbare Weise nicht beseitigt werden kann (Notlagenindikation). Strengste Maßstäbe sind hier anzulegen.

4. In einer solchen Konflikt- und Krisensituation sind in besonderer Weise die Männer gefordert, sich ihrer Mitverantwortung bewußt zu werden und sie wahrzunehmen. In ihrer Verantwortung für den Schutz der schwangeren Frau und das ungeborene menschliche Leben müssen Männer den Konflikt der Frau und ihre eigene Rolle in diesem Konflikt erkennen, sich zur Mitverantwortung für die Frau und das werdende Leben bekennen und bereit sein, die damit verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen. Wir treten dafür ein, daß – sofern die Frau es wünscht – der Mann zur Beratung hinzugezogen wird (Beratungspflicht für Männer).

Insgesamt ist in einer solchen Situation das soziale Umfeld (Eltern, Verwandte, Freunde und Freundinnen) in die Verantwortung für den Schutz der schwangeren Frau und des ungeborenen Lebens genommen. Konkrete Hilfe, Unterstützung, Ermutigung zu einer eigenständigen verantworteten Entscheidung sind unabdingbar.

5. Aufgrund der Teilnahme an der Beratung durch eine staatlich anerkannte Beratungsstelle wird eine Bescheinigung über die stattgefundene Beratung (Erörterung der Indikation, Nennung möglicher Hilfsangebote) ausgestellt. Ein Abbruch darf nur erfolgen bei Vorlage dieser Bescheinigung.

Ist die Feststellung einer Notlage maßgeblich, dürfen Beratung und Abbruch nicht durch dieselbe Person vollzogen werden.

Der Abbruch muß in geordneter medizinischer Form vorgenommen werden. ein Arzt hat das Recht, seinerseits aus religiösen und ethischen Gründen die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs abzulehnen.

6. Dem Sinn der hier vorgelegten Ausführungen entspricht es, daß die betreffenden gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch nicht mehr im Strafgesetzbuch, sondern in einem Gesetz zum Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens verankert werden.

Eine Handreichung zu den Kriterien der Beratung aus evangelischer Sicht wird erarbeitet.

III
Wer für das Ja zum Kind eintritt und die Freude am Kind wecken will, muß sich dafür einsetzen, daß entsprechende gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden, die Mutter und Kind, auch und gerade wenn das Kind behindert ist, Lebenschancen und eine Zukunftsperspektive eröffnen. Entsprechende frauen-, familien- und sozialpolitische Maßnahmen sind zu ergreifen. Es geht nicht nur um Hilfe im Konfliktfall, so notwendig sie ist, sondern um eine umfassende Verbesserung der gesellschaftlichen Strukturen. Die Möglichkeiten einer Familien- und Nachbarschaftshilfe sollen neu entdeckt und genutzt werden. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unsere Anregungen und Forderungen in der Synodalerklärung von Memmingen.

– kostengünstiger Zugang zu Verhütungsmitteln,

– die Bereitstellung erforderlicher Plätze in Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderhort,

– die Verlängerung von Erziehungszeiten und ihre Berücksichtigung bei der Altersversorgung,

Рdie Erh̦hung des Erziehungs- und Kindergeldes (kinderfreundliches Steuerrecht) ,

– die Verbesserung arbeitsrechtlicher Regelungen (Erhalt des Arbeitsplatzes, Hilfen zur Wiedereingliederung, variable und familienfreundliche Regelung und Ausgestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten),

– Erweiterung des Personals in den Beratungsstellen, damit längerfristige Beratung und Nachsorgeangebote möglich werden. Anzustreben ist, daß mehrere Beratungen stattfinden; qualifizierte Fortbildungs- und Supervisionsangebote sind erforderlich.

– Das Angebot von Pfarrerinnen und Pfarrern, die Frauen während der Konfliktsituation und nach einem Abbruch seelsorgerlich begleiten.

Wir fördern die Verantwortlichen in Kirche und Diakonie, in Politik und Wirtschaft auf, sich energisch für die Verwirklichung dieser Anliegen einzusetzen.

Kinder sind Geschenk, Zeichen des Lebens und der Hoffnung. Gott, der Liebhaber des Lebens, will, daß wir als Anwälte des Lebens für den Schutz des geborenen und ungeborenen menschlichen Lebens Alles uns Mögliche tun und so unseren Kindern eine Chance auf eine menschenwürdige Zukunft eröffnen.

Landessynode Rosenheim, April 1991 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 26. November 2010 um 6:25 und abgelegt unter Lebensrecht, Texte ohne Zustimmung des GNW.