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„Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Montag 29. November 2010 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

Predigt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“   

Predigt von Erzbischof Vanags im ökumenischen Gottesdienst zum 92 jährigen Gedächtnis der Ausrufung der Republik Lettland im Dom zu Riga am 18. November 2010.

„Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann;  man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“(Lukas 17, 20-21).

Am 18. November, dem Tag der Ausrufung der Republik Lettland, feiern wir unseren Staatsfeiertag.  Und so nennen wir ihn auch: „Staatsfeiertag,“  Aber weshalb feiern wir eigentlich den Staatsfeiertag?  Ist der Staat nicht eine ganz natürliche und unvermeidliche Realität?  Jeder Mensch wird in einem Staat geboren, lebt und stirbt dort. Gibt es bei einem Staat überhaupt etwas zu feiern? Viele Menschen feiern nicht den Staat, sondern leiden unter ihm und bekämpfen ihn sogar.

Alles wird durch das kleine Wort „unser“ verändert. Wir können den Staat feiern, wenn es unser Staat ist. Während der Freiheitskriege haben die lettischen Schützen für  ihren Staat gekämpft. Unsere bedeutenden Staatsmänner und Volkswirtschaftler haben unseren Staat errichtet. Den Verlust unseres Staates haben wir in den Jahren der Besatzung erlitten und in unseren Herzen die Hoffnung auf dessen Neuentstehung getragen. Für unseren Staat bildeten wir den Baltischen Weg und standen auf den Barrikaden. Selbst die Hockeyfans reisen um die ganze Welt, um mit der Einheit ihres Staates mitzufühlen. Niemand würde das für eine Mannschaft eines fremden Staates tun.

Weshalb ist es so wichtig, von unserem Staat zu sprechen? Weshalb sind Menschen sogar bereit, für dieses kleine Wort ihr Leben in die Waagschale zu werfen? Nur mit dem Verstand kann man das nicht erklären, denn dabei ist in erster Linie nicht vom Geld, von der Macht oder von der Volkszugehörigkeit die Rede, sondern von der Beziehung zwischen den Menschen. Die Hauptsache dabei ist die Überzeugung, dass es sich in unserem Staat am besten leben lässt. Dort geschieht alles in unserem, und nicht im Sinn der Fremden. Wir alle stehen für die Unseren ein, nicht wahr? Das Wesentliche, was Menschen von ihrem Staat erwarten, ist dessen Beziehung zu uns und die Beziehung der Menschen zueinander – die Beziehungen der Ihren und nicht der Fremden zueinander. Und in diesem Sinne stimmen die Hoffnungen der Menschen mit den Träumen Gottes überein.

Auch Gott hat Träume. Wenn er irgendeinen Gegenstand oder den Menschen erschafft, wenn er einem Volk seinen Staat mit seinen Grenzen schenkt, dann hat er einen Traum von unserem Leben und unserer Gesellschaft die er uns geschenkt hat, damit wir in ihr leben. Er hat auch einen Traum von Lettland. Wie sollte dieses Land sein? Einfach gesagt, ein Land, in dem sich der Mensch unter seinesgleichen fühlt. Was ist notwendig, damit wir diesen Traum Gottes Wirklichkeit werden lassen können? Ich möchte sagen, mehr als alles andere – christliche Werte.

Bereits bei dem Aussprechen dieser Worte weiß ich, dass viele ihr Gesicht verziehen werden. Die Phrase „christliche Werte“ hört man oft, und sie wird oft an der unpassenden Stelle benutzt. Was sind christliche Werte? Wenn ich diese Frage einem Passanten auf der Straße stellen würde, dann würde wohl  meistens die Antwort sein: „Hängt das wohl vor allem mit der Familie oder mit der sexuellen Orientierung zusammen?“  Meistens wird jemand das vielleicht in diesem Zusammenhang gehört haben. Ja, das sind wichtige Aspekte des Lebens. Über sie gibt es in der Bibel an mehreren Stellen sehr konkrete Aussagen. Es wäre nützlich, bei passender Gelegenheit einmal von ihnen zu sprechen. Aber beschränken sich christliche Werte wirklich nur darauf?

Was christliche Werte wirklich sind, das machten uns zwei Staatsmänner sehr belehrend deutlich. Der dritte Präsident der USA und der Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung Thomas Jefferson hätte aus seiner Bibel alle Stellen herausgeschnitten, die von Wundern sprechen, von allem Übernatürlichen, von Gott, der in der Geschichte und im Leben der Menschen wirkt. Als Deist glaubte er einfach nicht an solche Dinge. Nach dieser Operation hätte ein stärkerer Wind die Bibel einfach vom Tisch blasen können – so leicht ist sie geworden. Der zweite Staatsmann, der frühere australische Premier und heutige Außenminister Kevin Rad berichtet, dass er auch in unseren Tagen Zeuge eines ähnlichen Experimentes gewesen sei, wo einer seiner Freunde es sich vorgenommen hätte, aus der Bibel alle Aufrufe und Befehle Gottes herauszuschneiden, die von sozialer Gerechtigkeit sprechen. Er setzte sich hin und schnitt, und schnitt und schnitt, und das Ergebnis war fast das Gleiche – durch alle Löcher in der Bibel konnte der Wind hindurchwehen. Aus den vielen Löchern der beiden Bibeln kann man sehr deutlich erkennen, was christliche Werte sind:

Das Leben vor Gott, der lebendig und leibhaftig da ist, der hier und jetzt zugegen ist.       

Alles, was wir denken, reden und tun, das tun wir vor Seinen Augen. Ihm gegenüber sind wir verantwortlich und Ihm müssen wir eines Tages Rechenschaft geben. Und das ist ein solcher Gott, der ohne Unterlass durch die Seiten der Heiligen Schrift aus dem Munde der Propheten und Apostel aufruft, auffordert, befiehlt, sich um die Witwen und Waisen zu sorgen, und es verbietet, die Ecken der Ackerfelder abzumähen, damit für die Armen und Fremdlinge etwas übrig bliebe, was sie für sich aufsammeln könnten. „Wenn ein Bruder oder eine Schwester Mangel hat an Kleidung und an der täglichen Nahrung, und jemand unter euch spräche zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gäbet  ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat – was könnte ihnen das helfen? So ist der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selbst.“

Darüber hat Gott nicht nur viel „durch die Propheten und Väter“ geredet, sondern ist auch gekommen und hat selbst nach Seinen Worten gehandelt. Was christliche Werte bedeuten, kann man am besten an der Person und am Leben  Jesu Christi erkennen.

Wir haben bei der Lesung des Predigttextes im Evangelium nach Lukas ein Gespräch Jesu mit den Pharisäern gehört. Das fand zu der Zeit statt, als das Volk sehnsuchtsvoll das Kommen des Messias erwartete, wodurch er ihr Reich erneuern würde. Die Leute hatten sehr verschiedene Vorstellungen von dem, wie er kommen müsste – vielleicht sollte er wie ein Engel vom Himmel herabfliegen, vielleicht sollte er wie ein König mit einem Heer vor den Toren Jerusalems eintreffen und die fremden Besatzer und Unterdrücker vertreiben und ein Reich des Wohlstandes gründen, in dem Gottes Gerechtigkeit herrscht. „Wann kommt das Reich Gottes?“ fragen die Leute Jesus. Aus ihrer Frage können wir heraushören, dass das irgendwann in der Zukunft geschehen sollte.

Erinnert das uns nicht auch an unsere Gegenwart? Auch wir hoffen immer wieder von neuem, und ganz besonders angesichts bevorstehender Wahlen, dass wir dieses Mal alles weiser und besser machen würden, und dass wir endlich unseren Staat haben werden. Viel mehr als einmal haben wir auf jemand wie den Messias mit einer strengen Hand und einem aufrichtigen Herzen gewartet, der ein Reich des Wohlstandes errichten wird, in dem wir mit denen, die zu uns gehören, gemeinsam leben werden. Und mit der gleichen Regelmäßigkeit haben wir alle, die wir mit messianischen Erwartungen begrüßt haben, nach wenigen Jahren mit Verbitterung verabschiedet. Weshalb geschieht das so mit uns? Haben wir da etwas falsch gemacht? Haben wir da etwas falsch verstanden?

Wenn wir das Neue Testament aufschlagen, dann überrascht es uns, dass Jesus es seinen Jüngern recht lange untersagt, von ihm als vom Messias zu reden. Nicht deshalb, weil er es nicht wäre, sondern weil er mit den Füßen in die Luft die Vorstellungen der Leute darüber, wie der Messias  und wie das neu zu errichtende Reich sein müsste, in das Gegenteil verkehrt. Oder sollte ich lieber sagen – diejenigen, die bisher mit den Füßen in die Luft gelebt haben, dreht er richtig um, so, dass sie wieder ihren Kopf oben haben?

Das Himmelreich brauchte sich nicht von oben oder von außen her niederzulassen und der Messias brauchte nicht an der Spitze einer Armee einzuziehen. Das Reich, in dem Gottes Gerechtigkeit herrscht und in dem die Menschen mit den Ihrigen zusammenleben, musste in einem Ort aus dem, was dort war, heranwachsen: aus den Geringen und Armen in einem kleinen Dorf in Galiläa, aus den Sündern, Verstoßenen und Verlorenen. Das war das Material, aus dem vor Ort das erwartete Reich, das Reich Gottes zu wachsen beginnen sollte. Doch dort gab es auch noch Andere – bestechliche Zollbeamte, ordentliche und ehrliche Männer der Regierung, sogar einen Offizier der Besatzer. Mit einem Wort gesagt, gab es dort einen Querschnitt durch die Gesellschaft, die unterschiedlichsten Leute, und in ihrer Mitte Jesus und seine Jünger. „ Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und in seinen Garten säte, und es wuchs und wurde ein Baum und die Vögel des Himmels wohnten in seinen Zweigen.“ (Lukas 13,19)

Jesus war sich seines besonderen Auftrages und seines besonderen Status wohl bewusst. Er wusste, dass Er das Senfkorn war, von dem aus alles zu keimen und zu wachsen beginnt und zu einem großen Baum heranwächst, in dessen Zweigen sich die Vögel ihre Nester bauen. Doch er ermahnte seine Jünger, dass sie ihn nicht Christus nennen sollten, bevor sich das Bewusstsein der Menschen verändert hätte. Sie sahen in Gott einen wohlwollenden Diktator, der eines Tages kommen und alle nach ihrem Verdienst belohnen würde. Hätten die Jünger Jesus Messias genannt, dann hätten die Menschen erwartet, dass er mit einer großen Armee eintreffen und einen Kampf beginnen, und in dem er alle seine Gegner besiegen würde und Gottes Gesetz mit der Hilfe des Schwertes zur Geltung brächte. Jesus sieht Gott ganz anders – als liebenden Vater, der täglich am Ende des Weges steht und auf die Rückkehr seines verlorenen Sohnes wartet, um ihn in seine Arme zu nehmen und ihm zu vergeben, ihm den Schlamm der Sünde der Vergangenheit abzuwaschen, ihn in seine Familie hineinzuführen und ihn als einen der Seinen an den Tisch zu setzen. Deshalb sieht Jesus den Messias völlig anders als die Leute es erwarten. Ein Herrscher hätte einmal vor einer Schlacht auf folgende Weise seine Soldaten angesprochen:  „In diesem Kampf  werden viele von euch ihr Leben lassen, und das ist ein Opfer, das zu tragen ich bereit bin.“ Christus ist nicht ein solcher Herrscher Statt an seiner Statt einen anderen zu opfern, opfert er sich selbst am Kreuz für andere, um mit seinem Leben die Schuld der Sünde derer auszulösen, durch die das Reich Gottes entsteht und wächst.. Um alle diejenigen, die nicht nur gesündigt, sondern sich auch aneinander versündigt haben, aneinander schuldig geworden sind und sich gegenseitig erzürnt haben, an einem Tisch zu versammeln in einer Familie, und diese so verschiedenen und oft einander widersprechenden Leute zu den Seinigen zu machen.

Dadurch erschafft Christus eine völlig andere politische Kultur. Ja, er ist der Leiter, ihm gehört alle Macht im Himmel und auf Erden., doch er möchte diese dadurch ausüben, dass er dient, leidet und für sein Volk stirbt. Jesus formuliert das sehr radikal: „Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, doch wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ Mit anderen Worten: wenn wir nicht bereit sind, unser Leben anderen hinzugeben, sondern nur sich selbst zu leben, der ist für Gottes Reich bereits tot. Doch wenn wir bereit sind, unser Leben anderen zu geben, dann  leben wir wirklich.  Auf diese Weise führt Jesus ein völlig neues Wertesystem ein. Und wenn wir von den „christlichen Werten reden“, dann reden wir genau darüber.

Man könnte aber auch meinen, dass wir, wenn wir von den christlichen Werten sprechen, auch ganz sicher von der Familie sprechen können. Wenn wir von der Familie sprechen, dann kann daran nichts falsch sein. Wenn wir die Familie lieben und für die Kinder sorgen, dann entspricht das doch hundertprozentig den  christlichen Werten, nicht wahr? Und dennoch ist die Sache nicht so einfach. Bei Markus 3 lesen wir von einem Geschehen, in dem Jesus gemeldet wird: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.“ Und er antwortete ihnen und sprach: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder. Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“  Im Wertesystem Christi ist die Familie mehr als das Häuflein von Blutsverwandten. Für Jesus ist die Familie vielleicht nicht die ganze Menschheit, sondern die Kinder des himmlischen Vaters, die einander lieben. Im christlichen  Wertesystem kannst du deine blutsverwandte Familie nicht höher stellen alsdie ganze übrige Gemeinschaft, zu der du gehörst. Bei der Errichtung des Reiches Gottes sieht Jesus sie als eine große Familie, in der sich die Menschen als zueinander gehörend betrachten. Wenn jemand zum Beispiel seine Kinder so sehr liebt, dass er auf ihre Konten das überweist, was  er anderen vorenthalten hat, dann handelt er nicht nach den Grundsätzen der Werte einer christlichen  Familie, sondern gegen sie.

Eins der wesentlichen Kennzeichen für eine Familie ist, dass sie sich um den Tisch versammelt. Unter seinen Nachfolgern gründete Jesus das Mahl der Agape, bei dem sie sich alle um einen Tisch versammelten. Jeder brachte mit, was er zur Hand hatte. Die Wohlhabenderen brachten viel, die Ärmeren brachten weniger mit. Doch vor allem achtete man darauf, dass alle gesättigt fort gingen. Auch hierbei ist Jesus sehr radikal. Nach der Auffassung der damaligen Zeit (und nicht nur damals) waren die Reichen diejenigen, die Gott gesegnet hatte, während die Armut ein Zeichen dafür war, dass Gott mit ihnen nicht zufrieden war. Doch Jesus hatte sich dafür entschieden, einer zu sein, der nicht einmal etwas hatte, auf das er sein Haupt hinlegen konnte. Er sagte: „Selig seid ihr Armen, denn euer ist das Himmelreich.“ Er sagt: „Wehe euch, ihr Reichen, die ihr jetzt sattgegessen seid, denn ihr werdet Hunger leiden.“ Das bedeutet nicht, dass es gut sei, in Armut und Verzweiflung zu leben. Das bedeutet auch nicht, dass Gott reiche Menschen mehr lieben würde als arme und sie deshalb ausschlösse. Gott liebt alle Menschen und lädt jeden ein. Jesus ist auch nicht über die Reichen erzürnt, sondern um sie besorgt, weil es ihnen so schwer fällt, das, was sie haben, mit anderen zu teilen. In der heutigen Welt können wir dasselbe beobachten, was Jesus im Tempel am Opferstock gesehen hatte. Arme Leute sind freigiebiger und spenden von ihrem Einkommen prozentual einen größeren Teil als die Reichen. Deshalb sorgt sich Jesus um die Reichen, dass sie es schwer haben werden, um im Reiche Gottes leben zu können. „Wie schwer ist es für einen Reichen, in das Reich Gottes einzugehen.“  Denn das Teilen mit anderen ist einer der ersten christlichen Werte.

Wir können dazu bemerken, dass Jesu Auffassung vom Reich Gottes sich sehr von der Auffassung der Leute unterschied, auch aus zeitlicher Sicht. Sie fragten ihn, wann es kommen würde. Das war für sie ein Geschehen in der Zukunft. Jesus sagte: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Vielleicht als kleines Senfkorn, das aber wachsen muss, hier und heute.

Wir feiern heute den 92. Jahrestag des Bestehens unseres Lettlands. Fast 20 Jahre sind vergangen, seitdem wir die Wiederkehr unserer Unabhängigkeit erleben konnten. Wie weit ist das Pflänzchen des Reiches Gottes in unserer Mitte herangewachsen? Wie geht es ihm bei uns?  Wie fühlen wir uns selbst? Empfinden wir Lettland als unseren Staat, in dem wir unsere Beziehungen wie zu den Unseren pflegen und nicht wie zu Fremden? Während der Zeit des nationalen Erwachens waren diese Beziehungen sehr lebendig, Wie sind sie jetzt? Sehr verschieden.

Als ich die Letten in Irland besuchte, begegnete ich solchen, die sich völlig gewiss waren, dass sie in unsere Heimat zurückkehren würden. Aber es waren mindestens ebenso viele, die sich genau so sicher waren, dass sie nie mehr zurückkehren möchten. Und als ich sie nach dem Warum fragte, war ihre Antwort immer die gleiche, und dabei ging es nicht um das Geld. „Dort verhielt man sich gegenüber uns nicht wie zu den eigenen Leuten. Hier empfinden wir es viel eher, dass wir in unserem eigenen Staat leben.“, sagten sie. Eine der am meisten Sorge machenden Realitäten ist die Bereitschaft so vieler Menschen in Lettland, wegzufahren. Sogar Auf Nimmer Wiedersehen. Und auch unter denen, die bleiben möchten, gibt es viel Pessimismus, Verbitterung und Enttäuschung. Manches Mal scheint es, dass der einzige vorhandene Patriotismus noch darin besteht, die Leute mit einer anderen Volkszugehörigkeit nicht zu bemerken.                                                                                 

Natürlich ist das nur ein Aspekt. In Lettland gibt es viel hervorragendes, vieles, auf das wir stolz sein können, viele großartige und wirklich uneigennützige Menschen mit dem Empfinden eines echten Patriotismus. Und dennoch ist im Hintergrund die Resignation und der Zorn so laut geworden, dass wir sie nicht unbeachtet lassen dürfen. Besonders weil das Reich Gottes, nach dessen Prinzipien zu leben Christus uns bereits jetzt aufruft, uns, die wir uns Kinder Gottes nennen, die einander lieben. Deshalb schließt sich derjenige, der hasst, selbst aus der Gemeinschaft der Familie aus, und die Familie zerfällt.

Wie sind wir dahin geraten? Welchen Werten sind wir nachgefolgt?  Haben wir das freie Lettland nach den Prinzipien der Ideologie der Gesellschaft der Verbraucher errichtet, bei welcher der Wert eines Menschen  nicht dadurch bestimmt wird, dass er ein Kind Gottes ist, sondern dadurch, dass er zu produzieren und zu verbrauchen, anzusammeln und auszugeben vermag, und wo die Konkurrenzfähigkeit für die höchste menschliche Qualität gehalten wird? Was kann da herauskommen?

Daran musste ich denken, als ich einmal  in einem Lebensmittelgeschäft Eier einkaufte. Natürlich wählte ich dabei die billigsten aus. Als ich sie zu Hause auspackte, fand ich auf der Verpackung eine Aufschrift, die wohl den niedrigen Preis erklären sollte:  Eier aus Käfighaltung.  Das rief mir die Fernsehbilder in die Erinnerung über die Hühnerfabriken mit in Brutapparaten zusammengedrückten Küken, die in Käfige umgesetzt werden, die sie nie wieder verlassen werden, ehe von ihnen alles verarbeitet worden ist, was verarbeitet werden konnte. Gebratene Eier, das Fleisch in der Pfanne, die Federn im Kissen. Die Reste vielleicht als Futter für wilde Tiere., ich weiß es nicht.  Sogar den Mist verkauft man Kleingärtnern als Dünger.. Als Gott die Hühner schuf, hatte er sicher auch einen Traum über deren Leben. Ganz gewiss nichts Großes, aber dennoch, dass es scharrend durch die Wiesen streift, Körner und Würmer aufpickt, Küken ausbrütet und diese in der Sonne spazieren führt. Das alles haben wir ihnen weggenommen. Sogar ihren Namen haben wir ihnen nicht mehr gelassen. In einer Zeitung las ich, dass das, was wir kaufen, keine Hühner seien, sondern ein Produkt mit der Nummer Ros-380.

Weshalb tun wir das? Ich nehme an, dass den meisten von uns diese Fakten aus dem Leben  der Hühner bekannt sind, wir uns aber dafür entschieden haben, darüber nicht weiter nachzudenken. Nicht deshalb, weil es uns gefällt, dass diese Hausvögel gequält werden, sondern weil wir sie brauchen und zu einem niedrigen Preis erwerben können. Viele unserer Mitmenschen haben keine Möglichkeit, sich anders zu verhalten und sich mit ethischen Überlegungen zu diesem Thema  zu befassen, weil sie selbst  wie die Hausvögel in einem Käfig zusammengezwängt leben müssen. Sie sind für einen Mindestlohn beschäftigt und müssen selbst auf diesen Monate lang warten, und oft warten sie sogar vergebens. Und wenn man ihnen alles weggenommen hat, was man nur wegnehmen konnte – die Krankenfürsorge und die Rente bewegen sich auf einem unbeschreiblich niedrigen Niveau, was dann?  Weshalb das alles? Weil ihre Arbeitgeber dafür sorgen müssen, dass alles zu einem niedrigen Preis verkauft werden kann. Das steigert ihre Konkurrenzfähigkeit. Deshalb nimmt man ihnen Gottes Traum von ihrem einmaligen und nicht wiederholbaren Leben weg. Man belässt ihnen nicht einmal ihren Namen. Einfach ein Armer. Auch die Arbeitgeber tun das sicher nicht bewusst in böser Absicht. Auch sie verspüren irgendeinen Druck von oben her – Steuern, Gesetze, unehrliche Konkurrenten, ungnädige Kreditgeber und vieles andere mehr. Die Befreiung beginnt oben. Derjenige, der noch nicht aus seinem eigenen Käfig befreit worden ist, kann auch nicht denjenigen aus seinem Käfig befreien, der ihm untergeben ist. Und so geht es uns allen  miteinander… Wir möchten gerne die Herren in unserem Lande sein und versäumen es dabei, unseren wahren Herrn zum Vorbild zu nehmen, der gekommen ist, uns zu befreien und uns zu dienen, und uns nicht einzusperren und zu versklaven. Unseren wahren Herrn Jesus Christus.

Wie brauchen wirklich die christlichen Werte – aus der ganzen Bibel und nicht aus der zusammengeschnitten und leeren Bibel. Wir brauchen die Werte, die Menschen als Kinder des himmlischen Vaters am Tisch zusammenführen, und die einander lieben, die sich um das Schicksal des Nächsten Sorgen machen, die sich in das Ergehen des Nächsten hineinversetzen können, die einander helfen und unterstützen und das, was sie haben, miteinander teilen.      

Vor Kurzem waren wir Zeugen eines langen und komplizierten Weges bis zur Bildung einer Koalition und dem Abschluss eines Koalitionsvertrages. Dazu können wir die führenden Vertreter unseres Staates beglückwünschen. Das gehört zu einem politischen Prozess. Doch ein Koalitionsvertrag ist einfach ein Übereinkommen darüber, wie die politischen Kräfte  die die Verantwortung, den Einfluss und die Mittel untereinander verteilen. Wir brauchen etwas, was viel mehr bedeutet und  viel schwerer wiegt. Wir brauchen ein Vermächtnis, ein Testament. Ein Testament geht viel tiefer als Verträge. Jetzt braucht unser Staat ein neues Vermächtnis, das etwas über die Verhältnisse aussagt, in denen Menschen, frei von allem Misstrauen und allen Ängsten einander Gottes Traum über ihr Leben nicht wegnehmen, und über die Verhältnisse, die es uns ermöglichen, Lettland als unseren Staat zu erleben, für den zu kämpfen, den zu erbauen und den zu feiern wir bereit sind..

Die frohe Botschaft ist, dass wir alles haben, um das zu erreichen. Wir haben ein wundervolles Land und das Meer und eine freundliche und liebliche Natur. Wir haben großartige, begabte, gebildete und fähige Menschen. Wir haben äußere Sicherheit an unseren Grenzen. Wir haben das Evangelium von Christus. Christus selbst ist seit vielen Jahrhunderten mitten unter uns. Wir haben sogar einen freien Staat, und damit ein Privileg, auf das viele Völker noch verzichten müssen. Es bleibt uns nur noch die Arbeit, die wir tun müssen, um das alles für uns alle zu erreichen. Wirklich für uns alle.

Wann kommt das Reich Gottes?  Wo ist es?  Es ist schon hier. Es ist mitten unter euch. Oder ist es das nicht?  Das, was wir besiegen und verändern müssen, befindet sich nicht so sehr auf unseren Bankkonten, sondern bei uns selbst, in unseren Köpfen und unseren Herzen. Ich bin mir dessen wohl bewusst, dass das nicht so einfach ist, wie man es auch von kirchlicher Seite hören konnte: geben wir den Menschen die Zehn Gebote zu lesen, dann werden sie sich auch sittlich verhalten. So einfach funktioniert es nicht, auch nicht in der Kirche. Aber seien wir ehrlich – dasselbe können wir auch über den Ethikunterricht sagen. Von dem, dass man den Menschen etwas über Ethik erzählt, werden sie noch nicht zu sittlichen Persönlichkeiten. Der Mensch allein vermag es bei sich eine innere Veränderung zu bewirken, die zu neuen Beziehungen führt. Doch die Erfahrung vieler Jahrhunderte und vieler Tausend Menschen bekunden, dass der persönliche und lebendige Christus es vermag. Das Herz empfindet die Sehnsucht, ihn näher kennen zu lernen, um ihn vollkommener zu lieben und ihm in der Nachfolge näher zu sein. Es wünscht sich, wie er zu leben und ihm immer ähnlicher zu werden.

Ich weiß, was man mir sagen wird. Die Kirche ist vom Staat getrennt. Man sollte das als Wahlfach unterrichten. Man sollte das in den Familien unterrichten. Wir erkennen sofort, dass das nicht ganz ehrlich ist, denn 50 Jahre lang wurde alles getan, um den Familien das Wissen und die Fähigkeiten zu nehmen, um das zu tun. Darüber brauchen  wir nicht miteinander zu streiten. Wen jemand einen guten Gedanken hat, wie man unsere Seelen verändern und erleuchten kann, der halte sein Licht nicht unter dem Scheffel. Denn die Zeit ist fortgeschritten und der Bedarf ist groß.  Doch jetzt lasst uns hören, was Christus sagt: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir.“ Gebe Gott, dass wir das hören und uns dem öffnen, und das wir den 18. November einst feiern können werden als unseren Staatsfeiertag an Seinem Tisch als Glieder eines Leibes.

Predigt von Erzbischof Vanags im ökumenischen Gottesdienst zum 92 jährigen Gedächtnis der Ausrufung der Republik Lettland im Dom zu Riga am 18. November 2010.

Ãœbersetzung aus dem Lettischen: Johannes Baumann

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 29. November 2010 um 17:55 und abgelegt unter Christentum weltweit, Predigten / Andachten.