Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

„Gemeinschaft der Heiligen“. Theologische Thesen zur Corona-Krise (2020)

Donnerstag 30. November 2023 von Pastor Dr. Stefan Felber


Pastor Dr. Stefan Felber

Zur Erinnerung an eine Erstveröffentlichung: Aufbruch 2/Nov. 2020, S. 15–16 (geringfügig verändert).

 

Wenige grundlegende Zitate vorab

„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit …“ (Joh 1,14).

„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20)

„Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“
            (Confessio Augustana, Art. 7)

„Die Gemeinschaft der Christen ist eine zweifache: die eine ist innerlich und geistlich, die andere ist äußerlich und leiblich.“
            (Martin Luther, Sermon über die Kraft der Exkommunikation, 1518)

„Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“
            (Barmer Theologische Erklärung, 1934, Nr. 5)

 

 

THESEN

  1. Die Heilige Schrift hat auch in der Frage, wie sich Christen und Kirchen bei Seuchen verhalten sollen, die höchste Autorität.
  2. Technische Aspekte sind demgegenüber zweitrangig.
  3. Gleiches gilt für den christlichen Gehorsam gegenüber dem Staat und das christliche Vertrauen in die Wohlbegründetheit seiner Maßnahmen.
  4. Wollen wir Gewißheit darüber erlangen, was wir tun sollen, so müssen wir also von dem aus denken, worin laut der Heiligen Schrift das Wesen von Kirche und Staat besteht.
  1. Die Kirche ist die Versammlung von Menschen im Namen und in der Gegenwart Jesu Christi (Mt 18,20).
  2. Daß dieses Versammeltwerden nur in virtueller, nicht in leiblicher Anwesenheit geschieht, war für Propheten und Apostel nicht denkbar.
  3. Das liegt nicht nur am damaligen Stand der Technik, sondern auch daran, daß der vom leiblich gesprochenen und gehörten Gotteswort geschaffene geistliche Raum ein echter, unmittelbarer ist, während der virtuelle Raum selbst bei perfekter Nachbildung (z.B. mit VR-Brillen) ein sekundärer, künstlicher bleiben wird.
  4. Virtuelle Gemeinschaft wird also an Qualität und Dauer niemals an leibliche Gegenwart heranreichen, wie der Vergleich zwischen einer Unterschriftensammlung im Internet mit einer Straßendemonstration mit je z.B. 100.000 Unterzeichnern bzw. Teilnehmern beweist.
  5. Einen Predigtgottesdienst oder eine Gebetsgemeinschaft nur virtuell abzuhalten, ist besser, als ganz darauf zu verzichten.
  6. Virtuelle Seelsorge untersteht wegen der allzeit möglichen Überwachung einem hohen Risiko; es setzt ein hohes Vertrauen in die Privatheit der benutzten Technik voraus, das leicht enttäuscht werden kann.
  7. Ein über das Internet dargereichtes Abendmahl ist aus lutherischer wie römisch-katholischer Sicht nicht möglich, denn ihm fehlt die stiftungsgemäße Einsetzung.
  8. Die Gewißheit, das Abendmahl zum Heil zu empfangen, ist an die stiftungsgemäße Darreichung gekoppelt.
  9. Das Laienkelchverbot war ein Symbol der römischen Priesterherrschaft. Dagegen ist nach dem lutherischen Bekenntnis (CA 22 und Schmalkaldische Artikel, dort markant) die Darreichung des Abendmahls in beiderlei Gestalt „ein klarer Befehl und Gebot Christi“ (mit Hinweis auf Mt 26 und 1. Kor 11). Jan Hus ging dafür 1415 auf den Scheiterhaufen.
  10. Noch schlimmer fällt die Ansicht hinter die Reformation zurück, die meint, die Gemeinde könne ja „innerlich mitfeiern“, während der Pfarrer sich am Alter speist. Ein „theologiefreier Rückfall ins mittelalterliche Winkelmessetum“ (Gert Kelter)!
  11. Wort- und Sakramentsgottesdienste in Privatwohnungen sind möglich (Apg 2,46), aber solange zu vermeiden, wie der gemeinsame Gottesdienstraum zur Verfügung steht und Gläubige unter Leitung eines Ordinierten zusammenkommen können. Das Abendmahl nur in einer Gestalt oder unter Ausschluß anderer Glieder der Gemeinde zu feiern (z.B. als Frauenkreis), soll unterbleiben. Mit Luther ist überall dort zum Sakramentsverzicht zu raten, wo gegen die Ordnung Christi gehandelt wird.
  12. Da bei einer virtuellen Taufe kein Wasser fließen kann, kann sie auch nicht durchgeführt werden. Wer es dennoch versucht, behauptet es nur – eine ungeistliche Erschleichung des Sakraments, ohne Gottes Segen, aber unter seinem Gericht.
  1. Der Staat ist Gottes Einrichtung, in einer gefallenen Welt äußerlich Recht und Frieden aufrecht zu erhalten (Barmen Nr. 5).
  2. Dabei ist ihm vorgegeben, was gut und böse ist, und nicht aufgetragen, dies selbst zu definieren (Röm 13).
  3. Der Staat hat im Kern den Auftrag, für Recht und Frieden zu sorgen. Gesundheitsvorsorge, speziell Seuchenschutz, sollte gegenüber der Sicherung der Grundrechte nachrangig behandelt werden.
  4. In einer Zeit, in der immer mehr Kompetenzen an höhere (staatliche und zwischenstaatliche) Ebenen delegiert werden, besteht vielfach unbewußt eine säkularisierte Heilserwartung an den Staat, und so auch die Erwartung, durch staatliche Maßnahmen vor immer mehr Gefahren und Risiken geschützt zu werden.
  5. Erst vor diesem Hintergrund konnten in der sog. Corona-Krise freiheitseinschränkende Maßnahmen politisch durchgesetzt werden, die vor kurzem noch undenkbar waren, Selbstverständlichkeiten und Grundsätze relativiert oder außer Kraft gesetzt werden.
  6. In diesen Umbrüchen wird von Christen und Nichtchristen zu Recht ein kraftvolles, weil geistlich geschöpftes Wort der Kirchenleitungen erwartet.
  7. Diese Erwartung wurde 2020 weitgehend enttäuscht. Eine theologische Besinnung findet kaum statt in der Hoffnung, daß bald alles wieder so sein würde wie vorher.
  8. Die Grenze zwischen einem zeitweiligen und einem grundsätzlichen Verzicht auf Gottesdienst ist fließend. Auch ein vorläufiger Verzicht signalisiert: Es geht auch ohne!
  9. Ein auch nur temporäres staatliches Verbot von Gottesdiensten (Ostern 2020!) kann nicht statthaft sein, denn es hebt Kirche in ihrem Wesen als Versammlung der Gläubigen auf und überhöht die Kompetenz des Staates ins Dämonische.
  1. Kirche ist überall dort, wo das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden, „wenn ihr zusammenkommt“ (1. Kor 11,18+20).
  2. Daß es im Jahr 2020 eine Phase ohne Gottesdienste gab, ist ungeheuerlich; es ist ein Warnsignal, das wir nicht überhören dürfen, und das zu Gebet und Besinnung führen sollte.
  3. Daß Christen darüber uneins werden, inwieweit den staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen Folge zu leisten ist, liegt nicht nur an einer unterschiedlichen Einschätzung des Virus, sondern auch an einer verbreiteten geistlich-theologischen Unklarheit über das Wesen von Staat und Kirche bzw. an einem sehr verschieden ausgeprägten Vertrauen in die Angemessenheit und Vernünftigkeit staatlicher Maßnahmen.
  4. Die Versammlung zum gemeinsamen Hören der Stimme des Guten Hirten (in Schriftlesung und -auslegung) und zur Mahlfeier ist das heiligste und liebste Vorrecht der Christen. An der Freiheit der christlichen Versammlung findet der Staat eine unüberschreitbare Grenze, selbst auf die Gefahr für Leib und Leben hin.
  5. Daher werden sich die Gläubigen nur aufgrund ihrer Eigenverantwortung für sich und ihre Mitmenschen versammeln oder sich in kleinere Gruppen aufteilen. Dem Staat darf über das Ob und Wie von Gottesdienst (Gesang!) und Sakrament kein Vetorecht eingeräumt werden.
  6. Es wundert nicht, daß nach der Wiederaufnahme der Präsenzgottesdienste an vielen Orten weniger Besucher zu registrieren sind als vorher.
  7. Verallgemeinert gesprochen: Eine digitalisierte Kirche verliert den konkreten liturgischen Raum und damit insgesamt an Bedeutung.
  8. Dem entspricht, daß noch kein bekannter Prediger ausschließlich via Internet seinen Dienst aufnahm. Videos dieser Prediger zeigen stets, daß sie viele leiblich präsente Hörer haben.
  9. Darum sollte virtuelle Verkündigung nie anstatt, sondern allenfalls zusätzlich zum normalen Gottesdienst angeboten werden.
  1. Von diesen Überlegungen aus kann eine vorläufige theologie- und geistesgeschichtliche Einordnung unternommen werden.
  2. Der inkarnierte Gott kam leiblich in diese Welt, um für seine Gemeinde in Wort und Mahl hör- und schmeckbar zu werden (Joh 1,14).
  3. Ein in den digitalen Raum verlegter Gottesdienst ist ein entleiblichtes, spiritualisiertes Geschehen.
  4. Virtuell möglich sind Informationsübertragung bzw. die Erinnerung an einen leiblich gefeierten Gottesdienst. Doch die konkrete Einfügung in den Leib Christi bzw. die Heiligung durch den Leib Christi ist wesentlich erschwert.
  5. Der Neuplatonismus hatte dazu eingeladen, mit der Seele zu Gott aufzusteigen, anstatt ihm in den Gnadenmitteln als dem inkarnierten Gott hier auf dieser Erde zu begegnen.
  6. Diese Tendenzen begegnen auch bei einer digitalisierten Kirche. Die Folgen der Entleiblichung sind: Entsakramentalisierung, Vereinzelung der Gläubigen, Auflösung der Verbindlichkeit, Enttheologisierung bzw. Entwertung der Lehre, Aufgehen der lokalen Gemeinden in überregionalen Einheiten, letztlich ihre Auflösung.
  7. Daß die EKD gerade dieses Aufgehen fördert, belegen diverse Repliken auf die „11 Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ (2020).
  8. „Christus ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde“ (Kol 1,18). Eine Gemeinde, die nur virtuell als Ansammlung Einzelner existiert, wird im digitalen Strom aufgehen und nicht mehr Salz und Licht der Welt sein können.

Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 30. November 2023 um 17:51 und abgelegt unter Gemeinde, Gesellschaft / Politik, Kirche, Theologie.