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Eine Reformations-Revolution

Dienstag 21. November 2023 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

Die Experten der Kirchengeschichte werden wahrscheinlich nie aufhören ĂŒber die Bedeutung der Reformation zu diskutieren: War diese Bewegung der Erneuerung der Kirche ein eher sanfter Wandel oder ist etwas Radikaleres geschehen? Nur Reform oder auch Revolution? Die einen betonen die KontinuitĂ€t, die anderen die Neuerungen. Alle sind sich einig, dass die Reformatoren zu den Wurzeln zurĂŒckkehren und die Kirche von ihren Übeln reinigen wollten. Aber war das alles? War die Reformation lediglich eine Reinigung der Kirche, oder war sie auch das Werk eines Chirurgen, der ganze kranke Organe herausoperierte? Was sagt die Kirchen- und Kulturgeschichte dazu? Was hat sich wirklich nachhaltig verĂ€ndert?

Heute betont man gerne, dass Katholiken und Protestanten fast die gleichen Überzeugungen haben, ĂŒber grundlegende theologische SĂ€tze gleich denken und sich nur in einigen ihrer Schwerpunkte unterscheiden. Aber nicht alles lĂ€sst sich so einfach glattbĂŒgeln. TatsĂ€chlich sind die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten in mancher Hinsicht immer noch erheblich. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich verschiedene Kulturen entwickelt, die auf z.T. ganz unterschiedlichen Theologien beruhen. Blicken wir auf einen Bereich, in dem die Reformation deutliche Spuren des Bruchs hinterlassen hat: die Beziehung zu den Verstorbenen.

Die leidende Kirche im Fegefeuer

Was geschieht nach dem Tod? Was erwartet GlĂ€ubige nach dem irdischen Leben? Gibt es etwas zu befĂŒrchten? Solche Fragen haben die Menschen seit jeher umgetrieben, auch zu Beginn der Reformation. Schon bald trennten sich die Wege der Kirchen wegen der unterschiedlichen Antworten. Bis heute stimmen die evangelischen und katholischen Ansichten ĂŒber das Jenseits nur in Teilen ĂŒberein.

Davon kann man sich im katholisch geprĂ€gten Litauen regelmĂ€ĂŸig ĂŒberzeugen. Als Beispiel sei eine Predigt von Erzbischofs Gintaras GruĆĄas genannt, die er vor einigen Jahren am 1. November, also zu Allerheiligen, hielt. Auf dem Antakalnis-Friedhof von Vilnius nannte der Erzbischof der Stadt ganz richtig die Herausforderungen einer in der Nachfolge Christi „pilgernden Kirche“ und unterschied von ihr die „triumphierende Kirche, alle Heiligen im Himmel“. Allerdings schob er zwischen beide „die leidende Kirche“: „alle Seelen im Fegefeuer“. Nach dem Tod muss die ĂŒberwiegende Mehrheit der GlĂ€ubigen noch eine Zeit lang im Fegefeuer gereinigt werden, was auch ein schmerzhafter Prozess ist.

Die Evangelischen lehnen dies eindeutig ab: Die pilgernde, auf Erden wandernde Kirche ist die leidende Kirche. Das ganze christliche Leben auf dieser Erde ist auch von Leiden um Christi willen geprĂ€gt. Nach dem Tod wird es fĂŒr die GlĂ€ubigen kein Leiden mehr geben.

Der Erzbischof forderte in der Ansprache auf, „fĂŒr die Toten zu beten – dies hilft ihnen, ihr Ziel schneller zu erreichen. Denjenigen, die an der Pforte des Himmels stehen, aber darunter leiden, dass sie nicht hineingehen können, hilft unser Gebet: ihre Seelen werden schneller gereinigt, und so können sie das Hochzeitskleid frĂŒher anziehen, das sie in der Taufe erhalten haben.“ Evangelische sind ĂŒberzeugt, dass dies so nicht wahr ist. Einem Toten kann niemand mehr helfen, unsere Gebete sind weder hilfreich noch notwendig. Die evangelischen Kirchen lehren, dass die Seelen der AuserwĂ€hlten nach dem Tod nicht in den „Vorhallen des Himmels“ oder sonstwo festsitzen, sondern sofort bei Gott seien werden, weil sie dann schon völlig rein sind.

Die katholische Kirche lehrt, dass die Lebenden den Toten helfen können, und dass einige der Toten – die Heiligen und Maria, die bereits „im Himmel angekommen“ sind – den Lebenden auf der Erde Dienste erweisen. Deshalb rief GruĆĄas zum Gebet um die „FĂŒrbitte der Heiligen“ auf.

Solche Predigten und Reden und vor allem das Verhalten der allermeisten Litauer zu Beginn eines jeden Novembers, wenn das ganze Land auf die Friedhöfe strömt, zeigen, dass die Reformation noch lange nicht vorbei ist. Nach evangelischer Auffassung sind die Toten ein fĂŒr allemal tot, und wir, die Lebenden, können nichts tun, um ihnen zu helfen (siehe z. B. 2 Sam 12,22-23). Wenn sie in diesem Leben geglaubt haben, sind sie bei Gott; wenn sie nicht geglaubt haben, mĂŒssen wir davon ausgehen, dass sie verloren sind. Sie können nicht von den Lebenden beeinflusst werden, und umgekehrt gilt das gleiche.

„Ein ĂŒberreicher Austausch“

Martin Luther stellte dies in seinen Tischreden klar: „Gott hat uns in seinem Wort zwei Wege aufgezeigt: den einen, der durch den Glauben zum Heil, und den anderen, der durch den Unglauben zum Verderben fĂŒhrt. Vom Fegefeuer ist dort nicht die Rede, und das Fegefeuer kann hier auch nicht erwĂ€hnt werden, weil es die Gnade Christi schmĂ€lert und verdunkelt.“ Die Lehre der Reformation versetzte dem damals etablierten Totenkult einen schweren Schlag, indem sie seine Riten und Traditionen radikal verwarf.

Seit dem Mittelalter bis heute ist demgegenĂŒber einer der Eckpfeiler der römisch-katholischen Theologie und Frömmigkeit, dass die Toten und die Lebenden sich gegenseitig beeinflussen. Die Angst vor dem Leben nach dem Tod mag zu Luthers Zeiten viel grĂ¶ĂŸer gewesen sein als heute, aber der allgemeine Glaube, dass die Lebenden und die Toten irgendwie ein großes ‘Team’ sind, galt damals wie heute.

Der Katechismus der Katholischen Kirche bestĂ€tigt dies: In der „Gemeinschaft der Heiligen“, sei es im Himmel, auf der Erde oder im Fegefeuer, besteht „in der Tat ein dauerhaftes Band der Liebe und ein ĂŒberreicher Austausch aller GĂŒter“ (1475, Papst Paul VI. zitierend). Die Lebenden können denen helfen, die „in der Gnade und Freundschaft Gottes“ sterben und die deshalb ihres „ewigen Heils“ sicher sind. Doch sie sind „noch nicht vollkommen gelĂ€utert“ und mĂŒssen daher „nach dem Tod eine LĂ€uterung durch[machen], um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, in die Freude des Himmels eingehen zu können“. (KKK, 1030; in der litauischen Übersetzung ist dem lateinischen Original – „post suam mortem patiuntur purificationem“ – folgend von einer LĂ€uterung durch bzw. mit Leiden die Rede.)

Wichtiger Bestandteil dieses Austauschs ist der Kauf von Messen fĂŒr die Toten (das katholische Kirchenrecht gibt einem Priester ausdrĂŒcklich das Recht, Messen fĂŒr alle, Lebende und Tote, zu lesen, s. CIC can. 901). Außerdem können AblĂ€sse „den Lebenden und den Verstorbenen zugewendet werden“. AblĂ€sse sind „Erlass einer zeitlichen Strafe vor Gott fĂŒr SĂŒnden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind“. Die Kirche gewĂ€hrt AblĂ€sse, weil sie „als Dienerin der Erlösung den Schatz der Genugtuungen Christi und der Heiligen autoritativ austeilt und zuwendet“. (KKK, 1471) Woraus besteht dieser Schatz? Er umfasst „SĂŒhneleistungen und Verdienste Christi“ sowie „die Gebete und guten Werke der seligsten Jungfrau Maria und aller Heiligen
 [Sie haben] zum Heil ihrer BrĂŒder in der Einheit des mystischen Leibes beigetragen.“ (KKK, 1476–1477).

Messen und Gebete fĂŒr die Toten, das Fegefeuer, der Ablass, die Verdienste der Heiligen und Marias – die Reformation bereitete all dem ein Ende (wobei die etwas seltsame Erlaubnis in der lutherischen Apologie des Augsburger Bekenntnisses, XXIV, fĂŒr die Toten zu beten, als eine Art Ausnahme betrachtet werden muss). In diesem Bereich ist der kulturelle Unterschied zwischen den Konfessionen mit am radikalsten. Im Jahr 1542 schrieb Luther, dass solche „pĂ€pstlichen Ungeheuerlichkeiten“ wie die Totenmesse und das Fegefeuer sowie „alle anderen TĂ€uschungen“ von den Evangelischen „abgeschafft und ausgemerzt“ worden seien. Und tatsĂ€chlich: in evangelisch geprĂ€gten Landen findet sich keine Spur davon.

„Schicklich und ohne Aberglauben der Erde ĂŒbergeben“

Die Reformation brachte den Menschen eine gute Nachricht – sowohl ĂŒber das Leben auf der Erde als auch ĂŒber das Leben nach dem Tod. Das Zweite Helvetische Bekenntnis der Reformierten (1566) bekrĂ€ftigt: „Wir glauben, dass die GlĂ€ubigen nach dem Tode des Leibes geradewegs zu Christus gehen und deshalb weder der UnterstĂŒtzung noch der FĂŒrbitte der Lebenden, noch all ihrer Dienste irgendwie bedĂŒrfen.“ (Kap. XXVI) Im Westminster-Glaubensbekenntnis (1647) heißt es, dass die Seelen der GlĂ€ubigen nach dem Tod „unmittelbar zu Gott zurĂŒckkehren
, wo sie Gottes Angesicht in Licht und Herrlichkeit schauen und auf die volle Erlösung ihrer Leiber warten.“ (32,1)

Dienste der Lebenden fĂŒr die Toten sind nicht notwendig, denn Christus und seine Werke allein sind ausreichend. Umgekehrt gilt das gleiche. Das Augsburger Bekenntnis (1530) fĂŒhrt aus: „Durch Schrift aber kann man nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ‘Denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus’ (1 Tim 2,5).“ (XXI) Evangelische kritisieren die römisch-katholischen Bestattungsriten, denn es geht ihnen im Kern darum, das biblische Prinzip „Christus allein“ zu verteidigen.

Der Kirchenschatz der römischen Kirche enthĂ€lt u.a. das Blut von MĂ€rtyrern (Heiligen), die angeblich mehr Verdienste erworben haben, als sie fĂŒr ihr Heil selbst benötigen. Johannes Calvin war mit dieser Lehre ganz und gar nicht einverstanden und betonte, dass auf diese Weise „ihr Blut mit dem Blut Christi vermengt wird“, und dass so aus Christus „ein gewöhnlicher Heiliger gemacht wird“; dabei solle er doch „ganz allein verkĂŒndet werden, er allein den Menschen vor Augen gestellt werden, er allein genannt, er allein angeschaut werden, wenn es darum geht, wie wir Vergebung der SĂŒnden, Versöhnung und Heiligkeit erlangen“. (Inst. III,5,3)

Äußerlich gesehen bestatten Evangelische ihre Toten auf Ă€hnliche Weise wie Katholiken. Calvin betonte wiederholt, dass das BegrĂ€bnis an sich ein guter Brauch und Teil unserer menschlichen Kultur sei. Eine „mĂ€ĂŸige Trauer
 tadeln wir nicht, weil wir es geradezu unmenschlich fĂ€nden, ĂŒberhaupt nicht zu trauern“, schreibt Heinrich Bullinger. Wir sollen den Leichnam „schicklich und ohne Aberglauben der Erde ĂŒbergeben“ und außerdem „der GlĂ€ubigen ehrend gedenken, die im Herrn selig entschlafen sind, und ihren Hinterlassenen, wie Witwen und Waisen, alle Dienste christlicher Bruderliebe erweisen. DarĂŒber hinaus gibt es nach unserer Lehre nichts fĂŒr die Toten zu sorgen“ (Zweites Helvetische Bekenntnis, XXVI)

Es ist nicht nötig, die Toten in besonderer Weise zu ehren oder sich um ihre GrabstĂ€tten intensiv zu kĂŒmmern, denn sie haben es schlicht nicht nötig. Calvin selbst ging mit gutem Beispiel voran: Er wollte bescheiden und sogar ganz ohne Grabstein bestattet werden (die genaue Lage seines Grabes ist bis heute unbekannt). Vor allem reformierte Christen betonen, dass in Kirchen keine Beerdigungszeremonien abgehalten werden sollten; auch ein ordinierter Geistlicher sei nicht unbedingt nötig. Die britischen Puritaner waren in Bezug auf die Bestattung am radikalsten. Die Kirchenordnung der Presbyterianer, „Directory for the Public Worship of God“ (1647), sieht gar keine Riten vor, auch nicht am Grab.

Bei evangelischen Beerdigungen sind jedoch hĂ€ufig Geistliche anwesend. Im Mittelpunkt ihrer TĂ€tigkeit und Aufmerksamkeit stehen jedoch die Lebenden. Die Evangelischen haben eine Kultur der VerkĂŒndigung entwickelt, die sich an die Hinterbliebenen richtet. Die Trauernden sollen durch das Wort Gottes getröstet und gestĂ€rkt werden. Die Beerdigung wird als Gelegenheit gesehen, ĂŒber das kĂŒnftige Leben und die Hoffnung auf die Auferstehung nachzudenken. Und Luther schlug vor, dass bei Beerdigungen „Trostlieder ĂŒber die Vergebung der SĂŒnden, den Frieden, das Leben und die Auferstehung der im Glauben Verstorbenen gesungen werden sollten, damit unser Glaube gestĂ€rkt wird und wĂ€chst.

Holger Lahayne, 31.10.2023 (www.lahayne.lt)

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 21. November 2023 um 10:06 und abgelegt unter Kirche, Kirchengeschichte, Seelsorge / Lebenshilfe.