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Interview „Der eigentliche Boom liegt noch vor uns“

Dienstag 2. September 2008 von pro Christliches Medienmagazin


pro Christliches Medienmagazin

Prof. Dr. Thomas Schirrmacher: „Der eigentliche Boom liegt noch vor uns“. Interview über die Gefahr von Pornographie und die ausufernde Sexualisierung

pro: Herr Professor Schirrmacher, laut einem Magazinbericht verzeichnen pornographische Internetseiten mehr Zugriffe von Nutzern als Ebay, Google, Amazon und Microsoft zusammen. Wie pornographisch ist unsere Gesellschaft?

Schirrmacher: Als die Pornographie in den 70er Jahren freigegeben wurde, war eines der Hauptargumente, daß das Interesse an Pornographie schwinden werde, wenn sie legal sei und die Menschen in der Realität ihre Sexualität ausleben dürften, wie sie wollten. Stattdessen kann sich heute jeder im Internet Vergewaltigungssequenzen, Massensex und Sex mit jeder beliebigen Tierart anschauen und sich das Sexobjekt seiner Wahl nach Haarfarbe, Nationalität oder Alter zusammenstellen. Die Pornographie im engeren Sinne zusammen mit leichtbekleideter Erotik hat einen Lebensbereich und Medienbereich nach dem anderen erobert und ist heute so allgegenwärtig, daß man zwangsweise an ihr teilnehmen muß, selbst wenn man sie ablehnt. Nichts geht mehr ohne sie. Wer sich die Plakatwerbung anschaut, könnte meinen, daß Bekleidungsgeschäfte nur noch Unterwäsche und Bikinis verkaufen. Ganze Industriezweige werben fast nur mit massiver Erotik und verkaufen scheinbar die Produkte nur nebenbei. Selbst in manchen Männermagazinen ist die Werbung mittlerweile anzüglicher als die Bilder des redaktionellen Teils.

pro: Erotische Darstellungen hat es in der Geschichte in allen Kulturen gegeben, längst sind jedoch alle Grenzen gefallen, alles scheint möglich. Im Fernsehen laufen immer mehr Sexfilme und über das Internet werden auch perverseste Neigungen befriedigt. Woher kommt die enorme, beinahe grenzenlose Nachfrage nach der Darstellung von Sex?

Schirrmacher: Das hat damit zu tun, daß zum einen die sexuelle Stimulanz durch Pornographie abstumpft, so daß immer härtere Bilder und Töne her müssen und zum anderen damit, daß intensiver Pornographiegebrauch häufig zur Sucht wird – hier liegt auch die eigentliche Verdienstquelle. Wissenschaftler haben 8,5 Prozent der amerikanischen Internetbenutzer als sexsüchtig eingestuft, da sie mehr als 11 Stunden pro Woche pornographisches Material im Internet studieren und nicht in der Lage sind, länger als 24 Stunden darauf zu verzichten. Kornelius Roth, der führende deutsche Sexsuchtexperte, schätzt die Zahl der hochgradig Sex- und Pornographieabhängigen in Deutschland auf 500.000.

pro: Das alles hat Auswirkungen auf den Alltag auch von Jugendlichen. Rapper wie „Frauenarzt“ oder „Sido“ singen von brutalen Vergewaltigungen, Jugendliche filmen Vergewaltigungen und schicken sie an Freunde, andere sehen gar Gruppenvergewaltigung als Freizeitsport an. Tabus scheint es keine mehr zu geben. Wie sehr schadet die Pornographisierung der Gesellschaft?

Schirrmacher: Pornographie ist letztlich ein Angriff auf die Würde des Menschen und ebenso ein Wegbereiter für Verbrechen wie Rassenwahn. Die Geschichte hat gezeigt, daß rassistische Aufrufe zu rassistischen Handlungen führen. Zu Recht sind sie deshalb hierzulande verboten. Nazischriften führen zu Nazihandlungen, Vergewaltigungsdarstellungen und -gesänge zu Vergewaltigungen. Die Wirtschaft würde doch nicht Milliarden in erotische Werbung investieren, wenn das nicht unser Denken und Handeln beeinflussen würde! Das verbrecherische Boomen pornographischer Pädophilie ist ein gutes Beispiel dafür. Der führende amerikanische Pornographieforscher, der Psychologieprofessor Dolf Zillmann, schreibt im 2004 erschienenen deutschen „Lehrbuch der Medienpsychologie“: „Die intensive Nutzung pornographischer Medianangebote steigert die selbst zugegebene Vergewaltigungsbereitschaft von Männern. Sowohl zwangsausübende als auch nicht zwangsausübende sexuelle Darstellungen haben diese Wirkung.“ Und: „Nach der intensiven Nutzung von Pornographie hielten Männer und unerwarteterweise auch Frauen Vergewaltigung für ein weniger schweres Vergehen“.

pro: Die Meinungsmacher in Politik und Medien müßten sich ob derartiger Befunde doch im klaren darüber sein, was eine ausufernde Sexualisierung auslöst – und davor warnen, oder nicht?

Schirrmacher: Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben es hier mit massiven Tabus zu tun! Die alten Tabus beinhalteten, daß über Sex nicht geredet wurde und schon gar nicht in der Öffentlichkeit praktiziert wird. Diese Tabus sind weitgehend gefallen. Ich sitze im bürgerlichen Bonn etwa im Bus regelmäßig Schülern unter 14 Jahren gegenüber, die sich in einer extremen Weise öffentlich küssen, die Kleidung hochschieben, sich an den Geschlechtsteilen streicheln, als wären sie völlig allein. Rapper – Sie haben das angedeutet – singen von der blutigen Vergewaltigung kleiner Mädchen und im Internet ist nichts, aber auch gar nichts mehr tabu. Stattdessen ist aber ein ebenso massives Tabu an die Stelle getreten, nämlich das Verbot, über die Folgen des sexuellen Massenkonsums und des Pornographiezwangs zu berichten und zu sprechen. Sexsucht und Pornographiesucht werden tabuisiert. Man tabuisiert die Folgen, die es für die Entwicklung von Kindern hat, wenn sie im Alter von zehn bis zwölf Jahren in Filmen und Bildern gemeinsam Dinge sehen, die andere nicht einmal zu denken wagen. Man tabuisiert, daß die Botschaft der Verfügbarkeit der Frau alle Erfolge der Gleichberechtigung zunichte macht. Tabu ist auch, darüber zu sprechen, wieviele Scheidungen auf Pornographie und Sexsucht oder durch sie ausgelöste Seitensprünge zurückgehen. Massenhafte Pornographie reduziert nachweislich den Wunsch auf langfristige Beziehungen – und außerdem den Kinderwunsch. Aber es ist tabu, darüber zu sprechen, welche Rolle die sexuelle Verwahrlosung dabei spielt.

pro: Pornografie ist an erster Stelle Kommerz. Wie viel Geld wird pro Tag mit Pornographie umgesetzt?

Schirrmacher: Mit Pornographie wird nach recht zuverlässigen Schätzungen derzeit jährlich weltweit rund 43 Milliarden Euro legal umgesetzt, für den Schwarzhandel etwa mit Kinderpornographie dagegen gibt es nur Vermutungen. Daran ist das Internet erst mit fünf Prozent beteiligt, weswegen hier auch so aggressive Werbung betrieben wird und der eigentliche Boom noch vor uns liegt.

pro: Viele Menschen finden nichts dabei, sich regelmäßig Pornos anzusehen. Welche Auswirkungen kann der Konsum von Pornographie auf das Zusammenleben von Männern und Frauen haben?

Schirrmacher: Da liefert uns schon ein Blick ins Neue Testament die Antwort. Paulus schreibt in 1. Korinther 5, daß es das Geheimnis der Sexualität ist, daß die Frau nicht sich, sondern ihrem Mann gehört und der Mann nicht sich, sondern seiner Frau. Diese sexuelle Gleichberechtigung und das Denken von der Befriedigung des anderen her macht Pornographie zunichte, denn hier geht es immer um meine eigene Befriedigung, entweder weil ich sowieso allein bin, oder weil der Partner meine Vorgaben zu erfüllen hat und das immer, wenn ich es will. Das Ergebnis haben viele Studien bewiesen: Die Klagen insbesondere von Frauen, daß Männer sie zwingen wollen, Dinge genau so zu tun, wie sie im Pornofilm gezeigt werden, nehmen zu. Vergewaltigungen in der Ehe nehmen zu – obwohl inzwischen glücklicherweise strafbar.

pro: Männliche Jugendliche interessieren sich spätestens in der Pubertät für Sexualität – leider zunehmend auch für Pornographie. Ist das eine normale Erscheinung, die zum Erwachsenwerden gehört?

Schirrmacher: Das Interesse für Sexualität ist normal. Das Interesse, wie man mit weiblichen Menschen umgeht, ist normal. Der Raum zur Diskussion über alle Aspekte von Liebe, Partnerbeziehung muß gegeben sein. Unnormal ist, daß die Beziehungen zu Mädchen und Frauen auf den sexuellen Aspekt reduziert wird und über die Stimulierung sexueller Erregung alles andere, was lebenswert ist, in den Hintergrund gerät. Wer einmal zugehört hat, wenn heute Jugendliche mit Pornos auf ihren Handys über Frauen reden und womit sie prahlen, dem kann nur schlecht werden.

pro: Teenager kommen immer früher mit Pornographie in Berührung. Sind junge Erwachsene, bei denen Pornographie ein Teil der Freizeitbeschäftigung ist, überhaupt noch fähig, eine Partnerschaft mit Liebe, Zärtlichkeit und „normalem“ Sexualleben zu führen?

Schirrmacher: Die Pornographie in Zeitschriften, Internet und Film ist – das wird gerne verschwiegen – das Hauptwerkzeug der Aufklärung für Kinder geworden, die oft schon am Ende des Grundschulalters damit in Berührung kommen. Dabei wird jedoch ein schreckliches Bild von Sexualität vermittelt, das die eigene und sofortige Befriedigung zum obersten Maßstab macht, vorwiegend Frauen, auf jeden Fall den Partner, zum Erfüllungsgehilfen degradiert und über das Biologische hinaus nicht viel zu vermitteln hat.

Die Fragen stellte pro-Redakterin Ellen Nieswiodek-Martin

Aus: Christliches Medienmagazin pro, 3/2007

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 2. September 2008 um 11:07 und abgelegt unter Interview.