Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Christsein in der Kultur des Todes

Dienstag 15. Januar 2008 von Pfr. i.R. Reiner Vogels


Pfr. i.R. Reiner Vogels

Christsein in der Kultur des Todes

Welche Aufgaben haben die Christen
in der heutigen gesellschaftlichen Situation?

Ich soll heute abend einen Vortrag halten über „Christsein in der Kultur des Todes“. Wegen der Brisanz des Themas will ich diesen Vortrag nicht als wissenschaftlichen und nach allen Seiten offenen Vortrag halten, sondern als einen vielleicht sogar provozierenden Anreiz zu Diskussion und Widerspruch. Ich bekenne mich dabei zur Parteilichkeit. Parteilichkeit heißt, daß ich entschieden gegen die Kultur des Todes Stellung nehmen und mich eindeutig auf die Seite einer neuen Kultur des Lebens stellen möchte. Ich bin überzeugt, daß allein der christliche Glaube eine tragfähige Grundlage für diese Kultur des Lebens sein kann.

Dies als Vorbemerkung. Mein Vortrag hat zwei Hauptteile. Der erste Teil ist überschrieben: „Leben oder Tod“. Der zweite Teil trägt die Ãœberschrift: „Komm herüber und hilf uns“. Dieser zweite Teil hat drei Unterabschnitte, 1. „Hören“, 2. „Dem einzelnen helfen“ und 3. „Hilfe für die Gesellschaft“.

1. Leben oder Tod

Im 30. Kapitel des 5. Buchs Mose können wir nachlesen, daß Mose in seiner großen Abschiedsrede am Ende der Wüstenwanderung das Volk Israel vor die Wahl gestellt hat zwischen Leben und Tod. Wenn das Volk nach dem Einzug ins gelobte Land festhalten werde am Bund mit Gott und an den Geboten Gottes, so der Tenor der Rede, dann werde es leben. Wenn es aber den Bund verlassen, anderen Göttern nachlaufen und die Gebote mißachten werde, werde es den Tod wählen und umkommen. Mose schließt seine Rede mit einem dramatischen Appell: „Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen“.

Heute, nach über 3000 Jahren steht die Menschheit und vor allem die westliche Industriegesellschaft wieder vor derselben Alternative. Allerdings sieht es so aus, als hätte unsere Gesellschaft schon ihre Wahl getroffen. Sie hat sich gegen das Leben und für den Tod entschieden. Sie hat sich gegen Gott und seine Gebote entschieden. Die westliche Gesellschaft ist eine Kultur des Todes geworden.

Dies hat ja der verstorbene frühere Papst Johannes Paul II immer wieder gesagt, und er hat recht gehabt. Das erkennen wir, wenn wir unbestechlich und nüchtern die Welt um uns herum betrachten. Wir dürfen uns nicht blenden lassen von Optimismus und Schönfärberei in den Medien. Solche offizielle Schönfärberei sind wir von unseren Medien ja schon seit längerer Zeit gewöhnt, in Zeiten einer Großen Koalition verstärkt sie sich natürlich. Während einer Großen Koalition stehen nämlich sowohl die der CDU zuneigenden Redaktionen in Presse und Fernsehen als auch die, die die SPD unterstützen – die Moderatoren der Talkshows im Fernsehen nicht zu vergessen – geschlossen auf der Seite der Regierung. Sie malen grundsätzlich die gesellschaftliche Wirklichkeit, also auch die Bereiche, auf die Politik nur geringen Einfluß hat, in rosaroten Farben, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, Kritik zu äußern. Davon dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Trotz dieser Schönfärberei leben wir in Wirklichkeit in einer Kultur des Todes und des Niedergangs. Ich verweise zum Beleg auf ein paar offenkundige und von jedermann überprüfbare Fakten.

Das seit Jahrzehnten in der westlichen Welt zu beobachtende Geburtendefizit – offizielle Schönredner reden beschönigend vom „demographischen Wandel“ – ist ein Todesfaktor allererster Ordnung. Es führt zum Zusammenbruch der Sozialsysteme, zur Vergreisung der Bevölkerung und am Ende auch zum Zusammenbruch des ganzen wirtschaftlichen Systems. Denn wenn es nicht mehr genügend Menschen gibt, die Autos bauen und Autos kaufen, woher sollen dann noch Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze, Gewinne der Unternehmen und Zinsen für die kapitalgedeckten Renten- und Krankenversicherungen kommen?

Weiter: Nach wie vor werden in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt ganz legal unzählige Kinder im Mutterleib umgebracht. Die liberalen Abtreibungsgesetze haben es geschafft, daß das Unrechtsbewußtsein nahezu vollständig geschwunden ist. Man tötet in großem Stil und hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Und unsere Kirche stellt in ihren Beratungsstellen nach wie vor die für eine straffreie und von der Krankenkasse finanzierte Abtreibung erforderlichen Tötungslizenzen aus. Was ist das anderes als die Kultur des Todes in Reinkultur? Nur eine Fußnote ist es wert, daß der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, zum Jahreswechsel 2007/08 noch den Politikern ein gutes Gewissen dazu gemacht hat, den Embryonenschutz weiter zu verwässern. Solche Bischöfe, die in Wirklichkeit nur entschlossene Parteigänger des Zeitgeistes sind, hat Christus gewiß nicht gemeint, als er von dem Felsen gesprochen hat, auf den er seine Gemeinde gründen wolle.

Ein weiterer Todesfaktor ist der allgemeine Niedergang der Familie. Und mit Familie meine ich, wie es biblische und christliche Lehre ist, die lebenslange Bindung eines Mannes mit einer Frau, die offen ist für Kinder. Heute wird mindestens jede 3. Ehe geschieden. Es gibt immer mehr Singlehaushalte. In München stellen sie bereits die Mehrheit. Auch andere soziale Bindungen und Großstrukturen, die früher den Menschen Heimat und Geborgenheit vermittelt haben, verlieren ihre Kraft. Ich erinnere an den anscheinend unaufhaltsamen Mitgliederverlust in Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Unsere Gesellschaft hat sich atomisiert. Der einzelne ist immer mehr allein auf sich gestellt. Jeder ist seine eigene Ich-AG.

Und lassen wir uns nicht erzählen, die Menschen seien glücklich damit. Die Vereinsamung der Menschen nimmt immer weiter zu. Viele werden unglücklich und depressiv. Es paßt ins Bild, daß die Technikerkrankenkasse kurz vor Weihnachten bekanntgegeben hat, daß die Zahl der Menschen, die als Depressionskranke stationär in Sanatorien untergebracht werden müssen, einen neuen Allzeitrekord erreicht hat. Die Krankheit der Depression ist zu einer Volksseuche geworden. Das ist die Kehrseite der totalen Individualisierung unserer Gesellschaft.

Ich könnte noch viele Symptome unserer Kultur des Todes aufzählen, ich möchte nur eines noch nennen, nämlich die Welle der Gewalt in der Jugend. Wenn in Berlin an Schulen private Wachdienste eingesetzt werden müssen, sollten bei uns allen die Alarmglocken läuten. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts engagierte sich die Jugend in der sogenannten Friedensbewegung, die heutige Jugendbewegung jedoch ist die Gewalt. Zwar ist davon nur eine Minderheit betroffen, aber es ist eine zahlenmäßig keineswegs unbedeutende Minderheit, und zur ihr gehören keineswegs nur ausländische Jugendliche, sondern auch viele deutsche.

Niemand soll sich darüber wundern, daß es dazu gekommen ist. Wenn Eltern Ehebruch begehen, wird es schwierig für sie sein, ihren Kindern ein Vorbild zu sein und sie zu einem mitmenschlichen Verhalten zu erziehen. Wenn die Erziehung der Jugend in Schule und Hochschule wertneutral sein will, also auf eine Erziehung zum Gehorsam gegen die 10 Gebote verzichtet, wenn eine wertneutrale Erziehung den jungen Menschen keinen Glauben mehr vermittelt, der sie tröstet und ihrem Leben auch in schwierigen Zeiten einen Sinn geben kann, wieso kann man sich darüber wundern, daß viele junge Menschen einfach aus dem Gleis laufen und den aggressiven Instinkten, die in jedem Menschen stecken, freien Lauf lassen? Die Saat einer Erziehung ohne Gott und seine Gebote geht auf, sie geht auf in brutalen Schlägereien auf den Schulhöfen, in gewalttätigen Angriffen auf U-Bahn-Fahrgäste und manchmal, in besonders extremen Fällen, sogar in mörderischen Amokläufen an Schulen.

Wie gesagt ich könnte die Liste der Symptome unserer Kultur des Todes noch verlängern. Ich belasse es an dieser Stelle dabei.

2. „Komm herüber und hilf uns!“

Ich komme zum zweiten Teil meines Vortrags. Er trägt die Ãœberschrift: „Komm herüber und hilf uns!“ Am Anfang habe ich an die Abschiedsrede des Mose erinnert. Auch diese Zwischenüberschrift erinnert an eine biblische Geschichte, diesmal aus dem Neuen Testament. In Apg. 16, 9ff können wir lesen, daß dem Paulus, als er, Timotheus und Silas während der 2. Missionsreise in Troas Station gemacht hatten, in der Nacht im Traum ein Mann aus Mazedonien erschienen ist. Und dieser Mann hat ihn mit den Worten gerufen: „Komm herüber und hilf uns!“ Paulus und seine Begleiter sind dem Ruf unverzüglich gefolgt und haben das Evangelium nach Europa gebracht. Letztlich ist auch die Tatsache, daß wir uns heute abend als Christen im Gemeindezentrum der Kirchengemeinde Mülheim/Mosel treffen, eine direkte historische Folge davon. Wir müssen es machen wie Paulus. Auch heute müssen wir den Hilferuf der Menschen hören. Und wir müssen ihm nachgehen.

2.1 Hören

Die Menschen in der Kultur des Todes, die Menschen, die den Glauben verloren haben, die Menschen, die durch eigene Schuld und Sünde oder auch ohne eigene Schuld vor den Trümmern ihres Lebens stehen, rufen um Hilfe. Sie rufen, auch wenn viele es nicht offen zugeben. Sie rufen, indem sie unglücklich sind und sich von Nervenärzten Antidepressiva verschreiben lassen. Sie rufen, indem sie sich vor der Sinnlosigkeit und Inhaltsleere ihres eigenen Lebens flüchten in einen Taumel von Events, Vergnügungen, Rausch und Konsum. Sie rufen, indem sie ihrer Einsamkeit zu entfliehen suchen, indem sie sich in immer neue wechselnde Beziehungen und Lebensabschnittsgemeinschaften stürzen. Sie rufen, indem sie angesichts der Schuld, die sie in ihrem Leben auf sich geladen haben, einfach depressiv werden, sich auf sich selbst zurückziehen und sich in der Festung ihrer eigenen vier Wände einsam und allein verschanzen. Die Menschen unserer Zeit rufen um Hilfe. Sie rufen auf die verschiedenste Weise. Unsere Aufgabe als Christen ist es, diesen Ruf zu hören.

Lassen wir uns nicht täuschen durch die aufgesetzten Fröhlichkeiten und den gequälten Optimismus, den die Menschen vor sich her tragen. Schauen wir auf das, was sie wirklich bewegt und bedrückt. Und da ist es doch völlig klar, daß die Menschen in der Kultur des Todes nicht zufrieden sind. Sie sind in Not. Sie brauchen Hilfe, und sie brauchen die Hilfe der christlichen Gemeinde. Niemand sonst kann helfen.

Ein Psychiater kann nur in den Fällen tatsächlicher, medizinisch zu diagnostizierender psychischer Erkrankungen helfen. Wenn es um die wirklichen Grundfragen der Menschen, um die Fragen nach Sinn und Hoffnung, nach Vergebung und Gnade geht, kann er, wenn er kein überzeugter Christ ist, den Menschen letztlich nur Beruhigungsmittel und Psychopharmaka verschreiben, die im Entscheidenden eben nicht helfen. Bei den wirklichen Grundfragen des Lebens können nur Christen helfen. Denn nur sie wissen um das Wort des Lebens, nur sie wissen um das Angebot der Vergebung. Nur sie können Botschafter der Hoffnung des Lebens in einer untröstlichen Welt sein. Und deshalb, liebe Gemeinde, haben wir Christen, haben Sie alle eine Aufgabe an den Menschen in der Kultur des Todes. Lernen Sie, den Hilferuf der Menschen zu hören. Schauen Sie nicht nur auf ihre eigene gemeindliche Binnenkultur, sondern wenden Sie den Blick nach draußen, auf die anderen, die nicht zur Kerngemeinde gehören. Gehen Sie auf sie zu und helfen Sie ihnen.

Die Hilfe muß sich an den einzelnen richten und an die Gesellschaft als ganze.

2.2 Dem einzelnen helfen

Zunächst: Dem einzelnen helfen! Wichtig ist, daß wir Christen den einzelnen Menschen, die um Hilfe rufen, die richtige Hilfe bringen. Wir dürfen den Kindern, die nach Brot schreien, keine Steine und denen, die einen Fisch wollen, keine Schlange reichen. Leider habe ich jedoch den Eindruck, daß unsere Kirche genau das tut. Seit ich im Ruhestand bin, habe ich landauf landab viele Gottesdienste besucht, und immer wieder habe ich es erlebt, daß die Menschen von unseren Kanzeln eben nicht Brot bekamen, sondern Steine. Die Prediger verweisen die Menschen immer wieder nur auf sich selbst. Sie fordern sie auf, menschliche Gemeinschaft zu suchen und gelingende Beziehungen, in traurigen Zeiten neuen Lebensmut zu fassen und sich in der Liebe zum Nächsten zu üben. Ganz selten nur habe ich es erlebt, daß den Menschen der überirdische Trost des Evangeliums zugesprochen wurde. Jakob hatte in seinem Traum noch die Himmelsleiter gesehen und den Himmel offen, unsere heutigen Gottesdienste jedoch verweisen die Menschen auf irdische Dinge und tun so, als ob wir dazu verdammt wären, unter einem verschlossenen Himmel zu leben. Das ist nicht die Hilfe, nach der der Mann aus Mazedonien gerufen hat. Im Gegenteil, das ist in Wirklichkeit der Abfall von Gott, vor dem Mose die Israeliten gewarnt hat, weil er zum Tode führt.

Wenn wir helfen wollen, müssen wir mit dem Glauben helfen und mit dem Evangelium. Wir Christen müssen in der Kultur des Todes Botschafter und Herolde der Hoffnung sein, und zwar der Hoffnung auf Gott, der Hoffnung auf die Vergebung der Sünden und der Hoffnung auf das ewige Leben. Den Verzweifelten müssen wir trösten, nicht nur mit gut gemeinten menschlichen Ratschlägen, sondern mit den Gnadenworten der Heiligen Schrift. Den, der sich in Lüge und Unrecht verrannt hat, müssen wir verbindlich und ohne Wenn und Aber den Ernst der Gebote Gottes verkünden. Den, der von seiner eigenen Schuld gequält wird, davon z.B., daß er durch eigene Schuld seine Familie zerstört hat, daß er gestohlen, andere verletzt und verleumdet hat, müssen wir zur Umkehr mahnen, aber wir müssen ihn auch an das Kreuz Jesu Christi, an die Vergebung der Sünden und an die versöhnende Kraft des Heiligen Abendmahls erinnern. Denjenigen, der die ganze Welt und auch sein eigenes Leben für sinnlos hält, müssen wir das Evangelium von der Menschwerdung des Gottessohnes sagen: Ein Leben, das der Sohn des ewigen Gottes angenommen hat, kann in gar keinem Fall sinnlos sein. Denjenigen, der trauernd am Grabe eines geliebten Menschen steht, müssen wir die Botschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben verkündigen. Und demjenigen gegenüber, der von der Theodizeefrage gequält wird, der also angesichts des furchtbaren Leids in der Welt nicht mehr an einen gütigen und gerechten Gott glauben kann, müssen wir zugeben, daß auch wir Christen auf diese Frage keine befriedigende Antwort haben, daß wir aber darauf vertrauen und daran glauben, daß Gott diese Antwort hat und daß wir sie in der Ewigkeit sehen werden. Liebe Schwestern und Brüder, nur wenn wir auf den Hilferuf der heutigen Menschen in diesem Sinne antworten, wenn wir also geistliche Antworten zu geben versuchen und nicht gute Ratschläge wie die Briefkastentante in der Illustrierten, können wir helfen. Alles andere geht an den Fragen der heutigen Menschen vorüber. Alles andere ist nur ein Beweis für den eigenen Unglauben.

Und diese Aufgabe haben keineswegs nur die Prediger auf den Kanzeln. Zu dieser Aufgabe ist jeder einzelne Christ gerufen. Jeder muß in seinem persönlichen Umfeld die Augen aufmachen. Jeder muß auf die Menschen zugehen, die in Not sind und Hilfe brauchen. Und jeder kann etwas tun. Jeder kann Zeugnis ablegen von seinem Glauben. Jeder kann sich klar zu seinem Glauben bekennen und so die anderen neugierig machen und vielleicht sogar mitreißen. Jeder kann sonntags die Gottesdienste besuchen und so für Nachbarn und Familienangehörige ein Vorbild sein, vielleicht sogar den einen oder anderen einmal zum Gottesdienst mitbringen. Sie sind die Mitarbeiter der Kirchengemeinde Mülheim/Mosel. Mindestens ebenso wichtig wie die konkrete Aufgabe, die Sie in dieser Gemeinde wahrnehmen, von der Verteilung des Gemeindebriefes bis hin zur Verwaltungsarbeit im Büro, ist solches persönliche missionarische Zeugnis eines jeden einzelnen von Ihnen. Ohne das persönliche Alltagszeugnis der Christen können die Pfarrer auf den Kanzeln nicht viel ausrichten.

Zu alledem muß natürlich auch die Hilfe für die Menschen treten, die mitten in unserer Wohlstandsgesellschaft in materieller Not sind. Es gibt eine wachsende Armut unter uns. Es gibt immer mehr Kinder, die z.B. zu den sog. Tafeln für Bedürftige kommen, weil sie zu Hause nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen. Der eigentliche Skandal in unserer Gesellschaft sind nicht die Millionengehälter der Wirtschaftsbosse, obwohl auch die längst jeden Anstand und jedes vernünftige Maß vermissen lassen, sondern der eigentliche Skandal ist die Armut der Armen. Tätige christliche Nächstenliebe – Stichwort: „Diakonie in der eigenen Gemeinde“ – für den einzelnen ist daher heute wichtiger als vielleicht noch vor 30 Jahren. Die materielle Not ist gewachsen, und sie wächst noch weiter.

2.3 Hilfe für die Gesellschaft

Neben der persönlichen Hilfe, und damit komme ich zum dritten Unterabschnitt von Teil 2, muß die Hilfe der Christenheit für die Gesellschaft als ganze stehen. Die Kultur des Todes besteht ja nicht nur im Abfall vieler einzelner Menschen von Gott, sondern sie ist verwoben in verschiedene Strukturen unserer westlichen Industriegesellschaft und wird von diesem Gesellschaftssystem immer wieder verstärkt.

Das Auseinanderbrechen vieler Familien kommt nicht nur von mangelndem Gehorsam gegen das 6. Gebot, sondern es wird unterstützt und gefördert durch die klar familienfeindlichen Grundtendenzen unserer Gesellschaft. So sind z.B. die immer weiter verschärften Anforderungen der Wirtschaft an die Flexibilität und Mobilität der Arbeitnehmer klar familienfeindlich. Wer auf der Suche nach Arbeit mehrfach den Wohnsitz wechseln muß, für den ist es eben schwer geworden, die Familie zusammenzuhalten und nicht zu vereinsamen. Und wer als junger Mensch auf dem Arbeitsmarkt immer nur Praktikumsstellen und befristete Arbeitsverträge angeboten bekommt, woher soll er den Mut nehmen, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben? Der römisch-katholische Bischof Mixa hat im übrigen recht mit seiner Kritik an der gegenwärtigen Familienpolitik. Diese Politik verfolgt nicht das Ziel, Familien und die Erziehung von Kindern zu fördern. Es geht ihr in erster Linie darum, die Familienstrukturen so zu verändern, daß sie stromlinienförmig an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes angepaßt sind. Nicht das Kindeswohl oder die Bildung von Kindern steht im Vordergrund, sondern die Versorgung der Wirtschaft mit jederzeit zur Verfügung stehenden Arbeitskräften.

Dasselbe Ergebnis haben natürlich auch die seit Jahren zu beobachtende und von der wirtschaftlichen Globalisierung erzwungene Tendenz einer Absenkung des Reallohnniveaus und die inzwischen schon skandalöse Weigerung der Politik, das Kindergeld angesichts der gerade für Haushalte mit Kindern gestiegenen Lebenshaltungskosten zu erhöhen. Wenn die Familien weniger Geld haben, sind die Eltern einfach gezwungen, gegen ihren Willen ihre Kinder in Fremdbetreuung zu geben, damit beide Elternteile Geld verdienen können. Und genau das ist politisch gewollt, denn Wirtschaft und Politik wissen, daß der Geburtenrückgang in absehbarer Zeit zu einem Mangel an Arbeitskräften führen wird.

Auch die in unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten zu beobachtende Abwertung der Mutterrolle wird von unserer wirtschaftlichen Ordnung gefördert. In der Marktwirtschaft bemißt sich der Wert von allem nach seinem Beitrag zur Wertschöpfung der Gesellschaft. Zwar schafft auch eine Mutter, die Kinder zur Welt bringt und großzieht, einen erheblichen Wert für die Gesellschaft, aber dies findet keinen Eingang in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Dafür dauert es einfach zu lange, bis die „Investition“ in Kinder „Rendite“ bringt. – „Investition“ und „Rendite“ natürlich in Anführungszeichen! – Ein Kind wird nun einmal frühestens knapp zwei Jahrzehnte nach seiner Geburt zur einem steuerzahlenden Leistungsträger der Gesellschaft. So lange jedoch wartet kein Investor auf einen Return seines eingesetzten Kapitals. Deshalb kommt die Leistung einer Mutter in einer auf kurzfristigen Markterfolg ausgerichteten Gesellschaft nicht in den Blick. Von daher ist die Abwertung der Mutterrolle nur logisch. Das ist ein gesellschaftlicher Todesfaktor allererster Ordnung.

In all diesen Faktoren ist unsere westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung selbst schuld am Geburtenrückgang. Sie fördert ihn auf jede nur erdenkliche Weise. Sie ist selbst einer der Hauptfaktoren der Kultur des Todes. Die soziale Marktwirtschaft der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts war sicher eine gute Sache, die reine Marktwirtschaft, in der jeder einzelne auf sich selbst verwiesen wird und jeder seine eigene Ich-AG ist, ist zerstörerisch. Sie ist eine Kultur des Todes. Am Ende wird sie sich selbst ihre eigene Basis entziehen, dann nämlich, wenn es nicht mehr genügend Menschen gibt, die Autos bauen und Autos kaufen und so Gewinne erwirtschaften können.

Unsere Aufgabe als Christen ist es, neben der Hilfe für den einzelnen die Todesfaktoren, die unser Gesellschaftssystem prägen, zu erkennen und sie politisch zu bekämpfen. Wir müssen nicht nur die Menschen unserer Zeit zurückrufen zum Glauben und zur Umkehr zu Gott, wir müssen auch den Todesstrukturen unserer Gesellschaft entgegentreten.

Gemeindevortrag in Ev. Kirchengemeinde Mülheim/Mosel am 15. 01. 2008

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 15. Januar 2008 um 12:43 und abgelegt unter Gemeinde, Gesellschaft / Politik.