Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Was ist Wahrheit? – die Frage des Pilatus

Freitag 10. August 2018 von Pastor Dr. Carsten Rentzing, Bischof a.D.


Pastor Dr. Carsten Rentzing, Bischof a.D.

Unser Thema lautet „Was ist Wahrheit? – die Frage des Pilatus“. Es ist ja so, als wäre man in der absoluten Gegenwart angekommen, wenn man auf diese Frage blickt. Die Frage nach dem, was Wahrheit ist, ist mehr als aktuell und wird ständig innerhalb und außerhalb der Kirche wieder mit Eindringlichkeit gestellt. Natürlich ist da auch eine bestimmte Absicht dahinter, die mal so, mal so ausschaut.

Vorbemerkungen

Vor einiger Zeit wurde ich Zeuge einer Debatte zwischen zwei Philosophen. Die beiden diskutierten über die Grundfragen der gegenwärtigen Philosophie. Bemerkenswerterweise kamen sie dabei auch auf den Bereich des Glaubens zu sprechen. Einer der beiden gab sich als Christ zu erkennen. „Jesus Christus ist der Sohn Gottes“, so sagte er. Daraufhin entgegnete sein Gegenüber: „Halt, für Sie ist Jesus Christus der Sohn Gottes.“ – „Nein“, so antwortete der erste, „entweder ist Jesus der Sohn Gottes, oder er ist es nicht. Wenn er es aber ist, dann ist er es auch für Sie!“ Kurz und knapp ist in dieser Begebenheit eine Auseinandersetzung auf den Punkt gebracht, die nicht neu ist, die aber in den philosophischen Denkrichtungen des sogenannten Konstruktivismus einerseits und des Realismus andererseits ganz aktuell wieder aufeinanderprallt.

Eigentlich handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung über Erkenntnistheorie. Es steht die Frage im Hintergrund, wie der Mensch die Welt, die Wirklichkeit und auch das, was man Wahrheit nennt, wahrnimmt, und ob er es überhaupt wahrnehmen kann. Für den Konstruktivismus setzt sich jedes Individuum dieser Welt, also du und ich, diese Welt gewissermaßen selbst zusammen. Es gibt also gar nicht die Welt an und für sich, sondern es gibt deine Welt, es gibt meine Welt, es gibt hier in diesem Raum gerade Hundert Welten, und jede sieht anders aus. Die Welt, in der der Konstruktivist lebt, ist seine eigene. In der radikalsten Ausformung des Konstruktivismus bleibt diese je eigene Welt unerreichbar für den Anderen oder auch für das Andere. Kulturelle Erfahrungen mit überindividuellem Anspruch werden ebenso abgelehnt wie überhaupt jeder allgemeine Wahrheitsanspruch. Das ist allerdings nur eine radikale Form des Konstruktivismus‘, auch das ist nicht in reine Schubladen zu packen. Aber es gibt diese Form, und die ist sehr durchsetzungsstark. Es gibt überhaupt keine allgemeinen Wahrheitsansprüche.

Natürlich kommt so ein Ansatz unserem derzeitigen subjektivistischen Lebensgefühl durchaus entgegen. So ein Ansatz hat auch ganz praktische Konsequenzen in verschiedene Lebensbereiche hinein, zum Beispiel in den Bereich der Pädagogik hinein, was an den Schulen unmittelbare Auswirkungen hat. Nicht der Erwerb von Wissen, nicht die Weitergabe von Erfahrungen und selbst erkannten Wahrheiten steht dort im Zentrum des pädagogischen Geschehens, sondern die Ausbildung von Kompetenzen, die man braucht, um sein eigenes Weltbild für sich selbst basteln zu können. Ein leitender Mitarbeiter einer Bildungseinrichtung der sächsischen Landeskirche sagte: „Unsere Generation droht die erste Generation zu werden, die an die Nachgeborenen nicht mehr weitergeben will, was sie selbst erkannt und erfahren hat.“ Und er beklagte dies.

Es stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, diesen Faden der Kritik weiterzuspinnen. Zunächst handelt es sich bei der Frage nach Konstruktivismus und Realismus um eine Frage der Erkenntnistheorie. Wie erkenne ich diese Welt und das, was sie im Innersten zusammenhält? Es kann kaum bestritten werden, dass es dabei bei uns allen so etwas wie konstruktivistische Ansätze der Erkenntnis und Weltwahrnehmung gibt. Jeder von uns bastelt sich seine Welt ein Stück weit selbst zurecht. Die Frage ist nur, ob das alles sein kann und alles ist, ob das unkorrigiert bleibt, oder korrigierbar ist. Die Debatte der beiden Philosophen zeigt, dass es auf diesem Weg auch zur ideologischen Zuspitzung kommt, die allgemeine Wahrheiten insgesamt in Frage zu stellen vermögen. „Für dich mag das Wahrheit sein, aber nicht für mich!“

Eine Wahrheit, die nach allen Menschen greift, wird nicht nur erkenntnistheoretisch bestritten. Es wird nicht nur gesagt, dass diese Wahrheit nicht allgemeinphilosophisch erkennbar sei. So hat es zum Beispiel der große deutsche Aufklärer Immanuel Kant beschrieben. Sondern es wird überhaupt die Existenz und die Wirkmächtigkeit einer solchen Wahrheit verneint. So einen Satz hätte Kant nie aufgestellt. Wenn man aber die Existenz und Wirkmächtigkeit einer solchen Wahrheit verneint, dann ist das etwas völlig anderes, als Anfragen an die Erkennbarkeit dieser Wahrheit zu richten.

Neu ist dieses Problem nicht. Es wurde schon von den griechischen Philosophen der Antike aufgeworfen. Auch die Frage des Pilatus entstammt geschichtlich dem Bereich der Antike und zeigt uns, dass viele Fragen, die uns heute so modern und so gegenwärtig bedrängend erscheinen, die Menschheitsgeschichte insgesamt prägen und verfolgen. Im Neuen Testament wird Pontius Pilatus zum großen Bürgen dieser Frage „Was ist Wahrheit?“. Nicht die Bestreitung der Wahrheit selbst ist dabei sein Problem, sondern die Möglichkeit der Menschen, diese Wahrheit entdecken und erkennen zu können. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, möchte man sagen.

Was ist Wahrheit? Das philosophische und biblische Wahrheitsmodell

Ziemlich am Anfang der philosophischen Frage nach der Wahrheit steht das sogenannte Lehrgedicht des Parmenides aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Parmenides schildert darin, wie er auf einem von Stuten gezogenen Wagen und von Sonnenmädchen geleitet zum Licht fährt. Er kommt an ein Tor, zu dem die Göttin Dike die Schlüssel verwahrt. Die Mädchen überreden Dike, das Tor zu öffnen. Parmenides fährt hindurch und wird von der Göttin empfangen, die ihm die Wahrheit verkündet.

Welche Wahrheit? Die Wahrheit, dass Sein und Nichtsein unmöglich ist, dass Denken und Sein dasselbe ist, dass das Sein ungeworden ist und unvergänglich unbewegt, ein unteilbares Eines, das nicht irgendwann einmal war und irgendwann einmal sein wird, sondern jetzt ist. Ein zusammenhängendes Ganzes und Eines. Dieses Sein ohne Anfang und Ende liegt in den Fesseln der Dike, die Werden und Vergehen von ihm fernhält und seine es rings umschließende Grenze bildet. Durch die mächtigen Bande der Göttin ist das Sein nach allen Seiten vollendet. Es ist eine Masse, einer wohlgerundeten Kugel vergleichbar. Der Wahrheit stellt Parmenides dann die irrige Meinung der Sterblichen gegenüber, die auf das täuschende Zeugnis der Sinne gegründet ist, dass es Werden und Vergehen gäbe, Sein und Nichtsein, den Ort ändern, die leuchtende Farbe wechseln, und dass das alles Wahrheiten wären.

Wenn wir uns einmal von der heidnischen Mythologie lösen, in die dieses Lehrgedicht im 6. Jahrhundert vor Christus natürlich gekleidet ist, dann erfahren wir einiges über den Wahrheitsbegriff, der über viele Jahrhunderte hinweg wirkmächtig geworden ist und uns bis zum heutigen Tage beschäftigt. Wahrheit, so heißt es da, ist stetig und nicht veränderlich. Da können Sie sich durch den Kopf gehen lassen, was das für die Wahrheitsdebatte unserer Tage bedeutet. Stetig nicht veränderlich – nicht den kulturellen Befindlichkeiten untergeordnet, nicht dem Werden und Vergehen, sondern von dem Lauf der Zeit unabhängig. Wahrheit ist absolut und nicht relativ. Wahrheit wird offenbart und nicht durch irgendwelche instrumentellen Kompetenzen erworben. Diese Sicht auf die Wahrheit hat nicht nur die Philosophie, sondern auch die christliche Theologie maßgeblich geprägt. Ihre Rudimente wirken bis heute, so sehr sie in unseren Tagen auch angefochten sind.

Ein Problem, das von Anfang an mit dieser Wahrheitsauffassung verbunden war, ist ihre Statik. Die Wahrheit erscheint weit weg von uns. Parmenides muss sich mit diesem Himmelswagen auf den Weg machen, fast schon wie Elia. Die Wahrheit erscheint weit weg von uns, weit entfernt von unserem Leben und den Erfahrungen, die wir darin sammeln. In ihrer schlechtesten Variante wird sie zur abstrakten Behauptung. Es ist diese offene Flanke, gegen die noch der Konstruktivismus unserer Tage in Stellung geht. „Ihr behauptet doch nur etwas. Was hat das mit dem Konkreten zu tun. Konkret sieht es doch ganz anders aus.“ Die Frage ist, ob es eine biblische Vorstellung von der Wahrheit gibt, die uns hier weiterhilft.

Für die Heilige Schrift ist die Wahrheit Gottes natürlich keine statische Kugel jenseits unserer Wirklichkeit, wie Parmenides das beschreibt. Gottes Name ist von Beginn an mit dynamischster Sprengkraft verbunden. Denken Sie an die Offenbarung Mose gegenüber: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Ein Ausdruck der Dynamik und Freiheit Gottes, die sich durch nichts und niemanden einschränken lässt und die aber dann auch unberechenbar macht, wer dieser Gott ist und wie er im Konkreten handelt. „Ich werde sein, der ich sein werde“ – so offenbart sich Gott dem Mose. Sein Erscheinen, sein Wirken sind frei, weil Gott frei ist, überraschend, unberechenbar. In seiner Dynamik offenbart er sich dem Volk Israel, und diese Offenbarung bleibt keine leere Abstraktion, nicht irgendein theoretischer Gedanke, sondern wird geschichtliche Wirklichkeit und damit auch für den Einzelnen Lebenswirklichkeit. Von diesem Gott wird nicht behauptet, dass er Erlöser sei. Er erweist sich beim Auszug aus Ägypten so sehr als Erlöser, dass noch alle nachfolgenden Generationen daran erinnert werden, wie das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens befreit wurde. Gott, der Erlöser, ist eine Lebensrealität, die generationenübergreifend prägt. Von Gott wird auch nicht behauptet, dass er Schöpfer sei. Er erweist sich als Schöpfer und Lebensspender überall dort, wo neues Leben erwächst und Leben aus Katastrophen und Gefahren errettet wird. Auch in den dunklen Seiten des Daseins, in Anfechtung, in Kreuz und Tod zeigt sich Gott in seiner Freiheit und Wirkmächtigkeit, der niemand entgehen kann.

In all dem Gott zu sehen und zu erfahren, dass ist das Urerlebnis des Glaubens, dass Gottes Wahrheit in all seiner Dynamik seinen Offenbarungsort in dieser Welt und in diesem Leben hat, verdichtet sich als Tatsache in der Geschichte Jesu Christi, denn in dieser geschichtlichen Person Jesus Christus zeigt sich Gott als der, der er ist. Die Wahrheit wird hier geradezu lebenspraktisch. Wahrheit, wie sie uns im Johannesevangelium begegnet, ist eben eine konkrete Wirklichkeit. Man kann sich von dieser Wirklichkeit abwenden, aber man kann sich ihr nicht entziehen.

„Ich bin ein König der Wahrheit“, so sagt Jesus zu Pilatus. Und er fügt hinzu: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Hören konnte Pilatus nicht, und doch stand Jesus sehr konkret und sehr real vor ihm. Einer Realität, der nicht zu entkommen war. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, so sagt dieser Jesus. Bereits die Verbindung der drei Worte Weg, Wahrheit und Leben signalisiert den Abstand gegenüber jedem Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit immer von unserem Leben fernhält. Um das genaue Gegenteil geht es Jesus Christus. Die Wahrheit Jesu und damit die Wahrheit Gottes zeigt sich im Vollzug des Lebens und des Glaubens. Genau hier setzt dann auch die reformatorische Neubesinnung des 16. Jahrhunderts an, Wahrheit und Reformation.

Die Geschichte des Christentums ist nicht gerade frei von abstrakten Wahrheitsverständnissen. Es wurden zum Teil ganz schön merkwürdige Wahrheitsaussagen getroffen. Es wurden große Lehrgebäude errichtet, die manchmal ihren Hang zur Abstraktion nicht ganz verhehlen konnten. Daraus erwuchsen zum Teil abstruse Fragestellungen wie die berühmt gewordene Frage aus der Zeit der Scholastik, im Hochmittelalter, wie viele Engel auf der Spitze einer Nadel Platz hätten. Darüber konnten sich Theologen Generationen miteinander streiten. Wahrheit drohte auch hier zur lebenspraktischen „Leerstelle“ zu werden. Es waren die Reformatoren, die die existenzielle Dimension der christlichen Wahrheit nicht erfanden – die hat es natürlich immer gegeben – aber in ihrer Wucht und brachialen Kraft neu entblätterten. Wahrheit wird sichtbar und relevant im Vollzug des Glaubens. Wer der Rechtfertigungsbotschaft vertraut, der erfährt Christus als seinen Trost und Heiland und ist auch wirklich getröstet.

Martin Luther konnte die Kraft des Glaubens in hohen Worten beschreiben. Einmal sagte er sogar den fast schon gefährlichen Satz: „Der Glaube ist der Erschaffer der Gottheit, nicht der Persona, aber in uns.“ Ganz gut lässt sich darin das reformatorische und wohl auch biblische Wahrheitsverständnis ablesen. Die Wahrheit existiert auch ohne das Bewusstsein des Individuums. So wahr eben der König der Wahrheit, Jesus, vor Pilatus erscheint, ganz unabhängig davon, ob Pilatus ihn als solchen erkennt. Durch den Glauben aber wird diese Wahrheit heilswirksam in der Realität des Einzelnen. Für den Ungläubigen wiederum ist die Nichtwahrnehmung dieser Realität nichts anderes als das Gericht. Ich weiß sehr wohl, was ich damit sage. Was aber bedeutet diese Einsicht in Zeiten des Pluralismus?

Bibel und Bekenntnis in Zeiten des Pluralismus

In der Geschichte der Kirche wurden Glaubensbekenntnisse formuliert, deren Gültigkeit bis heute festgehalten wird. Vor allem die lutherische Kirche hat auf evangelischer Seite betont, dass sie auf dem Grund der altkirchlichen Grundbekenntnisse und ihrer eigenen Bekenntnisschriften steht, die ja insgesamt nichts anderes sein wollen als die Auslegung der Heiligen Schrift. Diese Glaubensbekenntnisse wären völlig missinterpretiert, wenn man sie „im modernen Sinne“ als „dogmatische Wahrheiten“ bezeichnen würde. Dogmatische Wahrheit im modernen Sinne beschreibt so etwas wie die Karikatur der Wahrheit des Parmenides, irgendein abstraktes Etwas, tote Lehrsätze ohne Fleisch und Blut. Wer unsere Bekenntnisse so interpretiert und so einfordert, verkennt völlig, dass alle diese kirchlichen Bekenntnisse entstanden sind im Ringen um Worte für existenzielle Erfahrungen. Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben an Jesus Christus ist ebenso wenig eine leere Abstraktion wie das christologische und das trinitarische Dogma. Alle diese Aussagen sind entstanden aus der Begegnung mit dem dreieinigen Gott. Die Wucht dieser Begegnungen drang in Worte, um festzuhalten, was man selbst erlebt hatte. Wohl war man sich dabei der Kläglichkeit der menschlichen Sprache und Denkfähigkeit bewusst. Ein Geheimnis war man bereit zu akzeptieren, das bleibt immer, denn Gott ist letztlich dann doch größer als alle unsere Bekenntnisse. In seinen Loci hat Philipp Melanchthon, 1521 bereits, noch einmal daran erinnert, mit Blick auf das trinitarische Dogma, das Dogma der Dreieinigkeit Gottes. Er schreibt den berühmten Satz: „Die Geheimnisse Gottes soll man lieber anbeten, als sie zu ergründen.“

Selbst die Bibel zeigt ihren Charakter als Wort Gottes nicht dadurch, dass dieser Charakter behauptet wird, sondern dadurch, dass er sich in der Lektüre und Verkündigung zeigt und erweist. Da, wo die Heilige Schrift Menschen die Augen öffnet und sie auf eine neue Lebensbasis stellt, da, wo die Heilige Schrift Menschen überführt, da, wo sie sie zurechtbringt, da, wo die Heilige Schrift Glauben hervorbringt und stärkt, überall da muss man die Autorität der Heiligen Schrift nicht mehr abstrakt verteidigen. Sie selbst erweist sich als das, was sie ist: Das Wort Gottes. Und dass wir alles das, was ich beschrieben habe, bis auf den heutigen Tag erleben, dass wir es hoffentlich auch an uns selbst erlebt haben, das ist für mich der Grund, weshalb es für mich an dieser Autorität auch gar nichts zu rütteln geben kann.

Nun kennen wir allerdings in der Kirche trotz aller Bekenntnisse pluralistische Strukturen und den Streit der Meinungen. Das ist die Welt, in der wir leben. Das sind die Verhältnisse, die wir auch in der Kirche insgesamt und in unseren Gemeinden vorfinden. Wie ist damit umzugehen? Manche pluralistische Theorie auch der Kirche will uns damit beruhigen, dass das richtig und gut und einer modernen Kirche gemäß sei. Ich will dem gegenüber hier und heute einen überraschenden Kronzeugen aufrufen, der eine solche Sichtweise für die Kirche ablehnt. Es handelt sich dabei um den ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, der einmal folgendes formuliert hat: „Im Prozess der Modernisierung hatten auch die Kirchen an der Pluralisierung gesellschaftlicher Lebenslagen und Orientierung Anteil. Mit charakteristischen Einschränkungen gilt beispielsweise, dass die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen ethisch-politischen Orientierungen sich auch in den großen Kirchen wiederfindet. Darüber lagern sich dann häufig kirchenspezifische Konflikte, die sich zum Beispiel an dem Streit um die deutliche Geltung biblischer Weisungen oder an den Differenzen über die Verbindlichkeit ökumenischer Gemeinschaften (…) anschließen. Zugleich ist jedoch eine christliche Kirche dadurch ausgezeichnet, dass sie auf eine bestimmte Wahrheit verpflichtet ist. Pluralitäten der geschilderten Art können deshalb für sie keine letzte Gültigkeit haben. Sie bilden Zwischenstadien im Streit um die Wahrheit, Etappen auf der Suche nach gemeinsam erkannter und anerkannter Wahrheit. Ein Kirchenverständnis, das den kirchlichen Pluralismus unabhängig von der Suche nach einer für alle verpflichtenden Wahrheit beschreiben würde, gäbe damit den Wahrheitsbezug des christlichen Glaubens und der kirchlichen Existenz preis.“

Pluralismus kann kein Selbstzweck sein, wo es um vorletzte oder letzte Wahrheit geht. Bibel und Bekenntnis zwingen uns immer wieder, uns zu den Erfahrungen und Erkenntnissen unserer Vorväter und -mütter im Glauben zu halten. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen vermögen zu unseren eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen zu werden, wenn wir in der Lage sind, uns dafür im Glauben zu öffnen. Ein falscher Pluralismus endet dort. Eine Vielfalt aber bleibt erhalten.

Ich mag dieses deutsche Wort „Vielfalt“. Es drückt etwas davon aus, ganz anders als das Wort „Pluralismus“ oder „Pluralität“, was wir auch in der Heiligen Schrift immer wieder sehen und betrachten können. Es gibt unterschiedliche Erfahrungen, die die Menschen mit Gott machen. Auch die vier Evangelien berichten gemeinsam und doch eben auch ein Stück weit unterschiedlich von Jesus Christus, und doch bleibt sichtbar und eindeutig, dass all das Berichtete aus einer gemeinsamen Wurzel stammt. Es entfaltet sich etwas, damit etwas vielfältig wird. Das heißt, es stammt aus einer gemeinsamen Grundlage und Wurzel heraus. Glaubensvielfalt entfaltet sich aus einer gemeinsamen Quelle, aus einem gemeinsamen Kern. In diesem Sinn gehört Vielfalt zum christlichen Glauben, sofern die Begegnung mit dem dreieinigen Gott die Quelle bleibt, und dies eben auch nicht nur dem Wort nach, sondern tatsächlich, real.

Umgang mit momentanen Verwerfungen

Natürlich weiß ich, wo ich hier heute bin. Seit vielen Jahren ringen Sie um die Autorität und Gültigkeit der Heiligen Schrift in der Kirche. Ich bin auch gekommen, um Ihnen dafür einmal Danke zu sagen. Nicht immer ist jeder in der Kirche über Ihre kritischen Anfragen erfreut. Dass Sie aber die Frage nach der Wahrheit immer wieder einfordern, das kann nicht im Ernst der Kritik unterzogen werden, denn genau das gehört zur Kirche Jesu Christi. Die Kirche ist nämlich der Ort, an dem um die Wahrheit gestritten wird. Außerhalb der Kirche braucht der Teufel für solche Kämpfe nicht zu sorgen. Das wusste schon Martin Luther und hat es vielfach formuliert.

Allerdings sollten auch diejenigen, die Bibel und Bekenntnis gegenüber Verstellungen verteidigen, nicht den Wahrheitscharakter von Bibel und Bekenntnis vergessen. Dieser liegt nicht in der bloßen Behauptung ihrer Unabänderlichkeit und Gültigkeit. Dieser Wahrheitscharakter muss sich vielmehr auch lebenspraktisch erweisen. So hat sich die beständige Familie aus Mann, Frau und Kindern in der ganzen Menschheitsgeschichte als lebensdienlich erwiesen. Gottes Wort bestätigt dies und gibt ihm damit einen Wahrheitsanspruch. Auch Ausnahmen und andere Lebensformen, die es geben mag, können das überhaupt nicht verdunkeln. In all den Dingen, die wir einfordern, sollten wir zeigen, dass wir selber aus dieser Wahrheitserfahrung heraus gut und gottgefällig leben. Alles andere droht zur leeren Abstraktion zu werden, die mit der Wahrheit Gottes wenig gemeinsam hat.

In gleicher Weise könnten wir über den Umgang mit anderen Religionen sprechen, über den Umgang mit Flüchtlingen, über Sünde und Rechtfertigung, über die Auferstehung Christi, über Wort und Sakrament. Bei all dem stellt sich immer die Frage, ob wir hier nur abstrakt sprechen und fordern, oder ob all dieses sich in unserem Leben als wahr erweist, was wir sonst nur behaupten würden. Das Augenmerk darauf zu lenken, daran liegt mir heute und hier sehr viel. Ich hätte das auch viel einfacher mit einem durchaus schon sehr alten Wort sagen können, das allerdings ohne die bisherigen Bemerkungen auch wieder falsch verstanden werden könnte. In diesem alten Wort heißt es schlicht und ergreifend: „Wir können die Kirche Jesu Christi nur erneuern, wenn wir selber Kirche sind.“

Epilog – Nachwort: Das Lehramt des Heiligen Geistes

Etwas vorschnell und oft auch ziemlich oberflächlich wird in Auseinandersetzungen der Evangelischen Kirche davon gesprochen, dass es in der Evangelischen Kirche kein Lehramt gäbe. Für die reformierte Seite möchte ich hier nicht sprechen, das kann ich nicht. Für die lutherische Seite aber stimmt dieses so nicht. Bei Johannes lesen wir: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Er wird mich verherrlichen. “ Der Heilige Geist ist der Lehrer der Kirche. Seine Wahrheit ist kein Abstraktum, sondern der Gehalt seiner Führung. In alle Wahrheit leitet er, so heißt es da, und das Ziel dieser Leitung ist die Verherrlichung Christi.

Eigentlich ist also alles ganz einfach, und doch klingt es wirklich ziemlich verwegen, wenn man aufgefordert wird, nicht auf Institutionen, nicht auf Menschen und auf Regeln zu vertrauen, sondern auf den Heiligen Geist, wenn es um die Zukunft des Glaubens und der Kirche geht. Aber genau diese Verwegenheit hatte Martin Luther. Für ihn ging größere Gefahr von Menschen aus, die sich das Lehramt anmaßten und damit andere Menschen verführten oder zumindest drohten zu verführen. Er vertraute darauf, dass die Kirche tatsächlich, nicht nur dem Wort nach, vom Heiligen Geist geführt wird, manchmal auch durch Irrungen und Wirrungen hindurch.

500 Jahre nach Beginn der Reformation will ich sagen, dass sich aus meiner Sicht sein Vertrauen bestätigt hat. Bei allen Abirrungen, die es innerhalb dieser 500 Jahre gegeben hat und nach wie vor gibt, ist doch der Glaube an Jesus Christus erhalten geblieben. Bei aller Kritik an der Autorität der Heiligen Schrift – die Worte stehen noch immer da und überführen Menschen, die auf falschem Weg sind, trösten Menschen, die Trost brauchen, und eröffnen ihnen die Welt des Glaubens. Noch immer stehen diese Worte da, und sie werden bis ans Ende aller Tage dastehen und zu Menschen durch die Kraft des Heiligen Geistes sprechen. Sie sprechen zu Menschen und führen sie zur Umkehr und Erneuerung ihres Lebens. So war es und so wird es bleiben bis ans Ende aller Tage. Das zu wissen, das entlastet wahrlich sehr. Es nimmt die Sorge und die Angst um die Zukunft der Kirche. Auch das ist eine Wahrheit. Auch das ist eine existenzielle Erfahrung, die uns mutig und zuversichtlich stimmen sollte. Unseren Beitrag wollen und müssen wir leisten. Mahnen wollen wir und auch ermuntern. Vorbilder wollen wir sein, des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Die innere und die äußere Freiheit aber, die dazu nötig sind, die schenke uns der Heilige Geist, der die Kirche bis hierher geführt hat und auch weiter führen wird.

Landesbischof Dr. Carsten Rentzing, Vortrag beim Treffen der Mitglieder und Freunde des Gemeindehilfsbundes in Walsrode-Düshorn am 16. Juni 2018

Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 10. August 2018 um 6:40 und abgelegt unter Kirche, Theologie.