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Wie setzen wir die Schiffsschraube wieder in Betrieb?

Mittwoch 4. Juni 2008 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

„Wie setzen wir die Schiffsschraube wieder in Betrieb?“
Auszüge aus der Presseschau der Kommission für gesellschaftliche Beziehungen der ELKL

Interview von Latvijas Avize (Lettische Zeitung) vom 24.5.2008 mit Erzbischof Vanags

von Dace Kokareviča

Frage: Im Dezember des vergangenen Jahres wurde in den Kirchengemeinden für Ihre Familie, für einen guten Ausgang des Schicksals Ihres plötzlich von zu Hause verschwundenen Sohnes Krists gebetet. Kann man es überhaupt in Worte fassen, wodurch sich Schmerzen, die vergehen, von Schmerzen unterscheiden, die im Herzen eines Vaters und einer Mutter bleiben in der Unwissenheit dessen, was mit dem Kind geschehen ist?

Damit müssen wir täglich leben. An jeden Augenblick kann ich mich da nicht deutlich erinnern, und dennoch taucht es immer wieder von Neuem auf. Ich kann nicht sagen, ob diese Unwissenheit das Schlimmste dabei ist… Wir müssen mit verschiedenen Möglichkeiten rechnen. Vor Kurzem waren wir auf das Land gefahren. Dort hatte Krists eine Woche vor seinem Verschwinden gelebt. Wir fanden dort alles vor, wie er es verlassen hatte. Das Tischchen am Bett, darauf ein Kruzifix, die Bibel, eine Sammlung von Schriften der Kirchenväter „Philokalia“, von der er sagte, dass er sie bald auswendig beherrschen würde. Dort ist unter anderem auch folgendes zu lesen: Wenn du diese Welt verlassen möchtest, um dich dem geistlichen Leben hinzugeben, dann brich die Verbindungen zu allen ab, die du einmal gekannt hast…

Im Kreise unserer Bekannten und Freunde denken viele, dass es dieses ist, was er getan hat. Das wäre wohl das allerbeste. Ich weiß, dass Krists als Persönlichkeit zu einer so radikalen Entscheidung fähig wäre. Doch dürfen wir die Wahrscheinlichkeit seines Todes nicht ausschließen. Für einen Christen ist der Tod nicht das Allerschlimmste, auch wenn der immer weh tut. Doch gibt es auch Möglichkeiten, die schlimmer sind als der Tod. Unwissenheit bedeutet immer, dass wir uns zwischen verschiedenen Möglichkeiten bewegen und Frieden im Vertrauen auf die Liebe Gottes suchen.

Ich denke, dass sich der christliche Glaube erst dann offenbart, wenn er wirklich geprüft wird. Gott hat uns verheißen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen., ganz gleich, wie sie zur Zeit aussehen. Was bedeutet das? Sind das nur schöne Worte, die ich von der Kanzel gestreut habe, oder ist es die Wahrheit, aus der ich selbst leben kann?

Frage: Ihre Ansprachen an den Staatsfeiertagen – sowohl die gehaltenen als auch seiner Zeit eine, die Sie durch Ihr Schweigen ersetzten, haben in der Gesellschaft große Resonanz ausgelöst. Wie entsteht eine solche in Ihrem „Laboratorium“?

Menschen haben mir oft gesagt, dass sie auf meine Ansprachen warten und sie anhören – sei es am Staatsfeiertag, zu Weihnachten oder zu Ostern, wenn sie vom Fernsehen übertragen werden. Natürlich freue ich mich darüber, dass man sie aufmerksam anhört, doch das macht die Verantwortung noch größer. Ich selbst gehe diesen Tagen stets mit etwas Sorge entgehen. Das Ausarbeiten jeder Predigt erfordert viel Zeit, manches Mal Stunden, manches Mal sogar Tage. Doch die Idee, was ich sagen möchte – auch damals, als ich beschlossen hatte, gar nichts zu sagen – kam auf mich in der Form einer Offenbarung in einem Augenblick zu und war nicht das Ergebnis einer sorgfältig durchgeführten Analyse. Oft ist es ein unmerkliches Geschehen, das mir den Schlüssel in die Hand gibt. Während dieser Jahre habe ich es gelernt, sie zu bemerken und zu erkennen.

Einmal zu Beginn meines Dienstes als Pfarrer habe ich mich eine ganze Woche lang mit der Vorbereitung der Sonntagspredigt herumgequält. Ich habe einen Kommentar nach dem anderen gelesen, so und so herumgegrübelt, aber nichts kam dabei heraus. Dann ging ich in unsere St. Johanniskirche in Saldus, kniete vor dem Altar nieder und betete, dass Gott mir beistehen möchte, damit ich wüsste, was ich zu sagen hätte. Dann schlug ich meine Augen auf und sah plötzlich ganz deutlich auf dem Altarparament einen Hinweis auf eine Bibelstelle. Diesen Hinweis habe ich davor bereits viele Dutzend Male gesehen und ihn nie besonders beachtet. Ich dachte: diese Stelle musst du nachlesen.. Als ich diese Schriftstelle aufschlug, traten mir alle meine Überlegungen der vergangenen Woche entgegen, und die Predigt war in einem Augenblick fertig. Natürlich verfolge ich das, was um mich herum geschieht, und erlebe alle Probleme und Schwierigkeiten in der Gesellschaft mit. Doch wenn irgend etwas, was in der Kirche gesagt worden ist, sich auf die Prozesse der Gesellschaft auswirkt, dann findet sich immer jemand, der sagt „Die Kirche ist vom Staat getrennt“, als ob das bedeuten würde, dass wir in der Kirche überhaupt nicht darüber reden und nachdenken dürften, was im Staat geschieht.

Vor der letzten Wahl habe ich gedacht, dass ein Pfarrer in der Kirche seiner Gemeinde vielleicht keine bestimmte Partei empfehlen sollte, der sie ihre Stimme abgibt. Dem stimme ich völlig zu, dass man das nicht tun sollte. Doch denke ich dabei auch an einen anderen Aspekt. Jetzt wird wieder über die Schwulendemonstration „Pride“, über Toleranz usw viel geredet. Und es beginnt das Gezeter, dass die Empfehlungen der Leiter der Kirchen die Entscheidungen der Staatsmänner sehr beeinflusst hätten. Und damit würde die Schwelle, welche den Staat und die Kirche voneinander trennte, überschritten. Hier werden wieder, sei es aus Unkenntnis, sei es aus dem Bestreben, die Leute für dumm zu verkaufen, verschiedene Begriffe miteinander vermengt. Man spricht von der Trennung zwischen dem Staat und der Kirche, aber denkt dabei an die Isolierung der Religion und des christlichen Ideengutes vom Leben der Gesellschaft. Aber darüber steht in unserer Verfassung nicht ein einziges Wort. Ich möchte alle bitten, sehr deutlich diesen Unterschied zu erkennen. Die Trennung zwischen dem Staat und der Kirche heißt nur, dass diese nicht strukturell miteinander verbunden sind.

Frage: Wie weit wird es der Kirche gelingen, die traditionellen Werte der Familie am Leben zu erhalten in einer Zeit, da viele Kinder sowohl in unserem Lande als auch an anderen Orten in unvollständigen Familien aufwachsen, da Psychologen und Anthropologen uns mit folgenden Erkenntnissen überraschen: „Jetzt, da Menschen zur Zeit ihres Lebens mehrere Familien gründen, werden die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern wichtiger als die Beziehungen zwischen den Partnern,“ und da die „Pride“-Demonstrationen veranstaltet werden?

Unsere Parlamentarier waren, Gott sei es gedankt, damals so vernünftig, und haben es in die Verfassung hineingeschrieben, dass die Ehe eine Vereinigung von einem Mann und einer Frau ist. Lasst uns das nicht gering schätzen! In dem uns benachbarten Lande Schweden hat man bei der Definition der Ehe auf den Hinweis auf das Geschlecht verzichtet. Nun kommen da schon Vorschläge hoch, keine Zahlen mehr zu nennen, also, dass eine Ehe zwischen drei, vier oder fünf Partnern geschlossen werden könnte. Ähnliche Veränderungen haben auch die Veranstalter von „Pride“ im Kopf. „Pride“ ist nicht ein harmloser Spaziergang am Ufer der Daugava im Namen des Menschenrechtes und der Toleranz.. Das ist Ideologie mit dem Ziel, die Grundwerte der Gesellschaft zu verändern. Das Gefährlichste daran ist der Abbau ihrer Strukturen, welche die Gesellschaft überhaupt erst lebensfähig machen. Ich habe den Eindruck, dass die liberalen Säkularisten genau das heute tun, und „Pride“ dafür als ihr Vorkommando vorausschicken. Die Früchte solcher Experimente kann man in Europa bereits schmecken. Der alte Kontinent wird immer älter, und bald werden wir nicht mehr wissen, wie meine Generation für die Renten aufkommen soll.

Frage: In wie fern gelingt es der Kirche, sich an die traditionellen Werte zu halten? Es sollte doch nicht sein, dass die Kirche nur bestrebt ist, sich gegen alles und jedes zu wehren. Der eigentliche Auftrag der Kirche ist doch nicht das ständige Einreichen von Petitionen an die Regierung, sondern die Seelsorge, die dazu beiträgt, Menschen die Freiheit zu lassen, nach den Prinzipien ihres Glaubens zu leben.

Es gibt in Lettland sehr viele Menschen mit Ansichten, die von einem gesundem Menschenverstand herrühren. Man sollte nicht zögern, diese Menschen zu loben und sie zu unterstützen. Dadurch werden wir nicht unmodern oder gar zu Feinden der Homophilen.

Vor kurzem war ich in der Türkei, wo ein Fremdenführer sagte: „Nach zehn Jahren wird die Türkei in die EG aufgenommen! Denn die Ressourcen unserer Arbeitskräfte unseres Landes sind für euch Europäer die Hoffnung für eure Altersversorgung. Dem gegenüber könnt ihr auf Einwanderer aus Indien und China warten.“

Ja, sie kommen aus ganz anderen Zivilisationen, die noch nicht mit dem Abbau der Familie experimentiert haben. Wir können von oben herab auf die Zivilisation des Islam mit dessen unmodernen Ansichten blicken, aber sie ist lebendig, vital und breit gefächert.

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit dem Philosophen Rihards Kūlis. Er drückte das in Worten aus, was ich schon seit langem gedacht und empfunden habe: die Geschichte der Zivilisation ist ein einziger Friedhof. Es hat unzählige Völker gegeben. die verschwunden sind und die es heute nicht mehr gibt. Könnte es den Letten nicht auch so ergehen? Professor Taivans sagte einmal ,dass die altruistischen (altruistisch ist das Gegenteil von egoistisch. Der Übersetzer) Gesellschaften lebensfähig seien, während die egoistischen morsch werden und verlöschen. Ich habe den Eindruck, dass Lettland auf dem besten Wege ist, zu einer individualistischen, egoistischen Gesellschaft zu werden. Für viele scheint die hauptsächliche Priorität nicht bei dem Wohlstand und der Zukunft des lettischen Volkes zu liegen, sondern darin, das eigene Leben noch reicher und interessanter zu gestalten. Auch diese Einstellung kann es geben. Warum nicht? Möglicherweise sind patriotische und altruistische Ideen nur Relikte, die wir auf unseren Friedhöfen nur noch auf Grabmälern vorfinden, und die den Zweck haben, den Letten den Boden unter den Füßen zu erhalten. Lettland fehlt die Alternative. Man hört viel vom Fortschritt, den man anstreben sollte. Aber in welche Richtung sollen wir fortschreiten und wohin? Weiß man das überhaupt? Andere Ideen haben kein Podium. Möglicherweise wird es das von Pēteris Bankovskis angeregte und kürzlich hergestellte Institut für konservative Ideen eines Tages sein. Auf der Gründungsversammlung verglich der Pfarrer der Luthergemeinde in Riga Indulis Paičs Europa zutreffend mit einem Schiff, das mit einer bestimmten Geschwindigkeit voran gekommen ist, doch jetzt dessen Schiffsschraube blockiert ist. Das Schiff bewegt sich noch eine Weile weiter, aber verlangsamt seine Geschwindigkeit immer mehr.

Einst war Europa das Zentrum des Christentums. Es stellte sich an die Spitze der ganzen Zivilisation und strahlte von dort das Licht in alle Himmelsrichtungen aus. Die Triebkräfte waren das christliche Gedankengut, die christliche Kultur und die christliche Zivilisation. Jetzt sagt sich Europa allmählich von seinem christlichen Erbe los. Nach den Worten der englischen Soziologin Grace Davis zieht Europa nun aus seiner Schatztruhe deren wertvollsten Schatz, das Christentum, heraus, und weiß nicht, wo es damit hin soll. Und die Geschwindigkeit verlangsamt sich immer weiter. Ist es nicht an der Zeit, zu überlegen, wie man die Schiffsschraube wieder in Bewegung setzen könnte?

Übersetzung: Johannes Baumann

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 4. Juni 2008 um 17:02 und abgelegt unter Christentum weltweit, Interview.