Gemeindenetzwerk

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Die Kraft der Vergebung

Freitag 6. September 2013 von Pfr. Konrad EiĂźler


Pfr. Konrad EiĂźler

Predigt ĂĽber Johannes 8,3-11

Ich selber lebe in Hülben. Das ist nach Zavelstein der zweitschönste Ort von Europa. 711 Meter hoch – genau so hoch wie Jerusalem. Die Luft kommt noch aus erster Hand, und wir leben dort wie im Himmel – fast. Die schwäbische Alb ist bekannt durch die Pferdezucht. Dort gibt es Pferde aller Art, z. B. Zuchtpferde, deren Stammbäume zurückgehen bis in die Arche Noah. Es gibt Springpferde, die keinen Graben, keinen Oxer fürchten. Und es gibt Zugpferde, die die Bierfässer auf den Stuttgarter Wasen oder die Münchener Wies’n karren. Und es gibt alte Pferde, Karrengäule, Schindmähren, die dem Abdecker entkommen sind und dort ihr Gnadenbrot erhalten. Wissen Sie, zu dieser letzten Spezies gehöre ich. Wenn ich mich noch einmal einspannen ließ, dann nur deshalb, weil die lieben leitenden Brüder dem alten Gaul noch eine Streicheleinheit verpassen wollten mit dieser Einladung. Ich bin selber gespannt, ob das gut geht.

Aber lassen Sie uns nun in diesen Text hineinhören, und zwar im Johannes-Evangelium. Dort wird diese bekannte Geschichte erzählt, die ich Ihnen noch einmal nach Luther vorlese – Joh 8,3ff:

„Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen; was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Und als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, HERR. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!“

Liebe Schwestern und BrĂĽder!

Ich bin in einem Amtsgericht groß geworden, ungefähr eine Autostunde von hier entfernt. Die Wohnräume waren direkt über den Diensträumen des Richters. Wir waren also mitten drin in diesem Justizbetrieb. Freitags war Verhandlungstag. Wir waren sechs Geschwister. Wenn wir unsere Aufgaben gut gemacht hatten, dann durften wir ein Stockwerk tiefer, um an den Verhandlungen des Vaters teilzunehmen. Bei mir kam es eher selten vor, diese Chance zu nützen. Aber bis heute sehe ich noch den Wachtmeister mit seinem toten Paragraphengesicht, seine rote Nase wie ein Stopplicht. Noch heute höre ich die Schritte in den halligen Gängen, wenn dort Angeklagte von der Zelle in den Saal geführt wurden. Noch heute rieche ich die Stickluft von Papier und Akten. Kurzum: Ich bin elektrisiert, wenn es um eine Verhandlung geht.

Hier geht es um eine Verhandlung – ein Fall wird verhandelt. Juristen haben das Wort. Ein Prozess findet statt. Angeklagt eine Frau. Alles ist da, was zu einer ordnungsgemäßen Verhandlung gehört. Ort des Geschehens ist ja nicht ein ländliches Gericht mit einem engen Gerichtssaal, sondern der Jerusalemer Tempel mit seinen weiten Vorhallen, die schnell zu einem Gerichtssaal umfunktioniert worden sind. Doch – alles ist da, was zu einer richtigen Verhandlung gehört: Die Ankläger sind da. Schriftgelehrte und Pharisäer schlüpfen gern in diese Rolle, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Ein Richter war da; Jesus wurde immer wieder in diese Rolle gedrängt, aus welchen Gründen auch immer. Und Zuschauer waren da, Besucher, Frühaufsteher, Kriminalstudenten, die immer Appetit auf Histörchen und Skandälchen hatten. Wenn also alles da war, was zu einer Gerichtsverhandlung gehörte, konnte es beginnen.

Zum Aufruf kommt der Fall – sagen wir – Frau Vita, Frau Leben. Diese Frau wollte leben. Sie wollte wirklich leben, sie wollte ganz leben. Wer will schon bloß 25 % des Lebens, das das Leben zu bieten hat? Sie wollte leben, und deshalb – so stelle ich mir das vor – freute sie sich auf den Tag ihrer Hochzeit. Der Himmel war voller Bassgeigen. Die ewige Liebe besungen. Ach, der Weg in die Ehe ist ja mit guten Pflastern reichlich gepflastert. Sie erwartete alles. Und sie hat auch sicher gesagt: „Ich will dir treu bleiben, treu bleiben, bis der Tod uns scheidet.“ Und dann ist sie einen Moment schwach geworden, und dann hat sie einen Moment ihrem Blut nachgegeben. Und dann ist sie einen Augenblick, einen Moment ihren Gefühlen erlegen. Oh, diese Momente! Diese Sekunden, diese Stunden in unserem Leben!

Der Anklagevertreter erhebt sich. Er sagt: „Diese Frau ist in flagranti erwischt worden. Das es Ehebruch war, steht außer Frage. Sie ist nach den Todsünden des Mosegesetzes schuldig. Sie ist sogar eines Verbrechens schuldig.“ Nun, die Anklage tut sich leicht, weil nämlich eine Verteidigung nicht aufgeboten wurde. Kein Advokat, kein Winkeladvokat fing an, diesen Prozess in seine Hände zu kriegen.

Wäre sie heute angeklagt gewesen, dann hätte die Verteidigung bestimmt irgendwelche Sachverständigen auffahren lassen, z. B. als ersten einen Theologen, der sich der Zehn Gebote annimmt. Und er führt aus, dass diese Gebote absolut zu hart sind. Sie können nicht wortwörtlich genommen werden. Wir sind heute auf dem besseren, auf dem fortschrittlichen Weg nach rechten Gesetzen und Rechten. Einen „Dekalog light“ brauchen wir. Wirklich einen, nach dem wir lechzen. Nicht zehnmal NEIN zum Leben, sondern zehnmal JA – das ist’s, was wir brauchen!

Und übrigens: Die Moral ist ja auch wandelbar, nicht wahr. Wenn unsere Mütter Hosen trugen, dann war das unmoralisch. Röcke waren das Moralische. Oder wenn ein junges Mädchen einem jungen Mann in die Augen schaute, so war das unmoralisch. „Ottilie, schlag die Augen nieder, es geht ein junger Mann vorbei…“ Die Zeiten haben sich geändert, und die Moral selbstverständlich auch. So sagt der Theologe: „Im Blick auf die Gebote kann die Frau gar nie verurteilt werden. Sie ist straffrei zu entlassen.“ So der Theologe. So meistens die Theologen.

Aber noch ein zweiter Zeuge wird aufstehen, ein Sachverständiger. Vielleicht am besten ein Psychologe. Er beschreibt das Liebesdefizit dieser Frau. Schon zu Hause bekam sie nicht jene Liebeseinheiten, die sie eigentlich gebraucht hätte. Auch die Ehe brachte diesem Aschenputtel nicht das, was sie eigentlich zum Leben brauchte. Sie kann doch nichts dafür, wenn sie wegen des Liebesdefizits der Eltern nun ein seelischer Krüppel geworden ist. Nein, nein – diese Frau ist auf gar keinen Fall schuldig. Sie muss frei ihres Weges gehen können. So der Psychologe.

Und dann wäre sicher noch ein Dritter gekommen. Heute würde man noch einen Soziologen auftreten lassen. Und der sagt: „Hah, natürlich – diese Institution Ehe ein Leben lang ist schon lange out. Alternative Lebensformen sind heute in. Lebensabschnittspartner, homophile Verbindungen, intime Freundschaften, die können die neuen notwendigen Impulse geben. Doch, diese Frau ist auf gar keinen Fall schuldig.“

Aber weil diese Vertreter nicht auftreten, diese Sachverständigen, deshalb tritt eben der Ankläger auf. Und er stellt den Strafantrag: „Nach 2 Mose 3 § 20 Abs. 10 – dort steht: Wenn jemand die Ehe bricht, soll er des Todes sterben – ist Frau Vita des Todes schuldig. Ich beantrage deshalb die Todesstrafe durch Steinigung.“ Ein Raunen geht durch die Zuhörerschaft, weil jetzt Kundige merken, dass mit diesem Antrag dem Richter gehörig eine ans Bein gegeben werden soll. Denn stimmt er diesem Antrag zu, dann ist er nicht mehr Freund von Zöllnern und SĂĽndern. Stimmt er ihm nicht zu, dann steht er nicht mehr auf Gottes Gesetz. Was nun? So oder so, Jesus – du wirst dich unmöglich machen. Ruhe, Stille, Spannung. Die Frau hat gar keine Chance. Im Blick auf diese Rechtslage gibt es keine mildernden Umstände. Gleich wird der Richter das Urteil fällen: „Im Namen Gottes verurteile ich Frau Vita zum Tode!“

Aber zu diesem Schuldspruch kommt es nicht, interessanterweise. Eine dramatische Wende tritt ein. Die Prozessordnung wird auf den Kopf gestellt. Nicht zu fassen! Aber die Ankläger werden zu Angeklagten, der Richter wird zum Retter. Und die Beschuldigte, die Beschuldigten zu Befreiten.

1. Vom Ankläger zum Angeklagten

Das Eine: Der Ankläger wird zum Angeklagten. Jesus richtet sich nicht auf und spricht, sondern er beugt sich nieder und schreibt. Mit dem Finger kritzelt er auf den Boden. Was das soll? Warum? Will er Bedenkzeit? Will er eine Auszeit für diese Ankläger? Will er jetzt schon an dieser Stelle dieser Frau ein kleines Zeichen geben, dass ihr Fall nicht hoffnungslos ist? Jedenfalls, er schreibt. Mir persönlich hat eine aramäische Textvariante sehr eingeleuchtet. Und dort steht: „Er bückt sich nieder und schreibt die Sünden der andern auf die Erde.“ Den Anklägern wird der Prozess gemacht! Ihnen wird der Lehmboden zum Spiegel ihrer Vergangenheit. Im Dreck lesen sie ihr ganzes Sündenregister. In aller Öffentlichkeit sind die Ankläger als Übeltäter entlarvt. Nicht nur sie, jeder hier heute Morgen – jeder ist als Übeltäter entlarvt! Denn Jesus schreibt nie in den Wind. Sondern er schreibt immer auf die Erde. Er schreibt auf Papier. Er schreibt ins Gewissen. Er schreibt ins Herz. Und es gibt keinen Radiergummi, keinen Tintenkiller, kein Tipp-Ex, das diese Anklageschrift löschen könnte!

Musil, ein großartiger Schriftsteller und Dichter, hat einen Roman geschrieben mit dem Titel: „Der Mann ohne Eigenschaften“. Und in diesem Buch kommt eine Szene vor: Der hochgeliebte und hochverehrte Vater stirbt. Sohn und Tochter haben die Aufgabe, diese Wohnung zu räumen. So kommen sie nach verschiedenen Schränken auch zu einem großen altmodischen eckigen Schreibtisch. Dort entdecken sie ein Geheimfach, das sie nicht aufschließen können. Sie haben auch keinen Schlüssel dafür, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als schließlich dieses Fach aufzubrechen. Nachdem die Klappe fällt, ergießt sich ein ganzer Wust von Briefen, Bildern, Notizen und Zeitungsausschnitten. Der ganze Dreck eines Lebens war hier in diesem Fach und öffnet sich vor ihren Augen. Musil schreibt: „Angesichts dieses Faches erstirbt ihre Liebe zu ihrem Vater.“

Nicht jeder hat derartige Dinge im Schreibtisch. Aber es gibt genug Ecken und Ablagen, wo wir unsere Dinge hinbringen können. Aber jeder von uns hat sein Fach. Wenn das unsere Kinder wüssten… Wenn das unsere Frauen wüssten… Wenn das unsere Kumpel wüssten, unsere Gemeindemitglieder. Wenn die das alles wüssten! Jesus zielt auf dieses Fach. Er will es öffnen. Und er öffnet es. Um dieses Fach geht es bei dem Kapitel Vergebung. Jesus zielt auf unsere Verstecke der Schuld. Er schließt sie auf. „Es ist nichts verborgen, was nicht vor deinem Angesicht offenbar werde“. Auch wenn wir sofort den eigenen Advokaten spielen, und den spielen wir glänzend und sagen: „Ach, lieber Herr, das ist doch schon längst verjährt. Das war im letzten Jahrtausend, vor 80 Jahren. Lieber Herr, das ist vorbei. Und übrigens – das war doch ein verzeihlicher Seitensprung, ein Ausrutscher. Das ist doch schon längst den Bach hinunter…“

Aber die Zeit ist kein Bach. Die Vergangenheit ist kein Bügeleisen, die alles glatt bügelt. Die Ewigkeit kennt keine Verjährungsfrist. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen. Deshalb richtet sich Jesus auf und sagt: „Wer unter euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ Dann beugt er sich wieder nieder und schreibt weiter, weil er mit unserem Sündenregister noch gar nicht fertig geworden ist. Und in dieses Schreiben hinein hört man plötzlich Schritte – zuerst laut und dann immer leiser werdend. Und als Jesus sich endlich aufrichtet, da ist der Saal fast leer. Die Schriftgelehrten haben sich verdünnisiert. Die Pharisäer haben das Weite gesucht, und die Kriminalstudenten haben einen Altstadtbesuch vorgezogen. Keiner hat’s ausgesessen, keiner ist sitzen geblieben. Keiner wollte an diesem Prozess weitermachen.

Meine Frage: Wären wir sitzen geblieben? Hätten wir den Platz behalten? Hätten wir diesen Prozess ausgesessen? Hier sind wir gefragt: War in unserem Leben alles recht und richtig? Können Sie an alles denken, ohne rot zu werden? Ich frage Sie persönlich: Können Sie an alles denken, ohne rot zu werden? Wir haben keine weiße Weste. Das ist die Auferstehung unserer Schuld, unsere unbewältigte Vergangenheit.

Zu Hause hatte ich eine Kundenkarte. Mit der ging ich in ein Kaufhaus und kaufte ein. Und an der Kasse musste ich nichts bezahlen, nur zeigen. Die goldene Kundenkarte machte es möglich. Nur am Ende des Monats wurde es ganz goldig, nämlich dann, wenn die Rechnung ins Haus flog. Ich war nicht mehr der Großhans, der alles großzügig bezahlte, sondern ich war der, der nur Schulden machte. In irgendeiner Zentralkasse wurde nichts annulliert, alles wurde addiert und mir freundlichst präsentiert.

So werden im Himmel unsere Daten zusammengezählt. Da wird nichts annulliert. Da wird addiert und uns präsentiert. Die Abrechnung kommt, Freunde, auch wenn wir es so nicht mehr hören auf den Kanzeln, die Abrechnung kommt! Und weil wir nicht mit D-Mark oder dem Euro, weil wir dann mit nichts mehr bezahlen können, deshalb steht die Lage Ernst. Aus Anklägern werden Angeklagte, immer. Was nun?

2. Der Richter wird zum Retter

Damit ist der Prozess nicht zu Ende. Die Verhandlung wird nach Auszug der Staatsanwälte und Zuhörer fortgesetzt. Augustin schreibt: „Miserio und Misericordias – großes Elend und große Barmherzigkeit bleiben zurück“, großes Elend und große Barmherzigkeit. Der Richter wird nämlich zum Retter, Freunde. Jesus sieht die Frau an. Für Jesus ist das „kein Fall Vita“. Der bekannte Arzt Tournier schrieb einmal: „Wenn ich die Namen meiner Patienten vergesse und zu mir sage: Aha, das ist die Gallenblase und das der Krebs, dann zeigt sich darin, dass ich mich mehr für die Gallenblase und für den Krebs interessiere als für den Menschen.“

Auch für Jesus gibt es keine Fälle, sondern nur Menschen. Jesus sieht jeden, wie er ist, auch den in der letzten Reihe. Er sieht den großen Hunger nach Leben. Er sieht die große Gier nach Liebe. Er sieht das alles, diese unvorstellbare Gier, die Ihr Leben zerfrisst. Aber in dem allen, in diesem Sehen übersieht er die Sünde nicht, Freunde. Jesus sieht, aber er übersieht die Sünde nicht.

Machen wir uns nichts vor: Jesus ist nicht tolerant. Er erlaubt keine Seitensprünge. Er verzeiht kein Fremdgehen. Der Spruch: „Alles Verstehen heißt alles Verzeihen“ stammt nicht aus seinem Spruchbuch. Jesus ist nicht tolerant, und er ist nicht liberal. Er bereitet nicht die Strafrechtsreform von 1969 vor, als der letzte Ehebruchparagraph ersatzlos gestrichen wurde. Ehe ist für ihn keine Nomadenexistenz, wo man ein Zelt miteinander aufbaut, darin schläft und dann weiter zigeunert. Ehe ist auch keine Bienenexistenz, wo man von Blüte zu Blüte fliegt. Ehe ist kein Taubenschlag. Ich meine Ehe zwischen Mann und Frau, nicht zwischen Mann und Mann und Frau und Frau. Diese Schöpfungsvarianten, diese Schöpfungsarten sind Schöpfungsabarten. Nein – diese Ehe zwischen Mann und Frau ist lebenslänglich, oder sie ist nicht. Ehe ist bis zum Ende des Lebens geschlossen. Alle Gebote, auch das Sechste Gebot, ist in Geltung.

Jesus ist weder liberal noch tolerant. Aber er ist barmherzig, Freunde! Obwohl er ihre klare Schuld nicht übersieht, fällt er das Urteil: „Ich verdamme dich nicht.“ Da liegt das Evangelium: „Ich verdamme dich nicht.“ Ein todsicheres Urteil wird zur Begnadigung. Ein absolutes Ende wird zum Anfang. Ein verlässlicher Richter wird zum Retter. Freunde, das ist doch Evangelium pur!

Wer das bisher als Trostpflaster für seine Wehwehchen verstanden hat, hat nichts verstanden. Wer es bisher als Weichmacher für seine Verkrustungen verstanden hat, hat nichts verstanden. Wer es bisher als Sahnehäubchen für seinen Lebenskuchen benutzt hat, hat nichts verstanden. Evangelium ist Freispruch trotz Schuld. Evangelium ist Begnadigung trotz Sünde. Evangelium ist Leben trotz Tod. Gott rechnet nicht ab, wo wir mit Jesus rechnen. Gott rechnet nicht zu, wo wir auf Jesus hoffen. Gott wird mit Jesu Blut bezahlt. Nun gibt es keine Verfehlung mehr, die man mir anhängen könnte, wenn ich mich an ihn hänge. Nun gibt es keine Übertretung mehr, die man mir anlasten könnte, wenn ich an seine Last denke. Nun gibt es keine Schuld mehr, die er nicht tilgen will. Punktum. Und diesen Punkt setzt er. Er ist barmherzig.

3. Der Fall Jesus Christus

Jedoch – bleiben wir noch einmal in dem Gerichtssaal. Jesus selbst nimmt den Platz vor der Schranke ein. Zum Aufruf kommt der Fall Jesus Christus, der Fall Jesus von Nazareth. Schweigend lässt er den Fall ĂĽber sich ergehen. Niemand sonst tritt auf, bis hin zum Todesurteil. Und dann wird er hinausgefĂĽhrt. Und dann wird er aufs Kreuz gelegt. Und dann wird er festgenagelt am Querbalken. Dann wird alles aufgerichtet. Und dann hängt er zwischen Himmel und Erde. Und dann wird es dunkel, dann wird es ganz dunkel. Und dann wird es wie Mitternacht. Und er schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und am Schluss zerreiĂźt dieser Schrei die Finsternis: „TetĂ©lestai!“, zu Deutsch: Es ist bezahlt, die Schuld ist bezahlt, und dem Tod ist heimgezahlt.

Freunde, wenn sie mit dem Finger auf mich zeigen: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?“ und wenn sie mich in Grund und Boden hinein verdammen – Gott ist hier, der uns nicht verdammt. Und wenn sie uns hassen und ins Gesicht spucken: Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes. Freunde, wer noch will uns scheiden von der Liebe Gottes? Der Richter wird zum Retter.

Darf ich das noch an einem anderen Bild zeigen? Sehen Sie, das war drüben in den Vereinigten Staaten. Ein Kollege zeigte mir in den südlichen Staaten der USA einen Platz und sagte: „Schauen Sie sich bitte hier um!“ Ich sagte: „Was ist hier zu sehen? Ein paar Stangen, ein paar Ketten“. Und dann sagte er: „Wo Sie jetzt stehen, das ist der letzte Sklavenmarkt der USA.“ – „Das kann jeder sagen. Solche Plätze haben wir auch zu Hause.“ – „Nein, hier standen sie. In Afrika zusammengetrieben wie das Vieh, übers Wasser gebracht und hier angeboten zum Kauf. Hier warteten sie unter der sengenden Sonne auf einen Käufer oder auf den Tod. Und ich stelle mir vor: Dann kam einer auf diesen Platz. Das Bild wurde lebendig: Einer, der in Verhandlungen eintrat, einer, der nicht einfach vorbeiging und abschätzte und sagte: Das ist nichts! Einer, der nicht sagte: Wechsle doch die Stangen, als ob sich’s an anderen Stangen freier leben ließe. Sondern einer, der stehen blieb, der verhandelte, der schließlich seinen Geldbeutel zog und ein paar Dollarnoten herausfummelte. Und dann stelle ich mir vor, was ist in diesem Sklaven vor sich gegangen, wenn er plötzlich die Fußeisen und die Handeisen losbekam? Was ist in diesem Sklaven vor sich gegangen, der plötzlich einen neuen Herrn hatte? Welch ein Jubel muss über diesem Leben ausgebrochen sein, das neu lebenswert geworden ist!“

Wissen Sie, diese Sklaven sind Sie und ich. Wir sind die Ärmsten. Wir sind verdammt zum Tode. Und dort stehen wir mit unseren Ängsten und Lüsten, mit all dem, was wir hierher mitgebracht haben. Und dann kommt einer auf diesen Acker, auf dieses Feld Erde. Und dieser Jesus bleibt stehen. Er geht nicht weiter, sondern er tritt in Verhandlungen ein. Und dann bezahlt er – aber nicht mit paar Dollarnoten, sondern mit seinem heiligen teuren Blut. Und dann werden wir frei.

Welche Freude müsste über unserem Leben sein! Warum ist denn unser Christentum so muffig geworden, so traurig, so tranig? Erleben wir’s, wissen wir’s, realisieren wir’s: Wir sind freigekauft! Von Jesus! Welche Freude, welcher Jubel müsste über unserem Leben sein, das neu lebenswert geworden ist. Ihr Leben ist durch seinen Tod neu lebenswert geworden. Die Strafe liegt auf ihm! Mehr Freude und Jubel in unseren Kreisen gerade auch in der Passionswoche durch seinen Tod. Der Richter wird zum Retter.

4. Der Beschuldigte wird zum Befreiten

Dem Urteil folgt keine Begründung, weil Gott grundlos barmherzig ist. Aber eine Mahnung ist angefügt: „Geh, sündige hinfort nicht mehr.“ Er verfügt einen Freispruch mit Bewährung. Das ist es hier. Frau Vita kann nicht beschwingt den Tempelberg hinunter tänzeln, sich einen neuen Freund anlachen und das dolce vita von vorne beginnen. Jesus befreit zu einem Leben mit ihm. Das ist der Unterschied. Diese Geschichte hat eine Fortsetzung, und diese Fortsetzung wird von dem Leben der Frau geschrieben, das nicht in die Beliebigkeit, sondern in die Verbindlichkeit hineingestellt ist. Sie soll die Knie beugen und täglich mit ihrem Gott reden und ihm danken und ihn bitten. Sie soll die Augen aufmachen und diese Welt erkennen mit ihrer Not, wie sie ist. Sie soll die Hände aufmachen und dort anpacken, wo sie gefragt ist. Doch, dann wird Frau Vita merken: Das ist alles kein stures Müssen, sondern ein munteres Dürfen – ein nova vita, ein neues Leben mit ihm. Das wünsche ich Ihnen: Ein neues Leben mit ihm.

Ich schließe ab mit einer Erinnerung an einen lieben Freund, den Paul Deitenbeck. Viele kennen ihn, den Prediger. Und er erzählte von einer Begegnung mit dem Theologieprofessor Schniewind, der von den Nazis zwangsversetzt worden war. In einem Kreis reden sie über den Heiligen Geist, über Glauben und Wachstum. Professor Schniewind war ganz still, aber am Schluss sagte er: „Liebe Freunde, das mit dem Glauben und Wachsen ist alles recht und richtig. Aber wissen Sie denn noch, was das Wichtigste ist? Wissen Sie, was das Größte ist?“, fragte Professor Schniewind. „Remissio peccatorum, die Vergebung der Sünden, das ist das Größte.“ Das Größte ist die Vergebung der Sünden.

Meine Mutter hat mich’s damals gelehrt. Jetzt stehe ich vor den Toren der Ewigkeit, und deshalb bete ich es täglich:

„Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.

Darin will ich vor Gott besteh’n, wenn ich zum Himmel werd’ eingeh’n.“

Darauf freue ich mich.

Amen.

Pfarrer Konrad EiĂźler

Predigt vom Kongress des Gemeindehilfsbundes “Die Kraft der Vergebung – Persönlicher und gesellschaftlicher Frieden durch den christlichen Glauben” in Bad Teinach-Zavelstein am 24.3.2013.  Alle Beiträge der beiden Kongresse des Gemeindehilfsbundes in Bad Gandersheim (15.3-17.3.2013) und in Bad Teinach-Zavelstein (22.3.-24.3.2013) sind in einem Dokumentationsband für 7,60 Euro erhältlich. Er kann in der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes bestellt werden kann.

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 6. September 2013 um 11:08 und abgelegt unter Predigten / Andachten.