- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Brief an den Bundespräsidenten

Zum 25. Todestag Kurt Heimbuchers

Dillenburg, 10. Dezember 1987

Kurt Heimbucher
Pfarrer
Präses des Gnadauer Verbandes

Herrn
Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker
Villa Hammerschmidt, 5300 Bonn

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,

Herr Regierungsdirektor Mocker vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus hat mich davon unterrichtet, daß Sie mir auf Vorschlag des Bayerischen Ministerpräsidenten das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen haben.

Ich möchte mich zunächst sehr herzlich dafür bedanken, daß Sie mir diese Auszeichnung zugedacht haben.

Ich möchte Ihnen aber mitteilen, daß ich diesen Orden aus verschiedenen Gründen nicht annehmen kann und will.

Zunächst möchte ich betonen, daß ich in meinem Leben nichts Außergewöhnliches getan habe. Ich habe versucht, mit den begrenzten Gaben und Kräften, die ich habe, meine Pflicht zu tun. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit und rechtfertigt keine besondere Auszeichnung. Unzählige Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland  tun ebenso ihre Pflicht, ohne dafür einen Orden zu empfangen.

Der entscheidende Grund aber, warum ich den Orden nicht annehmen kann, liegt darin, daß mir der Staat „Bundesrepublik Deutschland“ seit einiger Zeit sehr fremd geworden ist. Es klingt pathetisch, es entspricht aber meiner Überzeugung, wenn ich sage: Ich liebe mein Vaterland. Für mich gehört  z. B. dazu auch Königsberg und Breslau, Weimar und Dresden. Aber dieser Staat, in dem ich lebe, wird mir unheimlich. Ich will Sie nicht lange aufhalten mit einer eingehenden Begründung.

Ich möchte nur darauf hinweisen, daß unser Staat es seit Jahren zuläßt, daß ungeborenes Leben getötet werden darf. Wenn ich mir die Zahlen der letzten Jahre vergegenwärtige, dann müssen es wohl schon Millionen ungeborener Kinder sein, denen das Recht auf Leben verwehrt worden ist.

Ich kann es nicht verstehen, daß unser Staat gewissen Gruppen rechtsfreie Räume gewährt und den anständigen Bürger wegen jeder Kleinigkeit zur Kasse holt. Wo bleibt da die Gleichheit vor dem Gesetz, wie sie das Grundgesetz vorgesehen hat?

Ich weiß nicht, was ich von einem Staat halten soll, der es nicht fertigbringt, seine Bürger zu schützen. Ich kenne z. B. viele Frauen, die sich abends in unseren Großstädten nicht mehr auf die Straße getrauen, weil sie den Raub ihrer Handtasche oder schlimmere Übeltaten befürchten.

Wenn die Polizei bei chaotischen Umtrieben energisch durchgreift, so wie es viele Bürger erwarten, wird sie von manchen Gruppen leider oft auch von manchen Journalisten, zu Prügelknaben der Nation gestempelt.

Die Preisgabe des deutschen Ostens durch die Herren Brandt, Bahr und Scheel in den siebziger Jahren hat mich sehr betroffen gemacht. Ich habe mir immer wieder die Rede des Baron zu Guttenberg, die er als seine letzte im Bundestag gehalten hat, angehört. Wie hat er, mit letzter physischer Kraft, vor diesen Verträgen gewarnt!

Ich könnte noch vieles, vieles nennen, was mich beschwert.

Dieser Staat ist mir fremd geworden. Dabei habe ich versucht, als ich als 17-jähriger, unverdienterweise der Hölle des Krieges entronnen, in das Trümmerfeld meiner Heimatstadt Nürnberg zurückkam, mit innerer Leidenschaft diesen Staat mitaufzubauen.

Ich bin kein Agitator gegen unseren Staat, verehrter Herr Bundespräsident. Aber mein Gewissen läßt es nicht zu, von einem Staat einen Orden anzunehmen, mit dem ich mich nicht mehr voll und ganz identifizieren kann.

Ich leide an unserem Staat, aber ich werde nicht nachlassen, in der Fürbitte für die Verantwortungsträger dieses Staates vor Gott einzutreten.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr

Kurt Heimbucher, Pfarrer

Quelle: gez. Kurt Heimbucher. Notizen aus meinem Leben. 2. Aufl. Wuppertal und Zürich 1989, S. 191-193