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Das Schweigen des Lammes

Wir alle sind zu einem gewissen Grad das Produkt unseres familiären Hintergrundes. Meine Großeltern, wie viele deutsche Juden ihrer Generation, waren überzeugte Atheisten. Doch die Eltern meines Vaters, die als Einwanderer nach England kamen, meinten, dass ihre Kinder sich dem britischen Lebensstil anpassen sollten. Aus diesem Grunde ließen sie alle ihre Kinder taufen. Meine Mutter ließ sich später als Jugendliche ebenfalls in der örtlichen Kirchengemeinde taufen, weil sie dem als eng empfundenen Leben der jüdischen Gemeinde in Manchester entfliehen wollte. In beiden Fällen wurde die Taufe nicht als ein religiöser Akt verstanden, sondern als ein kulturelles Zeichen, das dabei behilflich war, sich mit der britischen Gesellschaft zu identifizieren.

So wuchs ich ohne religiöse Unterweisung oder Praxis auf, und wenn wir überhaupt irgend etwas waren, dann waren wir „Christen“. Dementsprechend wurde ich auch als Säugling getauft. Durch Gottes Gnade bekam ich von meiner Patentante bei meiner Taufe eine Bibel geschenkt, die ich im Alter von ungefähr zehn oder elf Jahren in meinem Bücherregal entdeckte. Da mein Name im Einband stand, dachte ich mit kindlichem Stolz, dass es ein gutes Buch sein müsse, und begann darin zu lesen. Ich begann mit der Genesis und arbeitete mich beständig durch das Alte Testament ins Neue. Die aufregenden Geschichten und der jüdische Charakter dieses Buches faszinierten mich. Meine Mutter hatte uns nichts über unser jüdisches Erbe oder unsere Geschichte beigebracht, so dass die Bibel mir die Augen für eine neue Welt öffnete.

Zu dieser Zeit wurde mir mein jüdischer Hintergrund durch die schockierenden Enthüllungen in den Nachrichten über die Vorgänge in Deutschland während des Krieges näher gebracht. Ich wusste, dass ein entfernter Verwandter von uns davon betroffen war. In der Tat war die erste Person, die mir die Sehenswürdigkeiten Londons zeigte, ein in der Seele gebrochener entfernter Cousin von mir, der mit einem starken ausländischen Akzent sprach. Im Alter von dreizehn Jahren kam ich auf das Internat Charterhouse und wurde dort zur Zielscheibe massiver anti-semitischer Angriffe. Für den Zeitraum von zwei Jahren wurde ich auf üble Weise schikaniert und fühlte mich sehr elend. Während dieser Zeit las ich die Bibel ungefähr einmal im Jahr wie einen Roman von vorne bis hinten durch. Ich war fasziniert von diesem Buch!

Ein hoffnungsloser Fall

Mit fünfzehn Jahre stellte ich fest, dass Gott durch die Jahrhunderte eine ganze Reihe von Wundern für sein Volk getan hatte. Konnte er das heute auch noch? Würde er das auch für mich tun? Und existierte er tatsächlich? Es war einen Versuch wert. Aus diesen Gedanken heraus entsprang mein, wie ich meine, erstes Gebet überhaupt: „Lieber Gott, schenke mir 24 Stunden, in denen mir niemand etwas sagt oder tut.“ Ich meinte damit, dass mir niemand etwas Böses sagen oder tun solle. Doch Gott in seiner wunderbaren Gnade nahm mein Gebet wörtlich. Niemand sagte oder tat mir irgendetwas den ganzen nächsten Tag über. Kein Lehrer nahm Notiz von mir, gab mir eine Hausaufgabe oder rief mich in der Klasse auf. Wir Schüler aßen gemeinsam, aber niemand bat mich, ihm das Salz zu reichen oder den Tisch abzudecken. Als wir am Nachmittag Fußball spielten, rief mir niemand zu, ihm den Ball zuzuspielen.

Am Abend jenes Tages ging ich hinaus zur Schulkapelle, einem langgestreckten Gebäude mit einer hohen Decke. Ich stand im Dunklen an einen Ende des Schiffes und übereignete Gott mit lauter Stimme mein Leben. Ich meine, dass dies der Moment meiner geistlichen Neugeburt war. Von da an lebte ich sehr fromm und wollte Gott mit meinem Leben gefallen. Ich nahm meist an den täglichen Schulandachten teil und wurde konfirmiert. Doch ich versuchte Gott vor allem aus eigener Kraft zu gefallen und ihm zu folgen. Es war wohl weniger sein Werk. Diese Phase dauerte für die restliche Schulzeit und die Zeit des Wehrdienstes an, in der ich in der Marine zum Russisch-Dolmetscher ausgebildet wurde. Mit zwanzig Jahren kam ich zur Universität von Oxford. Dort wurde ich von einem jungen Christen angesprochen, der mich für Christus gewinnen wollte. Er lud mich auf sein Zimmer ein und fragte mich, ob ich gerne einen „Drink“ wolle und machte mir, als ich bejaht hatte, eine Ovomaltine. Da ich gerade von der Marine kam, hatte ich unter einem „Drink“ doch etwas Stärkeres verstanden.

Nach dieser Begegnung erklärte mein Freund bei einem Gebetstreffen der „Christian Union“ (Studentenmission), dass er versucht habe, mir das Evangelium zu erklären, ich aber wohl ein hoffnungsloser Fall sein. Das hörte ein anderer Student, der davon überzeugt war, dass es für Gott keine hoffnungslosen Fälle gibt. Er kam mit meiner Art besser klar und erklärte mir in einfachen Worten das Konzept der Gnade. Nicht, was ich für Gott täte, sondern was Gott im Tod und in der Auferstehung Jesu für mich getan hat, sei entscheidend. Diese Offenbarung veränderte mein Leben grundlegend und begeisterte mich für Jesus Christus.

Ein Jude unter Muslimen

Als ich der „Christian Union“ (CU) beitrat, waren nur vier oder fünf von den 250 Studenten unseres Colleges Mitglieder der CU. Aber Gott wirkte ganz wunderbar in diesem Jahr, so dass viele zum Glauben an Jesus fanden. Am Ende des Jahres hatten wir eine dynamische „Christian Union“ – Arbeit mit rund 60 Mitgliedern. Die Umstände brachten es mit sich, dass ich lernte, wie man Menschen zu Christus führt, wie man Jünger macht, Bibelstunden und Gebetstreffen leitet. Diese Erfahrung, dass viele Menschen zum Herrn fanden, war eine ausgezeichnete Vorbereitung für meinen späteren Missionsdienst mit OMF (Overseas Mission Fellowship / Überseeische Missionsgemeinschaft) in Indonesien, wo wir mit einer ortsansässigen Reformierten Kirche zusammenarbeiten und uns inmitten einer Massenbewegung zu Gott wiederfanden.

Als wir 1961 nach Indonesien gingen, waren im Volk der Karo Batak, unter dem wir arbeiteten, gerade einmal 20.000 Christen. Heute, über 40 Jahre später, sind es rund 350.000 Christen. Es war ganz wunderbar mitzuerleben, wie Gott zu Tausenden Menschenleben veränderte, wie Gemeinden gegründet wurden und viele zum Herrn fanden. Der asiatische Charakter der Karo Batak-Kirche regte mich an, darüber nachzudenken, was es bedeutet Jude und Christ zu sein. Wie sieht ein jüdisches Verständnis der Bibel aus? Wie formulieren wir Juden Theologie? Wie sieht jüdische Anbetung aus, wie kommunizieren wir und was für einen Führungsstil haben wir?

Die Karo Batak hatten meist einen animistischen Hintergrund, doch gab es auch einige Muslime. Mein Herz hatte sich ihnen bereits durch frühere Begegnungen in Malaysia, in der wohlhabenden Stadt Singapur und in den ländlichen Regionen im Süden Thailands zugewandt. Als Jude entdeckte ich schnell, dass islamischer Glaube und Glaubenspraxis stark durch die arabischen Wurzeln gespeist war. Juden und Araber sind beide semitische Völker, so dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Ich stellte fest, dass mein jüdischer Hintergrund mir half, mich in meine muslimischen Freunde hineinzuversetzen und ihnen so das Evangelium effektiver zu vermitteln.

All Nations Christan College

Nach zehn Jahren mit OMF in Asien wurden meine Frau und ich angefragt, am All Nations Christian College (ANCC), Studenten auf den Missionsdienst in anderen Kulturen vorzubereiten. 24 Jahre gehörten wir zu den vollzeitlichen Mitarbeitern des ANCC und halfen mit, rund 2.000 Absolventen auf den Missionsdienst unter Juden und Heiden in allen Nationen vorzubereiten. Es hat uns immer wieder fasziniert, so viele Absolventen zu erleben, die einen solch fruchtbaren Dienst an so vielen Orten und in ganz unterschiedlichen Organisationen tun, darunter „Christian Witness to Israel“ (CWI) und andere jüdische Missionen.

Im Jahr 1994 wurden wir vom hauptamtlichen Dienst am ANCC freigestellt, um Dienste in Kirchengemeinden, Studentenmissionsgruppen, Bibelschulen und Konferenzen in Großbritannien und weltweit wahrnehmen zu können. Es ist ein echtes Privileg, aus erster Hand zu erfahren, was Gott in so vielen Ländern der Erde und auf allen Kontinenten tut. Auch sind wir sehr dankbar, als assoziierte Lehrkraft am ANCC weiterhin einige Unterrichtsstunden geben zu dürfen. Da wir in der Nähe des Campus leben, haben wir die Möglichkeit, Studenten auf einen Kaffee und für ein Gespräch einzuladen, was wir sehr genießen. Wenn wir zu Hause sind, freuen wir uns an dem Vorrecht, unsere drei wunderbaren Kinder und sieben Enkelkinder zu sehen. Was ist es doch in diesen Tagen für ein Privileg, von einer liebenden Familie umgeben zu sein. In diesem Umfeld schreiben mein Frau und ich unsere Bücher und wir beten, dass Gott uns und unsere Bücher zu seiner Ehre gebrauchen wird.

Martin Goldsmith

Quelle: Christian Witness to Israel (CWI) [1]

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und CWI.

Übersetzt von Prediger Johann Hesse.