- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Was ist Vergebung?

Was ist eigentlich Vergebung? Ich möchte in zehn Schritten uns dieses Thema nahe bringen.

Zunächst könnte man meinen, das sei uns Christen doch wohl längst klar. Vergebung ist das Zentrum unseres Glaubens, und wir können die Vergebung unserer Schuld durch Jesus Christus in Anspruch nehmen. Aber bei genauerem Hinsehen – und damit meine ich nicht nur das Stichwort Vergebung, sondern ich meine auch die Wirklichkeit in unseren Familien, in unseren Gemeinden und in unserer Gesellschaft – merkt man: So einfach ist das Thema doch nicht zu bewältigen. Deswegen wollen wir jetzt in zehn Schritten einen neuen Anlauf unternehmen, das Wunder der Vergebung neu zu hören und neu zu verstehen.

1. Schuld und Sünde – Fehlanzeige heute

Ich beginne mit einem Blick in unsere gesellschaftliche Wirklichkeit, in der man Schuld und Sünde so wunderbar ausgemerzt hat. Es gibt zwar noch einige Restbestände, z. B. in Flensburg und bei den Steuerfahndungsbehörden. Dort gibt es noch Verkehrs- und Steuersünder. Aber ansonsten sind Sünde und Sünder ausgewandert aus unserem öffentlichen Sprachgebrauch. Sehen wir uns kurz einige Etappen in dieser Entwicklung an.

Schon seit 1969 gibt es den Begriff Ehebruch im deutschen Strafgesetzbuch nicht mehr. Seit Mitte 1977 wird bei Ehescheidungsverfahren gar nicht mehr nach der Schuld gefragt, sondern es wird nur noch die sogenannte Zerrüttung festgestellt. Seit der Einführung des § 218b im Jahre 1995 ist auch die Abtreibung kein schuldhaftes Vergehen mehr, sondern ist weder rechtswidrig noch strafbar, wenn – so wörtlich – der „Schwangerschaftsabbruch nach Beratung von einem Arzt vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind“.

So kann man also auch mit Schuld umgehen: Man diskutiert sie weg, man verschweigt sie, man macht sie einfach nicht mehr zum Thema. Wie viele haben nach der Einführung des sogenannten Zerrüttungsprinzips geradezu aufgeatmet und erleichtert festgestellt, dass jetzt endlich keine schmutzige Wäsche mehr gewaschen wird. Das gehört sich einfach nicht, dass so etwas in einer öffentlichen Verhandlung besprochen wird, was hier in den krisenhaften Ehen im Gange war und im Gange ist. Aber kaum jemand kam auf die Idee, den unendlichen Kulturverfall mit zu bedenken, der sich hier abzeichnet: Dass der Mensch als ein schuldfähiges Wesen gar nicht mehr ernst genommen wird. Man muss nur auf die Internetseite „Juraforum“ sehen. Da unterhalten sich Juristen, und dort, ganz aktuell, immer noch festgestellt, was das doch für eine Erleichterung ist, dass Ehescheidungen heute ohne den Schuldfaktor abgewickelt werden können.

Angesichts dieser gesellschaftlichen Verschweigungsstrategie muss die Gegenfrage erlaubt sein: Ist denn der Schuldfaktor beseitigt, wenn ich ihn verschweige? Wenn ich Schuld nicht mehr beim Namen nenne – ist sie dann weg? Das wäre ja wunderbar. Wir reden alle nicht mehr von Schuld, und damit ist sie beseitigt! Nehmen wir dem Menschen nicht ein Stück von seinem Menschsein weg, wenn wir seine Schuldfähigkeit – die er ja im Unterschied zum Tier hat – nicht mehr ernst nehmen?

Unser Kongressthema ist ja bewusst so gewählt, dass wir nicht nur die persönliche Seite der Schuld bedenken, sondern auch ihre Auswirkungen in die Gesellschaft hinein betrachten. Und ein Blick in unsere Gesellschaft zeigt, dass der öffentliche Umgangston in demn letzten Jahrzehnten rauher geworden ist, dass die Meinungsfreiheit, gerade auch von uns Christen, immer mehr eingeschränkt wird (z. B. durch die sog. „Anti-Diskriminierungs-Gesetze“), dass die öffentliche politische Rede immer hohler, immer floskelhafter und immer unangreifbarer wird. Man drückt sich so aus, dass man möglichst niemand zu nahe tritt. Öffentliche Verstöße gegen die sogenannte „political correctness“ werden von unserer Medienindustrie bitter geahndet.

Mir fiel das zum ersten Mal im Jahr 1988 auf, als Philipp Jenninger eine Rede zum Verhältnis Deutschland-Israel gehalten hat und in drei oder vier Sätzen eine etwas missverständliche Formulierungen gebrauchte. Daraufhin standen etliche Bundestagsabgeordnete unter Protest auf und verließen demonstrativ den Saal. Dieser Mann erhielt keine Gelegenheit, die Dinge richtig zu stellen, zu korrigieren und vielleicht dort, wo er eine unglückliche Formulierung gewählt hat, um Nachsicht zu bitten. Er war buchstäblich „weg vom Fenster“. Das ist die neue gesellschaftliche Kälte, die wir uns geschaffen haben. Könnte es vielleicht sein, dass unsere Gesellschaft die Wirklichkeit der Vergebung Gottes weitgehend verloren hat und deswegen mit Schuld und Sünde nicht mehr umgehen kann?

2. Schuld zerstört

Jeder kennt die zerstörerische Dynamik der Schuld. Sie vergiftet Verhältnisse. Sie potenziert sich, sie ist wie Krebs. Sie macht Angst. Sie führt in Resignation. Sie führt in Verzweiflung. Sie führt zu Mord und Totschlag. Das zeigt die Geschichte der Menschheit. Das zeigen menschliche Biographien, und das zeigt unsere Erfahrung.

Wer einmal in Israel war oder Gelegenheit hatte, mit Muslimen zu reden und auf das Thema „Kreuzzüge“ gekommen ist, der wird ziemliches Entsetzen auslösen, sowohl bei Juden als auch bei Muslimen. Das deutsche Wort Kreuzzug gehört dort zum Sprachschatz. So tief hat sich die Schuld der christlichen Kreuzritter im Bewusstsein dieser Völker eingegraben, dass dort im Namen Jesu Juden und Muslime umgebracht wurden und die Kreuzritter mit blutverschmierten Stiefeln Abendmahl gefeiert und Jesus Christus gelobt haben. Darüber gibt es bewegende Berichte. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Das ist eine Schuldgeschichte, die wir Christen geschrieben haben.

Denken wir an das vergiftete Verhältnis zwischen Türken und Armeniern. Auch hier hat unvergebene Schuld ganze Völker entzweit und entfremdet. Denken wir an Arbeitsverhältnisse, in denen gemobbt wird, in denen auf Kosten anderer die Ellenbogen-Politik durchgesetzt wird. Denken wir an die unzähligen Kinderseelen, die oft jahrzehntelang darunter leiden, dass ihre Eltern sich haben scheiden lassen. Sie konnten diese Not niemals richtig reflektieren und verarbeiten, haben oft sich selber als Schuldige gesehen, dass die Ehe der Eltern auseinander ging. Diese Kinder sind oft traumatisch gestört, womöglich bis an ihr Lebensende geschädigt, wenn sie keine Hilfe bekommen.

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und einige Politiker-Biographien näher angesehen. Es ist ja immer gut, die Familienverhältnisse mit zu bedenken, wenn jemand in einem öffentlichen Amt steht. Im Blick auf die Theologen gibt es den Spruch, und ein Körnlein Wahrheit steckt da bestimmt drin: Die Theologie ist zu 50 % Biographie. Wenn wir hören, dass Karl Theodor zu Guttenberg sechs Jahre alt war, als sich seine Eltern geschieden haben, dass Guido Westerwelle acht Jahre alt war, dass Sigmar Gabriel drei Jahre alt war, dann frage ich mich, ob diese Menschen diese Lebensnöte innerlich verkraftet und verarbeitet haben, oder ob da vielleicht ein Liebesdefizit entstanden ist, dass nun in irgendeiner Weise wieder aufgeholt werden muß, durch öffentliche Anerkennung?

Machen wir uns die Mühe, hinter die Kulissen zu schauen, soweit wir eben können, und die zerstörerische Kraft unvergebener Schuld in den Biographien der Menschen, gerade auch von Menschen, die uns vielleicht nicht so sehr sympathisch sind, zu suchen. Wir sind seit vielen Jahren mit einer Frau befreundet, die als Kind mehrfach missbraucht wurde und die unfähig ist zu einer Ehe, die aber doch gläubig geworden ist und bei allen Schmerzen – und die gehen bei ihr auch immer in Physische hinein –ein fröhlicher Mensch geworden ist. Das ist eigentlich unfassbar. Aber hier sehen wir etwas von der Kraft der Vergebung. Wie gut, dass es auch solche Beispiele gibt.

Ich sagte, dass Schuld auch entsetzliche Angst bewirken kann. Neulich habe ich gelesen, dass Stalin in seinen letzten Lebensjahren sieben Schlafzimmer hatte. Niemand wusste, wo dieser Mann schläft, auch seine engsten Diener und Vertrauten nicht. Solch eine Angst hatte er vor der Rache derer, an denen er schuldig geworden war! Ich bin in der DDR aufgewachsen und weiß noch, als Stalin 1953 starb, wie im Leipziger Stadtrundfunk die Todesmeldung durch die riesigen öffentlichen Lautsprecher kam. Alle standen betreten still. Aber dass dieser Mann so von Angst zerfressen war, davon hat man damals natürlich nichts gehört.

3. Vergebung – das einzige wirksame Gegenmittel gegen die Schuld

Ich bin froh, dass ich überhaupt hier stehen kann, denn ich war drei Wochen von einer unangenehmen Virusinfektion heimgesucht, die sich auf Hals und Stimme gelegt hatte. Und ich war dankbar, dass ich ein altes Hausmittel gegen meine Halsschmerzen anwenden konnte.

So ist es mit der Schuld. Auch da brauchen wir ein wirksames Gegenmittel. Da hilft kein Bagatellisierung, kein Verlagern, kein Verschweigen, kein Sich-Ablenken. Bei Schuld hilft nur Vergebung. Wenn wir das Christentum einmal kulturgeschichtlich ansehen, dann machen wir erstaunliche Feststellungen: Jesus hat eine neue Kultur begründet, eine Vergebungskultur. Er hat mit seiner Existenz und mit seinem Handeln den Geist der Rache überwunden, und als der Auferstandene wirkt er durch den Heiligen Geist fort und fort in diesem Sinn. Bis in Jesu irdische Zeit hinein herrschte ein ganz anderes Prinzip: Das „Lamech-Prinzip“. Wenn einer mir zu nahe tritt und schuldig an mir wird, dem zahle ich es 77 mal heim. Das kann man beim alttestamentlichen Lamech nachlesen. (Nicht zu verwechseln mit dem Lamech, der der Vater Noahs geworden ist). Wie du mir, so ich dir, aber ich setze noch eins drauf. Aber als Petrus fragte, wie oft man vergeben soll, da antwortete Jesus: ebenfalls „77mal“. Das ist doch augenscheinlich, dass er hier den alttestamentlichen Lamech überwindet. So heißt es im Römerbrief: „Überwinde das Schlechte mit Gutem“ (Röm.12,21). Das ist ein völlig neuer Lebensstil, so wie ihn die Welt bisher nicht kannte.

Ich bin überzeugt, dass sich diese Vergebungskultur auch über das Christentum hinaus in die ganze Welt ausgebreitet hat und noch ausbreitet, bis in den Hinduismus, bis in das Judentum und andere Religionen hinein. Die Vergebung hat kulturprägende Kraft bekommen.

1922 wurde Walther Rathenau ermordet, der damalige deutsche Außenminister. Es gibt bewegende zeitgenössische Berichte, wie das damals aufgenommen wurde. Walter Rathenaus Mutter war Jüdin; und sie schrieb einen bewegenden Vergebungsbrief an die Mutter eines der Mörder ihres Sohnes. Ich zitiere einen Satz: „Sagen Sie Ihrem Sohn, dass ich ihm im Namen des Ermordeten und im Geist verzeihe.“ Das sagt eine Jüdin. Das ist Vergebungskultur. Das ist die Kraft der Vergebung.

Ich werde eine Beerdigung nicht vergessen, die ich vor Jahren in Berlin zu halten hatte. Ich nahm zusammen mit meiner Frau an dieser Beerdigung teil. Beim üblichen Beerdigungskaffee saß ich neben einem Sohn des Verstorbenen. Der sagte zu mir: „Wissen Sie, was unser Vater gemacht hat, als es bei ihm ans Sterben ging? Er hat uns zwei Söhne zu sich an sein Sterbebett gerufen und uns gefragt, ob noch irgendwelcher Groll in unseren Herzen ihm gegenüber besteht. Dann wolle er uns um Vergebung bitten“. Der Sohn sagte, dass er diesen Abschied nie vergessen werde. Sie konnten offen über alles sprechen, und der Vater hat die Söhne um Vergebung gebeten.

Ist das nicht etwas Großes, wenn ein Vater seinen Sohn oder seine Tochter – und man kann es auch auf die Mutter beziehen – um Vergebung bitten kann? Ich habe das auch gemacht. Wir sagen dasr in unseren Eheseminaren immer wieder. Denn hier geht es ja los. Wie viele Väter sind zu stolz und meinen, sie hätten in der Erziehung alles richtig gemacht. Dabei haben sie so viele Fehler produziert! Das sage ich den Vätern hier einmal ganz persönlich: Gehe auf deine Kinder zu, solange du noch lebst und solange du noch reden und das mit ihnen klären kannst. So wird Schuld zwischenmenschlich ausgelöscht.

Nichts anderes machen wir in unseren ehe-seelsorgerlichen Gesprächen, dass wir sehr schnell auf dieses Thema kommen: haben Sie sich gegenseitig schon einmal Schuld vergeben? Es ist ja erstaunlich, wie auch in christlichen Ehen „olle Kamellen“, die eigentlich schon zwanzig Jahre zurückliegen, plötzlich in der Auseinandersetzung wieder auf den Tisch kommen. Dann fragen meine Frau und ich: „Sagen Sie einmal, Sie sind Christen und sind noch nicht auf die Idee zu kommen, das zu vergeben? Wie kommen Sie dazu, dieses alte Geschehnis jetzt in diesem Gespräch noch einmal auf den Tisch zu legen?!“ Da fasst man sich mitunter an den Kopf. Dann bohren wir weiter und fragen, ob das betreffende Paar überhaupt schon einmal an einem Beichtgespräch teilgenommen hat und ob es einen Seelsorger kennt, zu dem es gehen könnte, der ihnen im Namen Gottes die Vergebung zusprechen könnte. Aber oft wissen sie das gar nicht. Und dann gehen wir noch weiter und fragen nach vorehelichem Intimverkehr. Wurde hier auch Schuld in die Ehe hineingeholt? Manche wundern sich, dass im Laufe der Ehe die Beziehungen erkalten, aber sie finden keine griffige Antwort. Wenn wir dann diese Frage stellen, bejahen sie viele Paare. Dann bieten wir die Gelegenheit, das vor Gott auszusprechen und sich im Namen des dreieinigen Gottes die Vergebung zusprechen zu lassen.

Vergebung löscht Schuld aus: Zwischenmenschlich, aber auch vor Gott. Wenn ein Mensch versteht, daß er nicht nur vor Menschen, sondern auch vor Gott in Schuld gefallen ist und Gottes Vergebung sucht, dann darf er Gott um Vergebung bitten. Und Christen dürfen sie ihm persönlich zusprechen. Das ist ein großartiges Geschehen. Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, als jemandem Gottes Vergebung zuzusprechen: „In der Kraft des Befehls, den der Herr Jesus Christus Seiner Gemeinde gegeben hat und als berufener Diener am Evangelium spreche ich dich frei und ledig von der Schuld, die du jetzt bekannt hast vor Gottes Angesicht. Sie ist dir vergeben im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gehe hin, sündige hinfort nicht mehr. Der Gott des Friedens reinige und heilige dich an Leib, Seele und Geist, dass du unsträflich bist am Tag der Wiederkunft Jesu Christi. Der Friede Gottes sei mit dir! Amen.“

Anderen Menschen die Vergebung Gottes zuzusprechen, wenn sie diese bereuen und um Vergebung bitten, das ist ein wunderbares Vorrecht der Christen. Das hat uns Jesus nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten! Wir sind als Christen dazu bevollmächtigt: „Was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Matth. 18,18); „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander“ (Jak. 5,16).

4. Die Pflicht zur Vergebung

Nun könnte jemand sagen: „Ich weiß, ich habe die Möglichkeit, denen zu vergeben, die an mir schuldig geworden sind.. Ich will es mir auch überlegen, und ich versuche es auch. Aber es fällt mir sehr schwer. Ich glaube, ich schaffe es nicht, einem anderen zu vergeben, der an mir schuldig geworden ist.“ Da muss man dann sagen: „Lieber Bruder, liebe Schwester, es steht nicht in deinem Belieben. Du stehst in der Pflicht!“

Wir leben als Christen in der Pflicht zur Vergebung. Sehen wir uns einmal das Gleichnis vom Schalksknecht an (Matth. 18,23ff). Das sind ernste Aussagen! Wer nicht vergibt, riskiert, dass Gott seine Barmherzigkeit von ihm selber abwendet! Haben wir uns das schon einmal klar gemacht? Wenn wir nicht bereit sind, anderen zu vergeben, trüben und belasten wir unser eigenes Verhältnis zu Gott. „Und der Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern“ (Matth. 18,34). Also ihn, der nicht bereit war, dem anderen, der ihm geringfügig schuldig war, das zu vergeben und zu erlassen.

Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, wie die fünfte Vaterunser-Bitte wörtlich übersetzt heißt? „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben haben!“ Das geht voraus. So heißt es im Urtext. Vergebung ist also nicht in unser Belieben gelegt. Diese Pflicht zur Vergebung, die wir als Christen haben, duldet keine Ausnahme. Man hört immer wieder den Vorbehalt: „Wenn der andere wenigstens ein Zeichen gäbe, dass ihm das leid tut, dann würde und könnte ich ihm ja auch vergeben. Aber er ist sich überhaupt keiner Schuld bewusst!“ Sind wir berechtigt, Ausnahmen zu machen? Ich denke nicht. Die Pflicht zur Vergebung gilt jedem, der an uns schuldig geworden ist, ob er seine Schuld einsieht oder nicht. Das spielt dabei keine Rolle. Natürlich handelt es sich in diesen Fällen um Vergebungsakte, die wir zunächst vor Gott aussprechen. Dem betreffenden Menschen können wir sie erst dann zusprechen, wenn er um Vergebung gebeten hat.

Es gibt nun aber auch Christenmenschen, die haben ein so tiefes Unrecht erlitten, dass sie zwar in ihrem Glauben bereit sind zu vergeben, es aber praktisch nicht schaffen. Sie dürfen nicht überfordert werden. Ihnen muß Zeit gelassen werden. Wenn sie im Glauben leben, wird sie der Heilige Geist eines Tages an der Hand nehmen und auch ihnen die Kraft zur vollen Vergebung verleihen.

5. Die horizontale und vertikale Dimension der Schuld

Schuld hat immer eine horizontale und eine vertikale Dimension. Es geht nicht nur um das zwischenmenschliche Verhältnis, so wichtig das auch für uns und andere ist. Es geht auch um unser persönliches Verhältnis zu Gott. Neulich habe ich mit einem Krankenpfleger gesprochen. Er sagte mir aufgrund seiner langjährigen Erfahrung, dass Christen, die aus der Vergebung leben und Vergebung auch weitergeben, im allgemeinen schneller ablaufende Genesungsprozesse haben. Von dieser Seite hatte ich Vergebung noch nicht betrachtet. Ist das nicht interessant, die Vergebung scheint eine allgemeine Heilwirkung zu haben.

Im Blick auf Gott, also im Blick auf die vertikale Dimension, ist Schuld noch gefährlicher als in der zwischenmenschlichen Dimension! Die Bibel sagt uns, dass die Schuld die unangenehme Eigenschaft hat, das Angesicht Gottes vor uns zu verdecken. Dann betet man und bekommt immer wieder den Eindruck, die Gebete bleiben an der Decke stecken. Das hört man ja manchmal. Wenn Gottes Angesicht vor uns verdeckt ist, dann verstehen wir auch sein Handeln nicht. Viele Menschen haben angesichts der Katastrophen und der Nöte in dieser Welt und in ihrem eigenen Leben große Probleme mit Gott. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob es nicht ihre eigene unvergebene Schuld ist, die sie daran hindert, Gott zu verstehen, Gott zu sehen.

Es gibt die kleine Geschichte von einem gläubigen Matrosen, der andauernd auf See wegen seines Glaubens gehänselt wurde. Die ganze Mannschaft einschließlich des Kapitäns nahm ihn immer wieder hoch. Eines Tages versammelt sich die Matrosenmannschaft bei schönem Wetter wieder auf Deck. Der Kapitän nimmt sein Fernglas, sucht den ganzen Horizont ab und sagt zu dem gläubigen Matrosen: „Jetzt habe ich wieder den ganzen Horizont abgesucht, und wieder habe ich Gott nicht gesehen!“ Alle lachen, aber der Matrose sagt: „Herr Kapitän, in meiner Bibel steht: Die reinen Herzens sind, die werden Gott schauen!“ (Matth. 5,8). Ist das nicht eine großartige Antwort? Das ist die eine unangenehme Folge von Schuld: Dass sie uns Gottes Angesicht verdeckt und sein Handeln unverständlich macht.

Die andere noch schlimmere Folge: Unsere Schuld zieht Gottes Zorn auf uns, zeitlich und ewiglich. Röm.1,18 ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Stelle. Hier werden die Verstöße der ganzen Menschheit gegen die Erste und die Zweite Tafel der Zehn Gebote in einem einzigen Satz zusammen gefasst. Paulus sagt hier, dass unsere Schuld uns den Zorn Gottes bringt – zeitlich und ewiglich, unsere Gottlosigkeit und unsere Bösartigkeit. „Die Sünde ist der Leute Verderben“ (Spr. 14,34). Die unvergebene Schuld zieht die Menschen wie die Strömung vor dem Niagarafall in das Gericht Gottes hinein, ob sie wollen oder nicht. Dieses Gericht Gottes benennt Jesus in Joh. 5,29 deutlich. Es gibt eine Auferstehung zum Leben für die, die sich haben erlösen lassen durch Christus – ganz bestimmt! Aber Jesus sagt weiter: Es gibt auch eine Auferstehung zum Gericht. Da wirst der Mensch, ob er will oder nicht, ins Gericht Gottes hineingezogen, das vor dem weißen Thron stattfinden wird, von dem Offb. 20,11 spricht.

6. Die Vergebung der Schuld vor Gott

Jetzt möchte ich über die Vergebung der Schuld vor Gott etwas sagen. Dazu erinnere ich uns an eine bestimmte Episode im Neuen Testament, die wir alle kennen, und die uns immer wieder so nachgeht. Im Markus-Evangelium Kap. 2,1-11 wird berichtet, dass vier Leute einen Gelähmten durchs Dach eines Hauses herunterlassen. Das Ganze ist ja nicht ohne Humor, nicht ohne Tragik, vor allem aber nicht ohne Tiefgang. Erwartungsvolles Schweigen im ganzen Saal – das kann ich mir lebhaft vorstellen. Jesus war bekannt. Viele erwarten ein Wunder, eine Heilung. Jesus geht auf diesen Mann zu, der da auf einer Pritsche vor ihm liegt. Aber er sagt zu ihm: „Dir sind deine Sünden vergeben“ (Mk.2,5). Damit hatte niemand gerechnet, dass Jesus die Vergebung der Schuld wichtiger nimmt als die körperliche Heilung. Darauf folgt die große Empörung der Frommen Israels: „Was? Der maßt sich an, Schuld zu vergeben? Das kann doch nur Gott!“ Aber Jesus hat ganz bewusst diese Reihenfolge gewählt, um ein für alle Mal klarzustellen: Die Vergebung deiner Schuld ist unendlich wichtiger als die Heilung deiner Gebrechen. Als die Schriftgelehrten und Pharisäer ihm eine Frau bringen, die gerade beim Ehebruch ertappt worden war – was macht Jesus? Er spricht auch ihr die Vergebung ihrer Schuld zu. „Ich verdamme dich auch nicht!“ (Joh. 8,1-11).  

Das sind zwei Hinweise, dass die Vergebung unserer Schuld vor Gott unendlich wichtig ist. Das Vaterunser ist eine Lektion für unser ganzes Leben. Immer wieder sollte man das Vaterunser studieren. Die vierte Bitte um das tägliche Brot bittet Gott um die Leibsorge. Hier geht ja nicht nur um das Brot, sondern um unsere ganzen äußeren Lebensbedingungen. Aber nun die fünfte Bitte. Sie bittet Gott um Seelsorge. Leibsorge und Seelsorge gehören bei Jesus aufs engste zusammen. Dass beides im Vaterunser, das Jesus seine Nachfolger lehrte, in einer Linie so dicht zusammensteht, das heißt doch nichts anderes als dies, dass Vergebung genau so wichtig für die Seele ist wie das tägliche Brot für unseren Körper. Was sammelt sich immer wieder alles an unvergebener Schuld an, wenn wir ehrlich mit uns sind: Die vielen Unterlassungssünden, die vielen Trägheiten des Herzens, die Lieblosigkeiten, die falschen Prioritäten, die Wahl des falschen Zeitpunktes. Was ist da immer wieder an Schuldmasse am Ende eines Tages vorhanden! Seitdem mir das klar geworden ist, beginne ich keinen Tag meine Gebete, ohne dass ich nicht am Morgen Gott um Vergebung meiner Schuld bitte: „Herr, vergib mir meine Schuld und gib mir reine Lippen!“

Sollten wir uns das nicht alle angewöhnen, die tägliche Bitte um Vergebung? Christen sind doch nach wie vor Sünder, liebe Brüder und Schwestern, sie sind aber begnadigte Sünder! Sie heben doch nicht ab in Sphären, wo keine Sünde mehr wäre. Ich hoffe nicht, dass jemand die Überzeugung von Jonathan Paul teilt, der 1905 öffentlich sagte: „Liebe Brüder und Schwestern, ich habe seit drei Wochen meinen alten Adam nicht mehr gesehen.“ Kein Sünder mehr – drei Wochen lang! Ich hätte mit dem lieben Bruder gern einmal reden wollen. Ich hätte ihm gesagt: „Lieber Bruder, ich habe meinen alten Adam heute schon mindestens 30 mal gesehen…!“ Bleiben wir doch auf dem Teppich: Wir sind doch als Christen nach wie vor Sünder – aber eben begnadigte Sünder.

7. Vom Wunder der Vergebung

Jetzt komme ich zum Wunder der Vergebung Gottes. Dass der lebendige dreieinige Gott all unsere Schuld durchstreicht, wenn wir ihn darum bitten, ist und bleibt ein unendliches und unermessliches Wunder! Das Wunder ist so groß, dass man schon fast Verständnis für diejenigen haben kann, die dieses Wunder nicht begreifen oder an ihm herumdeuteln.

Jetzt hat mir jemand ein Zeitungsinterview aus der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen geschickt. Ein Superintendent wurde darin nach der Bedeutung des Sühnetodes Jesu gefragt: „Die Frage, mit der Sie sich am Sonntag zum Abschluss der diesjährigen Predigtreihe beschäftigen werden, lautet: Jesus – für mich gestorben. Muss ich mir wirklich vorstellen, Jesus sei für mich persönlich von Gott geopfert worden?“ Seine Antwort: „Nein. Er ist stellvertretend gestorben um der Wahrheit willen, wie viele Märtyrer in unserer Geschichte nach ihm.“ Frage: „Aber nach christlichem Verständnis ist er doch für meine Sünden gestorben!“ Das fragt wohlgemerkt der Journalist! Der Superintendent antwortet: „Ja, das gibt es, dass jemand für einen anderen den Kopf hinhält. Aber dass Gott zornig über die Menschen ist und sein Zorn lediglich durch ein Blutopfer an seinem eigenen Sohn befriedigt werden kann, übersteigt meine Vorstellungskraft. Was für ein blutrünstiges Gottesbild.“ Die nächste Frage war dann noch: „Wie lautet denn Ihre Antwort auf die Frage nach dem Opfertod Jesu?“ Die Antwort: „Die Vorstellung vom Gotteslamm ist ein altes Bild, das übersetzt werden will. Gott hat seinen Sohn nicht zur Versöhnung geopfert.“ Frage: „Sondern?“ – „Jesus hat ein Leben gelebt, wie Gott es für uns gedacht hat. Er hat sich diesem Leben und diesem Gott anvertraut und ist beidem bis zum Schluss treu geblieben. Das ist Liebe.“

Hier wird das Zentrum des christlichen Glaubens geleugnet und uminterpretiert. Es ist tragisch, wenn das mitten in der Kirche geschieht. Da hat einer, der es eigentlich wissen müßte, das Wunder der Vergebung weder verinnerlicht noch verstanden. Die Wahrheit ist anders als dieser Superintendent meint: Gott legt unsere Strafe auf seinen Sohn, und sein Sohn stirbt für uns, für dich und mich. Er gibt sein Blut als Sühne für unsere Schuld. Wer diese Wahrheit nicht hören will, verabschiedet sich aus dem Gesamtzeugnis der Bibel. Denn es ist nicht nur im Neuen Testament bezeugt, dass ein stellvertretendes Blutopfer nötig ist, weil die Schuld ein so gravierendes Geschehen ist, dass sie nur durch Tod gesühnt werden kann. Das wissen wir von Anfang an.

Schon die Felle, die Adam und Eva umgelegt bekamen, sind ein Hinweis auf das Kreuz. Das muss ich geistlich deuten. Da hat Gott Adam und Eva eine Botschaft mitgegeben. „Es musste Blut fließen für Euch, Sünde ist ein so schwer wiegendes Vergehen, dass es nur durch den Tod gesühnt werden kann“. Ein anderes Beispiel ist Abels Opfer. Warum wurde es angenommen und dasjenige Kains nicht? Weil er es verstanden und praktiziert hat, dass er sich als sündhafter Mensch Gott nur nähern kann, wenn Gott in seiner Gnade ein stellvertretendes Blutopfer ansieht. Das wusste Kain auch, aber er handelte anders. Alle Kinder Adams und Evas wussten, was die Felle für eine Botschaft waren. Aber der eine hörte auf die Botschaft, der andere nicht.

Ich habe oft über den Opfergang Abrahams nachgedacht. Was ist das für ein harter Weg mit Isaak gewesen, auf den er Jahrzehnte gewartet hat. Mir ist klar geworden, warum Gott diesen Weg Abraham zugemutet hat: Er wollte einem einzigen Menschen einmal das zu verstehen und zu erleiden geben, was ihm selber geschah, dass er sich von seinem eigenen geliebten Sohn trennen und ihm diesen Tod und diese Schmerzen auferlegen muss. Das war ein Blick in Gottes innerstes Herz. Und Abraham ist eigentlich stellvertretend für uns alle diesen Opferweg gegangen. Wir alle sollen diesen Blick in Gottes Herz werfen und das Wunder seiner Liebe entdecken, die den eigenen Sohn nicht verschont, um die Menschheit zu erretten.

All das sind Hinweise, schon vom Uranfang der Menschheit, die zum Kreuz hinführen. Viele andere kommen hinzu. Ich nenne nur noch eins: Der große Versöhnungstag in 3. Mose 16. Man muss mit Blindheit geschlagen sein, wenn man diese Botschaft nicht wahrnimmt. Wer da noch über andere Wege der Vergebung spekuliert, bagatellisiert die menschliche Sünde und vergreift sich an der Heiligkeit Gottes. Anders kann man das nicht sagen.

8. Die Freude der Vergebung

Jetzt bin ich beim schönsten Abschnitt: Die Freude der Vergebung. Die hat niemand so schön auf einen Nenner gebracht wie Martin Luther im Kleinen Katechismus in der Betrachtung zum Heiligen Abendmahl. Dort sagt er: „Wo Vergebung ist, da ist Leben und Seligkeit!“ Besser kann man es nicht sagen. Wo Vergebung ist, da ist Leben. Da blüht neues Leben auf, geistliches Leben, Hoffnung, Zuversicht, Kraft, Ewigkeit, Seligkeit. Da blüht alles auf.

Ich schätze das Wort Seligkeit nicht so sehr, weil es so schnell rein gefühlsmäßig verstanden werden kann. Aber an dieser Stelle möchte ich es gerne festhalten. Seligkeit, verstanden als großer Frieden und große Freude, die der Mensch erfährt und annehmen darf, der Vergebung empfängt. Gibt es eine aussagestärkere Stelle für die Freude der Vergebung in der ganzen Bibel als die Rückkehr des Verlorenen Sohnes? (Luk. 15) Zunächst die Vorfreude des Vaters, der dem Sohn entgegengeht. Was ist das für eine Freude! Da kommt er wieder, der geliebte Sohn! Und dann der Kuss, die neue Kleidung, der Ring, das Festmahl. Man sieht den Sohn förmlich vor sich, der das alles noch gar nicht fassen kann, und wie dann allmählich die Freude des Vaters auf ihn übergeht.

Der Evangelist Wilhelm Busch hat oft über den Verlorenen Sohn gepredigt. Wer diese Predigten einmal in die Hand bekommt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Wie viele Einzelheiten entdeckt Wilhelm Busch in diesem Gleichnis! Das Büchlein ist vielleicht das Schönste und Tiefgründigste, das man überhaupt über die Vergebung lesen kann. So schreibt er dort eine ganze Seite nur über den Ring, den der Vater dem Sohn an die Hand steckt. Erst ist die Rede von Schmuckringen, die man bekanntlich schnell wieder vergessen kann. Dann spricht er vom Ehering und sagt, dass er ein Zeichen unverbrüchlicher Treue sei. Und dann vom Siegelring. Hier wird es noch interessanter. Mit einem Siegelring konnte man versiegeln. Wer diesen Ring hatte, der hatte die Autorität, ein Schriftstück zu versiegeln, der hatte Vollmacht. Ist das nicht wunderbar ausgelegt? Der Verlorene Sohn bekommt Vollmacht. Er ist nun dem Vater gleichgeordnet. Welch eine Freude schafft die Vergebung Gottes!

In den letzten beiden Abschnitten möchte ich noch zwei Fragen aufgreifen, die immer wieder einmal im Zusammenhang von Vergebung auftauchen.

9. Vergebung und Strafe

Im Blick auf das Verhältnis von Vergebung und Strafe gibt es immer wieder unklare Vorstellungen. Man meint, dass Gottes Vergebung die Vergangenheit in dem Sinne vollständig auslöscht, dass sie keinerlei Folgen mehr hat. Doch damit erliegt man einem Kurzschluss. Vergebung löscht die Schuld aus. Das ist der Sinn und die Kraft der Vergebung. Aber Spuren der Schuld ziehen sich oft weiter durch das ganze Leben hindurch.

Im Grunde wissen wir das alle. Wenn einer Alkoholiker war und dann zum Glauben findet und die Kraft der Vergebung erfährt, bleibt er trotzdem sein Leben lang gefährdet. Seine Frau wird sehr wachsam sein, dass er nicht wieder den Schritt zum Alkohol findet. Oder wer jahrelang in der Pornographie gesteckt hat, ist ebenfalls ein Leben lang gezeichnet und bleibt anfällig. Die Schuld kann vergeben werden, aber die Anfälligkeit bleibt. Ich weiß von mir selbst. Als ich etwa 15 oder 16 Jahre alt war, wurden in unserer Klasse pornographische Bilder herumgereicht, unter den Tischen natürlich. Das war damals in der DDR streng verboten. Diese Bilder sind bei mir in der Seele drin. Ich bekomme sie mein Leben lang nie los. Wie gut, dass Jesu Blut darüber geflossen ist. Das weiß ich, denn ich habe darum gebetet. Aber immer wenn ich darüber rede, sind die Bilder wieder präsent. Wer sich damit verseucht hat, trägt diese Hypothek durch das Leben mit.

Die Folgen eigener Sünde und Schuld müssen von uns getragen werden – das mutet Gott uns zu. Dafür gibt es viele biblische Beispiele. Israels Sünde mit dem Goldenen Stier wurde vergeben, aber Gott hat anschließend nicht mehr mit dem Volk Israel direkte Gemeinschaft gepflegt (2.Mose 33). Als die Kundschafter zurückkamen und große Angst verbreiteten und das ganze Volk damit ansteckten, war das ein gravierender Ungehorsam und Unglaube (4. Mose 13ff). Durch Mose’s Intervention wurde die Schuld vergeben, aber die Israeliten mussten 38 Jahre lang eine Riesenrundreise machen. Nach 38 Jahren kamen sie genau wieder dort an, von wo sie losgezogen waren – aber nach wie viel Elend, nach wie viel Hitze, nach wie viel Drangsal, nach wie viel Tod! Wie viele sind auf dieser langen Fahrt gestorben! Sie mussten die Folgen tragen, obwohl ihre Schuld vergeben war. Oder denken wir an Davids Ehebruch: Seine Schuld wird vergeben, aber das Kind stirbt (2. Sam.12).

Es ist blauäugig zu meinen, die Vergebung würde die Vergangenheit samt aller Folgespuren vollständig auslöschen. Nein, die Vergangenheit zieht Spuren in die Gegenwart. Wir kennen eine geschiedene Frau, die uns sagte, dass sie nicht wieder heiraten wird. Sie fühlt sich innerlich gewissensmäßig gebunden an die betreffenden Bibelstellen. Sie nimmt das biblische Wort ernst, und sie nimmt es an. Sie versagt sich eine Wiederheirat. Sie will ihr Leben mit Gottes Hilfe tragen.

Ich erwähne dieses Beispiel, weil an dieser Stelle oft Fragen auftauchen. Aber ich will hier zur Ermutigung noch eine Stelle aus dem Psalter anführen. Die Folgen der Sünde können oft erheblich bedrücken. Aber es sind Lasten, die Gott auferlegt. Wir können lernen, sie aus seiner Hand anzunehmen. Dann werden wir merken, dass er selber beim Lastentragen hilft, genauso wie er es in seinem Wort sagt. „Gott legt Lasten auf, aber er hilft auch“. (Ps. 68,20)

10. Die Sünde gegen den Heiligen Geist

Zum Schluss noch ein paar Sätze zur Sünde gegen den Heiligen Geist. Diese Frage bewegt immer wieder Christen, und sie ist ein umstrittenes und angstbesetztes Thema. Was sagt die Heilige Schrift dazu?

Ich beginne diesen Abschnitt mit einer wunderbaren Aussage Jesu aus Matth. 12,31: „Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben.“ Das dürfen wir wirklich nachsprechen. Jesus ist für alle Menschen und für alle Sünden gestorben. Da gibt es Sünden und Lästerungen gegen Jesus. Meine Frau und ich haben auf dem letzten „Marsch für das Leben“ teilgenommen. Da wurden den Teilnehmern die schlimmsten blasphemischen Bilder und Sprüche entgegengeschleudert. Jesus sagt, es kann vergeben werden. Von der Ablehnung der Sühnekraft des Blutes Jesu haben wir vorhin gehört. Auch das kann vergeben werden. Unterstellungen, dass Jesus die bösen Geister durch Beelzebul austreibt, können ebenso vergeben werden. Das war ja der Anlass, weswegen sich Jesus überhaupt dazu geäußert hat.

Neulich fragte mich jemand, ob auch Hitler mit der Vergebung seiner Sünden rechnen könne. Meine Antwort darauf war, dass er natürlich damit rechnen könne, wenn er vor seinem kläglichen Tod ernsthaft mit dem Herzen Gott um Vergebung gebeten hat. Es gibt überhaupt keine Schuld, für die Jesus nicht zuständig wäre, ob wenig oder viel.

Aber was ist dann die Sünde gegen den Heiligen Geist? Die kann nach meiner Einschätzung nur von gläubigen Christen begangen werden, die sich bewusst und willentlich von Christus wieder lossagen und fortan keine Vergebung mehr wollen. Wer als gläubiger Christ bewusst und öffentlich das Versöhnungswerk Christi bestreitet und verhöhnt und keine Vergebung mehr sucht, der schmäht nach Hebr. 10,29 die Gnade. Er fällt aus der Gnade und er kommt genauso wie jeder andere vor das Gericht Gottes am Ende unseres Äons. Für solche Sünde soll man nicht bitten (1. Joh. 5,16).

Die Gestalt Esaus gibt uns ein alttestamentliches Beispiel. Mir geht Esau immer wieder nach. Wollte er denn nicht Vergebung haben? In 1. Mose 25,29ff steht diese bewegende Geschichte. Meine Antwort ist: Nein, er wollte sie nicht. Er hat seine Sünde, dass er als Verheißungsträger seine Erstgeburtsrechte verhöhnte, in seinem Leben nie bereut. Statt dessen klagt er Jakob an: „Der hat mich überlistet!“ Aber dass er für ein schnödes Essen auf den Verheißungssegen, den der Erstgeborene ja empfangen sollte, verzichtet hat, das vergisst er zu erwähnen. Seine Tränen sind Tränen über den Verlust des Segens, nicht Tränen über sich und seine Sünde. Und so findet er „keinen Raum zur Buße“ (Hebr.12,17). Er kannte den Segen Gottes, aber er sagte sich von ihm los. Er wollte keine Vergebung. Er sah die Schuld bei anderen, aber nicht bei sich selbst. Deswegen ist er ein Mensch, auf den diese Sünde gegen den Heiligen Geist zutrifft. Aber wir müssen hinzufügen: Das letzte Wort auch über Esau hat Gott im Gericht. Auch das wollen wir an dieser Stelle festhalten.

Ich schließe: Wer Vergebung seiner Schuld sucht, hat die Sünde gegen den Heiligen Geist nicht begangen. Dieser Satz ist wichtig. Liebe Brüder und Schwestern, bleiben wir realistisch: Wir sind und wir bleiben arme, elende, sündhafte Menschen, um mit Luther zu sprechen. Unser Herz ist voller Abgründe, wenn wir ehrlich sind. Aber mit all unserer Sündenschuld gehen wir zu Christus – und wir vertrauen auf die Vergebung Gottes, genauso, wie es Luther in seinem kleinen Glaubensbekenntnis wunderbar formuliert hat, mit dem ich schließen möchte: „Mir ist es bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit unmöglich gewesen, den Forderungen Gottes zu genügen. Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen dies täglich beweinte Zurückbleiben vergebe, so ist’s aus mit mir. Ich muss verzweifeln. Aber das lass ich bleiben. Wie Judas an einen Baum mich hängen, das tue ich nicht. Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi, wie die Sünderin, ob ich auch noch schlechter bin als diese. Ich halte meinen Herrn fest. Und dann spricht Christus zum Vater: Dieses Anhängsel muss auch durch. Es hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten. Vater, aber er hängt sich an mich. Was will’s? Ich starb auch für ihn. Lass ihn durchschlupfen. Das soll mein Glaube sein.“

Ich möchte beten: Lieber Herr Jesus! Wir werden nie ermessen können, dass du durch dein bitteres Leiden und Sterben dieses unermessliche Versöhnungswerk getan hast und uns daran Anteil gibst, wenn wir dir vertrauen. Herr, wir danken dir, dass es Vergebung gibt. Wir brauchen Vergebung genau so nötig und dringlich wie das tägliche Brot. Das wissen wir aus dem Vaterunser. Und so bitten wir dich auch jetzt: Herr, vergib uns unsere Schuld. Alles, was sich angesammelt hat an Lieblosigkeit und Herzenshärtigkeit, an verpassten Gelegenheiten, an Neid und Angst. Herr, streiche alles durch. Wir danken dir, dass wir immer wieder neu die Kraft empfangen, den Menschen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Hilf, dass niemand von uns in Herzenshärtigkeit verharrt. Mach uns alle fähig und bereit, den Schritt zur Vergebung zu gehen, auch denjenigen gegenüber, die das, was sie an uns angerichtet haben, gar nicht als Schuld verstehen. Hab Dank für alles Gute, was du uns täglich und reichlich und unverdient schenkst. Amen.  

Abruck eines Vortrags, der auf zwei Kongressen des Gemeindehilfsbundes mit dem Thema „Die Kraft der Vergebung. Gesellschaftlicher und persönlicher Friede durch den Glauben an Jesus Christus“ im März 2013 gehalten wurde. Die Vorträge, Seminarbeiträge und Lebenszeugnisse beider Kongresse werden demnächst in einem Dokumentationsband des Gemeindehilfsbundes veröffentlicht. Diese Dokumentation kann bei der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes vorbestellt werden, der Preis wird ca. 7,50 Euro betragen.