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Die Autorität der Schrift in der Reformation und heute

von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jacob

Dem lieben und verehrten Bruder Pfarrer emeritus Herwig Herr zum 2. März 2013 in Dankbarkeit und Freundschaft gewidmet.

I. Vorbemerkung:

Die Autorität der Heiligen Schrift ist kirchenrechtlich verbürgt, sowohl in der Kirche vor Luther, als auch in allen evangelischen Kirchen bis heute. Die Verpflichtung, entsprechend der Schrift Alten und Neuen Testaments zu predigen und zu lehren, ist Teil des Ordinationsgelübdes. Das gilt unabhängig von dem Umgang mit der Bibel in der offiziellen Theologie und der persönlichen Frömmigkeit und Praxis des einzelnen. Daraus wird bereits ersichtlich, dass die Anerkennung der Autorität der Schrift an sich ein wirkungsloses, totes kirchenrechtliches Relikt ist. Entscheidend ist, wie damit hermeneutisch und homiletisch umgegangen wird.

Ich möchte das untermauern mit einem Zitat aus dem Buch von Willy Marxsen „Das Neue Testament als Buch der Kirche“ (1967): „In den Präambeln kirchlicher Verfassungen und Ordnungen pflegt stets ein Satz etwa folgenden Inhalts zu stehen: Die Kirche gründet sich auf das prophetische und apostolische Zeugnis Alten und Neuen Testaments. … Die Urkunde … ist zunächst – ganz wörtlich nichts sagend. Sie sagt erst etwas dadurch, dass man sie auslegt. Je nach der benutzten Auslegungsmethode kommt man dabei zu sehr unterschiedlichen Aussagen“ (S. 16).

Die Autorität ist ohne Auslegung, ohne Applikatio, tot, wirkungslos. Die Folge ist einerseits Traditionalismus: Die Bibel gilt, aber bleibt unwirksam. Die andere Möglichkeit ist: Historismus. Die Bibel ist nur noch Gegenstand historischer Forschung, Tummelplatz für den wissenschaftlichen Ehrgeiz der Historiker, deren persönlicher bzw. zeitgeschichtlicher Geschmack über die Geltung und Bedeutsamkeit einzelner Aussagen entscheidet.

Die Autorität der Bibel entfaltet sich im Prozess von Glauben und Verstehen, d.h. sie wird wirksam in der „Interaktion“ mit den Menschen- Hörern und Lesern- und in der Interaktion mit Gott in Glauben und Beten. So sind die Formen der Hermeneutik zugleich die Formen der Wirksamkeit und Realisierung der Autorität. Da Glauben und Verstehen sich immer im Zusammenhang mit Gemeinschaft ereignen, ist auch die Autorität der Bibel auf Gemeinschaft bezogen. Anders: Die Autorität der Bibel und die Gemeinschaft der Kirche gehören zusammen: Einerseits lebt die Kirche aus dem Wort Gottes, das in der Schrift überliefert ist- andererseits wird die Autorität der Schrift ohne den Glauben und das Verstehen der Gemeinde bedeutungslos.

II. Die Autorität der Schrift in der Reformation

A Luther

1. Dass die Heilige Schrift die grundlegende und irrtumslose Autorität der Kirche ist, war zur Zeit der Reformation unbestritten und die gemeinsame, von allen anerkannte Grundlage der theologischen Auseinandersetzung.

Wir kennen alle die Erzählungen vom Wormser Reichstag, wo Luther den von ihm geforderten Widerruf davon abhängig macht, dass er aus der Heiligen Schrift des Irrtums überführt wird. Ein anderes geläufiges Beispiel bietet die Schrift de captivitate babylonica, wo an Hand der Bibel die Siebenzahl der Sakramente kritisiert wird und nur Taufe und Abendmahl der Titel Sakrament bleibt. Im Schlusswort wendet sich Luther „an alle Frommen, die das lautere Verständnis der Schrift und den ursprünglichen Brauch der Sakramente zu wissen begehren“ (WA 573).

Die Kirche des Mittelalters, in die Martin Luther hineingeboren wird, ist gekennzeichnet durch eine Art Bibelbewegung. Schon Wycliff und Huss haben an Hand des Evangeliums die herrschende Kirche kritisiert. Die Bibel ist Gesetzbuch – nova lex lex caritatis lex Christi. Mit der polemischen Losung „Allein die Schrift“ …klingt das Mittelalter aus.“ (G. Gloege, Zur Geschichte des Schriftverständnisses, Theologische Traktate 1965, II, S. 273) Dazu kommt die Bewegung des Humanismus, die sachlich und sprachlich nach den Quellen, den Grundlagen des Christentums fragt. Die Hebräisch-Kenntnisse des Reuchlin und die Ausgabe des griechischen Neuen Testaments durch Erasmus sind Grundlage für die Arbeit Martin Luthers.

Interessant ist, dass zu Luthers Zeiten der Lehrstuhl, der mit der Auslegung der Bibel beauftragt war, in besonders hohem Ansehen stand. Anders als heute, war die Dogmatik nicht der inhaltliche Abschluss der theologischen Studien, sondern eher eine Art Einleitung. Schließlich stand die Kirchenlehre fest. Ihre Kenntnis gehörte zu den Prolegomena, während die Arbeit an der Bibel eine offene, geradezu unendliche Aufgabe bedeutete. (Übrigens hat Luther den Auftrag, in Wittenberg als Professor die Heilige Schrift auszulegen, nicht freiwillig und gar nicht gern übernommen. Sein Ordensoberer Staupitz musste nicht nur alle Beredsamkeit einsetzen, sondern auch den Gehorsam des Mönchs Martinus. einfordern, damit Luther die Aufgabe annahm. (H. Sasse, Sacra Scriptura 1981, S. 323).) G. Gloege fasst Luthers Anknüpfung an das Mittelalter folgendermaßen zusammen:

Luther übernimmt

a) das Schriftprinzip (sola scriptura),

b) die Theorie von der Inspiration,

c) das Auslegungsaxiom, dass die Bibel sich selbst auslegt und alle einzelnen Stellen untereinander und zusammen ein Ganzes bilden und dass auch im Alten Testament Christus ihr Inhalt sei (vor Luther z.B. von W. v. Occam vertreten; a. a. O., S. II 275).

2. Allerdings ist gerade bei Luther zu lernen, dass der Grundsatz sola scriptura je nach Auslegungstradition und Auslegungsmethode sehr Unterschiedliches bedeuten kann.

Luthers Arbeit an der Bibel geschieht zunächst mit der hermeneutischen Methode vom vierfachen Schriftsinn: Dies war das Ergebnis einer jahrhundertelangen hermeneutischen Arbeit an der Bibel seit der alexandrinischen Theologie. Dabei liegt zunächst eine Zweiteilung zugrunde: die von buchstäblichem und geistlichem Schriftsinn. Besonders wirksam geworden ist die Hermeneutik Augustins. Ich zitiere Gloege (a. a. O., S. II 268): „Die inspirierte Bibel, deren Wortlaut zeichenhaft den Herrn bezeugt, und der auf spirituelle Erkenntnis angelegte Mensch gehören zusammen. Allerdings stellt hier die Kirche den Raum dar, in dem sich beide im Licht der göttlichen Liebe begegnen: „Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der Kirche bewegte.“ (Augustin).“ (Der Hinweis auf die Kirche beim Schriftverständnis spielt übrigens bereits bei Tertullian eine Rolle: Bei ihm garantiert die regula fidei die richtige Auslegung. – Gloege, a. a. O., S. 266 II). Der geistliche Sinn wird dann später dreifach entfaltet: nach dem Begriffsschema von Glauben, Lieben und Hoffen. Dazu gab es einen Merkvers: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis, quid agas, quo tendas anagogia. Martin Luther hat seine exegetische Arbeit an den Psalmen noch nach dieser Methode begonnen. Dabei wurde nicht erwartet, dass der Ausleger zu jedem Text tatsächlich alle vier Punkte abarbeitet. Vielmehr war er frei, welche der Varianten des geistlichen Schriftsinnes er berücksichtigte.

Wichtig ist: Für Luther wurde der wörtliche Sinn immer wichtiger. Später hat er offiziell erklärt, dass verbindliche Aussagen über Lehre und Leben nur mit Hilfe des Wortsinnes begründet werden dürfen. Allegorien sind nur als Vertiefung und Veranschaulichung erlaubt. Freilich stimmt das, was Luther in den Psalmen unter der Rubrik „wörtlicher Sinn“ bietet, nicht immer mit unserem heutigen Verständnis überein. Luther stellt den buchstäblichen Sinn fest, indem er „die einzelnen Lieder, wo es irgend angeht, auf Christus bezieht“ (K. Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst; in Gesammelte Aufsätze, S. 547). Überhaupt „rücken für Luther. …der buchstäbliche und der geistliche Sinn innerlich aneinander“ (Holl, a. a. O., S.547). Z. B. versteht er den moralischen (tropologischen) Sinn der Schrift entsprechend dem paulinischen Gesetzesverständnis: Der tropologische Sinn sagt aus, dass der Mensch keine eigene Gerechtigkeit besitzt und nur demütig auf die Gnade Gottes warten kann (Holl, a. a. O., S. 546).

In diesem Zusammenhang bekommt der Begriff „geistlicher Sinn“ bei Luther eine besondere, existentielle Bedeutung. Christus ist nur verstanden, wenn man seine Wirkung, sein Gericht und seine Gnade an sich selbst erlebt. (Holl, a. a. O., S.547) Zum Geist der Schrift dringt nur der vor, der ihn in sich selbst verspürt. Um die Schrift zu verstehen, bedarf es einer inneren Umwandlung. (Holl,a.a.O.S.548). Das Verstehen hängt “ nicht nur von wissenschaftlichen Bedingungen“ ab. Es ist nie „etwas Abgeschlossenes“. Das ist die gleiche Denkweise, der Martin Luther noch in seiner letzten schriftlichen Äußerung kurz vor seinem Tod Ausdruck gegeben hat: „Virgil in seinen Buccolica und Georgica kann niemand verstehen, der nicht fünf Jahre Hirt und Bauer gewesen ist; Cicero in seinen Briefen kann niemand verstehen, der nicht 20 Jahre staatliche Ämter bekleidet hat; die Heiligen Schriften kann niemand genug verstehen, es sei denn , er hätte 100 Jahre mit den Propheten die Kirchen geleitet… Wir sind Bettler, das ist wahr.“ (Holl, a. a. O., S. 576)

In Luthers Arbeit an der Bibel, besonders dann auch in der Auseinandersetzung mit Eck in Leipzig und mit Erasmus wird immer wichtiger der Gedanke von der Eindeutigkeit der Schrift. Der Ausleger muss das Ganze der Schrift vor Augen haben. Grundlage ist ausschließlich der „grammatische Sinn“ (Holl, a. a. O., S. 551ff). Die einzelnen Stellen müssen nicht nur im unmittelbaren Textzusammenhang (Kontext) gelesen werden, sondern im Zusammenhang der ganzen Schrift.

Hochaktuell ist die in der Auseinandersetzung mit Latomus ausgesprochene Regel, „man solle die Zeugnisse nicht zählen, sondern wägen – ponderare, non numerare. (Holl, a. a. O., S. 564/3). Dieses Wägen der Schrift orientiert sich zwar am Wortlaut, aber es ist erst am Ziel, wenn es zum „geistlichen“ Verständnis kommt, zum Verständnis der in den Worten ausgedrückten Sache, für Christus und sein Evangelium: „Der Geist, den Gott verleiht, muss wirken. …Denn es mag niemand Gott oder Gottes Wort recht verstehen, er habs denn an Mittel von dem Heiligen Geist“ (Holl, a. a. O., S.555, WA VII, 546).

3. In der Arbeit an der Bibel und im persönlichen Ringen um den Trost des Glaubens, um Heilsgewissheit, gewinnt Martin Luther das für ihn typische Schriftverständnis. Es ist zuerst dadurch geprägt, dass Wort Gottes lebendige Anrede an mich ist – viva vox; eine Anrede, die mich meiner Schuld vor Gott überführt und mir meine Unfähigkeit zur Selbsterlösung zeigt; die mich aber zugleich durch das Evangelium aus der Hölle der Verzweiflung zur Seligkeit und zur ewigen Gemeinschaft mit Gott führt. In dem berühmten Bericht über das sogenannte Turmerlebnis, die Erkenntnis der Gottesgerechtigkeit, bei der Arbeit an Röm. 1 wird das anschaulich: „Ich war von einem wundersam glühenden Verlangen gepackt worden, Paulus im Römerbrief kennenzulernen, aber… es stand mir das eine Wort aus Röm. 1,17 im Wege: Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart. Denn dies Wort „Gerechtigkeit Gottes“ war mir verhasst…Bis nach tage- und nächtelangem Nachsinnen sich Gott meiner erbarmte und ich den rechten Zusammenhang der Worte erfasste…Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, nämlich durch die der Gerechte aus Gottes Gnade lebt, aus Glauben!… Hier fühlte ich mich ganz und gar von Neuem geboren und durch die offenen Pforten ins Paradies selber eingegangen“ (WA 54, 185f.)

Es sind drei Punkte, auf die wir in diesem Zusammenhang zu achten haben:

  1. Weil für Martin Luther Wort Gottes bedeutet: Hier ist ein Prozess, ein Geschehen im Gang, steht für ihn die lebendige Rede vor dem geschriebenen Text. Er betont, dass dies auch der Geschichte entspricht: Erst war die Predigt Jesu und der Apostel, später – vor allem auch, um Fehldeutungen zu vermeiden- die schriftliche Festlegung im Bibeltext.
  2. Das inhaltliche Zentrum dieses Geschehens ist Christus. „Das ist ungezweifelt, dass die ganze Schrift auf Christus allein ist gericht.“ Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?- Universa Scriptura de solo Christo est ubique.“ (P. Althaus, Die Theologie Martin  Luthers  1963,  S.  73)  „Christus  ist  Herr,  nicht  Knecht,  Herr  des  Sabbaths,  des Gesetzes und aller Dinge. Und die Schrift ist nicht gegen Christus, sondern für ihn zu verstehen. Daher muss man eine Schriftstelle entweder auf ihn beziehen oder kann sie nicht für wahre Schrift halten. Wenn also die Gegner die Schrift gegen Christus ausspielen sollten, so spielen wir Christus gegen die Schrift aus. (Althaus,a.a.O.S.78). So wird Luther zum Begründer der „christozentrischen Bibelkritik“. Ist Christus „Herr und König der gesamten Schrift“, so bedeutet das positiv: Luther übernimmt den Kanon der Kirche (und damit auch das Alte Testament) nicht aus Gründen der Pietät, sondern von seinem Christusverständnis her“ (Gloege, a. a. O., S. II 279).
  3. Die im Geschehen des Wortes Gottes wirkende Kraft ist der Heilige Geist. Niemand kann die Heilige Schrift verstehen, ohne dass Gott, der Heilige Geist, ihm das Verständnis eröffnet. Umgekehrt gilt, dass die heilige Schrift das Instrument ist, mit dessen Hilfe uns der Heilige Geist zu Christus führt. Für uns alle hat Luther diesen Zusammenhang klassisch ausgesprochen in der Erklärung zum dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen…“ Diese Verbindung zwischen Schrift, Christus und Wort Gottes ist für Luther wichtig, um sowohl gegenüber den Schwärmern, die eine Wirkung des Geistes unabhängig von der Schrift erwarten, als auch gegenüber den Katholiken, die die Schrift allein nicht für klar und überzeugungskräftig halten, zu argumentieren. „Christus verbürgt sich im Heiligen Geist dem Menschen als die Wahrheit und verbürgt damit die Heilige Schrift“. „Die Heilige Schrift ist die Königin- sie muss herrschen und alle müssen gehorchen und untergeben sein.“ (Althaus, a. a. O., S. 74)

4. Aus dem, was Gloege die „christozentrische Bibelkritik“ nennt, folgen die Äußerungen Luthers, die heute oft Befremden auslösen.

 – Berühmt ist die Vorrede zum Septembertestament von 1522: „Das ist der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christus treiben oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeiget, Röm.3, und S. Paulus nichts denn Christus wissen will, 1. Kor. 2. Was Christum nicht lehret, das ist noch nicht apostolisch, wenn gleich S. Petrus oder Paulus lehrete. Wiederum, was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes tät.“ (Gloege,a.a.O.S.279 II). „Christus treiben“ hat bei Luther den Sinn, „Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen als den alleinigen Heiland zu verkündigen, dessen Heil allein im Glauben empfangen wird“ (Althaus, a. a. O., S. 81).

 -In der Vorrede von 1522 stellt Luther auch fest welche „die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind“: Joh.-Ev. und 1. Joh., Röm., Gal., Epheser,1.Petrus. In ihnen findest du „gar meisterlich ausgestrichen, wie der Glaube an Christum Sünde, Tod und Hölle überwindet und das Leben, Gerechtigkeit und Seligkeit gibt.“ Jakobus dagegen treibt anstatt des Evangeliums das Gesetz und beim Hebräerbrief mag unter das Gold, Silber und Edelsteine, mit denen der Brief auf dem apostolischen Grund baut, vielleicht auch „etwas Holz, Stroh oder Heu mit untervermenget sein.“

 -Von der Offenbarung Johannes sagt Luther, er könne überhaupt“ nicht spüren“, dass dieses Buch „von dem Heiligen Geist gestellet sei“. (Althaus, a. a. O., S. 81f.)

Interessant ist, dass Luther bereits in der Ausgabe der Vorreden von 1530 diese harten Urteile gemildert hat und dass er Wert darauf legte, es handele sich um seine persönliche Meinung, die er niemandem aufzwingen wolle. Althaus weist noch darauf hin, dass Martin Luther seine Kritik nie namens der Vernunft vorträgt, sondern „namens des von der Schrift verkündigten Evangeliums“ (Althaus, a. a. O., S. 83).

5. Zusammenfassung: Es ist wichtig – nicht nur wegen des Verständnisses unseres Reformators – sondern auch aus dem durch die aktuelle Diskussion gegebenen Anlass, der Frage nachzugehen, was die hermeneutische Regel „was Christum treibet“ tatsächlich bedeutet. Zuerst ist festzustellen, dass wir uns mit Luther in einem hermeneutischen Zirkel befinden: Ich brauche Christus, um zu verstehen, was in der Bibel tatsächlich Wort Gottes ist. Umgekehrt aber erfahre ich nur aus der Bibel, – mit Hilfe des Heiligen Geistes – wer Christus ist. Das heißt auch, je nach dem, was für ein Christusbild oder auch was für ein Jesusbild einer hat, wird er die Bibel lesen und auslegen. Wer in Jesus nur den freundlichen Lehrer und Wohltäter sieht, der hat am Ende eine andere Bibel als derjenige, der Jesus als das Gotteslamm anbetet, das die Sünde der Welt ans Kreuz getragen hat. Was aber ist der Inhalt von Martin Luthers Christologie? Wir brauchen nur im Kleinen Katechismus zu lesen um zu erkennen: Martin Luther lebte genauso wie die sich auf ihn berufenden Theologen ganz und gar im Bereich des von der alten Kirche überkommenen Christusbildes: Jesus Christus ist wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch, zu unserer Erlösung in die Welt gekommen. Es ist hier nicht der Platz, um Besonderheiten lutherscher Christologie darzustellen, eins aber darf nicht vergessen werden: Gerade der Ausdruck „Christus treiben“ meint ja nicht einen pädagogischen Prozess, in dem dargestellt wird, wer Jesus Christus ist, sondern das Geschehen der Rechtfertigung, das Geschehen von Buße und Vergebung.

Deshalb ist zum Verständnis dessen, was bei Luther die Autorität der Schrift bedeutet, von Gesetz und Evangelium zu reden. (Im folgenden berufe ich mich auf G. Ebeling, Luther 1964, S. 100ff.) Während Martin Luther in seiner Frühzeit (in der ersten Psalmenvorlesung) das Begriffspaar Buchstabe und Geist als Orientierung für die Auslegung der Schrift benutzt, löste er es später ab „durch die darin beschlossene Unterscheidung von Gesetz (als dem, was fordert) und Evangelium (als dem, was verheißt und schenkt).“ „Nahezu die gesamte Schrift und die Erkenntnis der ganzen Theologie hängt an der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium“.“ Wer das Evangelium recht vom Gesetz zu unterscheiden weiß, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist.“(Ebeling, a. a. O., S. 120f.) Warum ist diese Unterscheidung so wichtig? Weil an ihr das rechte Verständnis der Rechtfertigungslehre hängt. Dabei geht es – wie kann das bei Luther anders sein-nicht einfach um den richtigen Umgang mit theologischen Begriffen, sondern um die Verkündigung des Heils. Es geht um ein „Kampfgeschehen, in welchem immer neu die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auf dem Spiel steht und zum Ereignis wird… In der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ereignet sich das Heil, während ihre Vermengung nicht ein beliebiges Unglück, ein bedauerliches Versagen, sondern in strengem Sinne das Unheil selbst wäre“ (Ebeling, a. a. O., S. 129).

Solche Vermengung ist eine ständige Gefahr: Z. B.: Wird aus dem Evangelium eine Theologie der Nachfolge abgeleitet, so dass sich christlicher Glaube in der Weitergabe der Liebe Gottes erfüllt, schon wird das Evangelium zur gesetzlichen Forderung, und mein Umgang mit ihr führt mich je nach dem in pharisäischen Hochmut oder in die Verzweiflung. Der andere Irrweg besteht darin, dass das Gesetz zur freundlichen Anweisung Gottes gestaltet wird, die nicht mehr von mir fordert, als ich leisten kann und deren Erfüllung mein Leben sinnvoll macht. Dabei geht sowohl der Ernst der Forderung Gottes als auch die Freude über den bedingungslosen Freispruch des gnädigen Gottes verloren. Noch einmal: in der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird das, was Christum treibt, Ereignis, offenbart sich die Autorität der Schrift.

Noch ein letzter Schritt ist zu gehen, um zu zeigen, was für Luther der wesentliche Inhalt der Heiligen Schrift ist. Dabei geht es um den Gesetzesbegriff. Gerhard Ebeling bringt es auf den Punkt: „Das Evangelium ist etwas Eindeutiges, das Gesetz dagegen ist etwas Zweideutiges. (Ebeling, a. a. O., S. 137) Das Evangelium ist der klare eindeutige Freispruch von aller Schuld, das Gesetz hat dagegen eine doppelte Funktion. Es überführt uns unserer Sünde, es stürzt in die Verzweiflung der Hölle, weil es uns unserer Unfähigkeit zum Guten, zum Leben nach Gottes Willen überführt. Zugleich aber ist es gute Ordnung des Schöpfers, Anleitung zum sinnvollen Leben in dieser Welt. Es ist in den Geboten der Bibel offenbart, aber auch als Schöpfungsordnung für die Vernunft des Menschen erkennbar.

In der lutherischen Theologie spricht man deshalb von den beiden usus legis, dem usus primus oder politicus, mit dem das bürgerliche Leben geregelt wird, und dem usus secundus oder elenchticus oder auch theologicus, mit dem wir unserer Sünde überführt und in die Arme des gnädigen Gottes getrieben werden. Es ist wichtig, dass wir bei der Auslegung der Schrift diese beiden Formen des Gesetzes im Auge haben. Andernfalls stehen wir in der Gefahr, zu meinen, das Gesetz habe sich für Christen durch das Evangelium erledigt, die Freiheit des Evangeliums erübrige die Frage nach den Geboten Gottes als Anweisung zum Leben. (In der Reformationszeit sind die sogenannten Antinomer diesen Irrweg gegangen.)

B Luthertum

1. Die Schüler Luthers haben seine „christologische Kanonkritik“ nur sehr begrenzt fortgesetzt. Immerhin findet sich bei ihnen die Unterscheidung von proto- und deuterokanonischen Schriften. Mit diesen Begriffen wird Luthers Kritik aufgenommen: Protokanonisch bedeutet: die Autorität der entsprechenden Schrift wurde nie angezweifelt, deuterokanonisch: sie wurde angezweifelt (so Quenstedt). Im Laufe der Zeit, traten freilich derartige Unterscheidungen zugunsten der Berufung auf den Kanon als Ganzes zurück.

2. Dabei spielte die Ausbildung der Lehre von der Verbalinspiration eine wichtige Rolle. Die Überzeugung von der Inspiration durch den Heiligen Geist und demzufolge der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift ist seit den Zeiten der alten Kirche selbstverständlich. Auch Martin Luther hat sie geteilt und sich bemüht, einzelne Textstellen, die möglicherweise sachliche Irrtümer enthielten, zu erklären (vgl. H. Sasse; a. a. O., S. 291ff.)

Für die lutherische Orthodoxie lag es auf Grund des nun auch konfessionell motivierten Schriftprinzips nahe, die Lehre von der Inspiration der Schrift dogmatisch zu entfalten: Es wird unterschieden zwischen impulsus ad scribendumsuggestio rerum und suggestio verborum. D. h. der Heilige Geist hat die Verfasser zum Schreiben bewegt, hat ihnen die Sachaussagen eingegeben und drittens die Worte, die sie gebraucht haben.

3. Die Zusammenfassung der altprotestantischen Lehre von der Heiligen Schrift stellen die sogenannten vier affectiones oder auch Herrlichkeiten (auchemata bei Joh. Gerhard) der Schrift dar.

Auctoritas- sufficientia- perspicuitas und efficacia. Die verschiedenen Dogmatiker haben dann die einzelnen Begriffe noch entfaltet. Z. B. auctoritas causativa (Inspiration) und auctoritas normativa (die Schrift als verpflichtende Norm). Zur Autorität der Schrift gehört damit auch ihre Verbalinspiration. Wichtig für die lutherische Lehre von der Schrift besonders in Auseinandersetzung mit der römischen Theologie ist dann auch die Überzeugung, dass sie alles enthält, was für unser Heil notwendig ist und keiner Ergänzung durch die Tradition der Kirche bedarf. Sie ist perfekt und suffizient. Zu den schon von Luther besonders betonten Eigenschaften der Schrift gehört ihre Klarheit. Sie ist verständlich aus sich selbst. Unklare Stellen sind durch andere Stellen der Schrift zu erklären. Sie hat Perspicuitas (Durchsichtigkeit, nicht Dunkelheit) und ist sui ipsius interpres; sie erklärt sich selbst. Dies alles ist die Grundlage ihrer Wirksamkeit (efficacia). Sie ist das Instrument, durch das der Heilige Geist den Glauben wirkt.

Was der im Altprotestantismus geübte Umgang mit der Heiligen Schrift wirklich bedeutet, kann man an den Oratoriumstexten bei Bach erkennen. Das ist alles andere als sterile dogmatische Gesetzlichkeit, sondern eher eine oft befremdliche Offenheit für typologische oder allegorische Auslegung. (z.B. aus dem WO II: „Was Gott dem Abraham verheißen, das lässt er nun dem Hirten-Chor erfüllt erweisen. Ein Hirt hat alles das zuvor von Gott erfahren müssen: Und nun muss auch ein Hirt die Tat, was er damals versprochen hat, zuerst erfüllet wissen.“)

III. Die Autorität der Schrift heute

1. Die Frage nach der Autorität der Schrift heute steht ganz und gar im Schatten der wissenschaftlichen Entwicklung , die seit den Zeiten der Renaissance und der Aufklärung stattgefunden hat. Die Bibel ist eines der Felder, auf denen sich die Bewegung der Säkularisation und der Emanzipation (Verweltlichung und Befreiung) entfaltet hat. Schritt für Schritt hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Bibel ein menschliches Buch ist, Literatur des Alten Orients oder der Antike, von Menschen überliefert und geschrieben, beeinflusst vom Zeitgeist, von den jeweiligen religiösen und philosophischen Strömungen , formuliert entsprechend den sprachlichen Möglichkeiten der Verfasser, geprägt auch von ihrem Charakter und ihrem persönlichen Schicksal, kurzum ein menschliches Buch. Das war ein langer, oft auch mühsamer Weg, geprägt vom Gelehrtenfleiß vieler Generationen und gewiss auch immer wieder von persönlichen, religiösen Kämpfen mit der ererbten und von der offiziellen Kirche vertretenen Frömmigkeit. Die Lehre von der Verbalinspiration wurde zum Inbegriff eines durch die Wissenschaft überwundenen Schriftverständnisses. Inzwischen hat die sogenannte wissenschaftliche Methode bei der Arbeit am Alten und Neuen Testament längst gesiegt. Sie beherrscht die akademische Ausbildung und die offizielle Kirche. Wer Pfarrer werden will, muss sich ihr unterziehen, auch wenn die Gemeindefrömmigkeit nach wie vor weithin anders orientiert ist. So lebt unsere Kirche seit mehr als hundert Jahren in einem inneren Konflikt: zwischen einer bibelkritischen Ausbildung und bibeltreuen Gemeinden. Wie die jeweilige Pfarrergeneration damit umgeht, wäre ein lohnendes Thema für Psychologen und Soziologen.

2. Ich halte es für notwendig, daran zu erinnern, dass es vor weniger als hundert Jahren in der evangelischen Kirche eine Bewegung gab, die die Bibel als das Wort Gottes wieder zur Grundlage ihrer Theologie gemacht hat: die sogenannte dialektische Theologie, zu der der wohl bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts Karl Barth gehört. 1919 hat er mit seinem Kommentar zum Römerbrief jene Bewegung ausgelöst. Im Vorwort (zur ersten Auflage) ist zu lesen: „Die historisch-kritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist hin auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müsste zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzteren greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Ich bin froh, nicht wählen zu müssen zwischen beiden. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist.“ (in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1 ,1966, S.77) Aufschlussreich ist auch die Rezension von Emil Brunner, einem weiteren Theologen aus dieser Gruppe, zu Barths Buch: „Die unausgesprochene Voraussetzung des ganzen Buches und aller seiner einzelnen Gedanken ist die Erkenntnis, dass unser entwicklungsgeschichtliches, „wissenschaftliches“ Denken- der Stolz der Neuzeit und der neueren Theologie- von bloß relativer Bedeutung, und seine Resultate von bloß relativer Wahrheit seien. Der scheinbar „überwundene Standpunkt“ der Kirchenväter und Reformatoren, die das „Wort Gottes“ als absolute Wahrheit durch einen absoluten Trennungsschnitt vom „Menschenwort“ sonderten, enthält mehr Wahrheit als die jetzt herrschende historisch-relativistische Bibelauffassung. Was Paulus schreibt, ist…die Wahrheit, die Gott redet.“(in: Anfänge.., a. a. O., S. 79)

Ein wichtiges theologisches Zeugnis dieser Epoche finden wir in unseren neuen Gesangbüchern unter den Bekenntnistexten, die Theologische Erklärung von Barmen. These 1 lautet: „Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Selbstverständlich ist die Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths ein viel zu weites Feld, eins aber möchte ich unterstreichen: K. Barth lehnt eine Theologie, in der sich der Mensch, der Wissenschaftler zum Herrn über den Text macht, grundsätzlich ab. Vielmehr gilt: Die Bibel „greift nach uns…Sie ist Gottes Wort nicht dadurch, dass der Mensch nach der Bibel greift, sondern dadurch dass die Bibel nach ihm greift.“ (KDI, 1, 112f.)

(Ich möchte an dieser Stelle eine persönliche Erinnerung einfügen. Ich habe mein Theologiestudium 1956 in Leipzig begonnen. Damals war es üblich, dass jeder sächsische Theologiestudent einen persönlichen Mentor hatte. Der Meine war Superintendent Taut in Auerbach. Alle Semesterferien machte ich bei ihm einen Besuch. Und bei jedem Besuch sagte er mir mit vielen Worten, wie gut ich es doch hätte, weil nun im Gegensatz zur Zeit vor dem Krieg wieder biblische Theologie an der Universität das Sagen habe. Ich erinnere mich, dass nach 1960 – ich studierte inzwischen in Jena – bestimmte kirchliche Grundüberzeugungen, die wir von der Bekennenden Kirche her übernommen hatten, nicht mehr selbstverständlich waren. In Jena entzündete sich die Auseinandersetzung an dem Thema „Absolutheitsanspruch des Christentums“.)

3. Inzwischen ist die große abendländische Bewegung der Säkularisation und Emanzipation weiter fortgeschritten. Offensichtlich ist sie wenigstens in unserem abendländischen Kulturkreis unaufhaltsam. Die theologische Bewegung, die nach dem ersten Weltkrieg die Autorität der Heiligen Schrift herausstellte, war nur ein Zwischenspiel. Im Namen der Freiheit des Menschen, seines Denkens und seines Handelns, werden überkommene Ordnungen und Autoritäten demontiert.

Dieser Prozess bestimmt die westlich geprägten Gesellschaften und auch die Kirchen, allen voran die evangelischen. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Er ist der erste und der letzte. Die Bibel ist schriftlicher Niederschlag seiner Frömmigkeit, seines Glaubens und natürlich auch seiner Irrtümer. Selbst Gott wird definiert als Ausdruck der Ängste und Hoffnungen des Menschen.

Zu dieser Grundhaltung gehört die kritische Einstellung gegenüber allem, was die individuelle Freiheit des Menschen einschränken könnte. Im Bereich der Politik gehört deshalb die Staatsform der Demokratie zu den allgemein eingeforderten Normen. Im Bereich der persönlichen Ethik ist das Verhältnis der Geschlechter zum Hauptkampffeld der emanzipatorischen Bewegung geworden.

Ehe und Familie werden in Frage gestellt. Die Rolle der Frau ist zum Dauerthema geworden. Gegenwärtig ist die von der Natur vorgegebene Rollenverteilung von Mann und Frau Gegenstand der emanzipatorischen Demontage. Wer Homosexualität als unnormal und pervers bezeichnet, gilt als unmenschlich, als reaktionär und fortschrittsfeindlich. Die westliche Gesellschaft ist dabei, dieses Denken nicht zuletzt mit Hilfe ihrer technischen Überlegenheit global zu exportieren. Der fundamentalistische Islam gewinnt aus der Gegnerschaft dazu seine wirksamsten Argumente. Gott allein weiß, zu welchem Ende das führt. Was uns hier im Besonderen beunruhigt ist, dass unsere evangelische Kirche weder die Kraft noch den Willen zeigt, hier einen eigenen Weg im Hören auf das Wort Gottes zu gehen.

4. Selbstverständlich bin ich nicht in der Lage, darzustellen, wie heute von verschiedenen Theologen und Kirchen mit dem Problem der Autorität der Schrift umgegangen wird. Ich möchte stattdessen darstellen, was aus meiner Sicht festzuhalten ist.

  1. Es ist ernstzunehmen, dass die Bibel Menschenwort ist. Die historische Arbeit an der Bibel – von der Textkritik bis zum Nachweis literarischer Parallelen und zur Kanonkritik – ist wichtig, um zu erkennen, „was geschrieben steht“. Zugleich halte ich es für notwendig, dass Kritik an der Kritik geübt wird, und zwar zuerst nicht aus Glaubensgründen sondern aus Gründen der Vernunft. Es gibt m.E. in der wissenschaftlichen Theologie eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber allem, was Tradition ist, und eine große Offenheit gegenüber allen neuen kritischen Thesen. Dahinter steckt ein revolutionäres, antikonservatives Vorurteil: alles Alte ist fragwürdig und zu überwinden, alles Neue ist gut. Die Begriffe Fortschritt und Revolution haben ungeprüft einen guten Ruf. (Um das Ganze an einem Beispiel zu verdeutlichen: Als echtes Jesuswort (verbum ipsissimum) gilt ein Wort dann, wenn es weder vom Judentum, noch vom Hellenismus, noch aus der Gemeindefrömmigkeit abgeleitet werden kann. Vor Gericht gilt die Regel „im Zweifel für den Angeklagten“ (in dubio pro reo), in der kritischen Theologie gilt die Regel: im Zweifel für den Zweifler. Das ist eine Logik hinter der nicht wissenschaftliche Exaktheit steht, sondern ein antitraditionalistisches Vorurteil.) Jedenfalls bin ich der Überzeugung, dass sich nachweisen lässt: Die Ergebnisse der sogenannten wissenschaftlichen Exegese sind allzu oft eben nicht sine ira et studio gewonnen, sondern sie sind geprägt von zeitgeschichtlichen, oft auch von konfessionellen Vorurteilen. (Albert Schweitzers berühmtes Buch über die Geschichte der Leben Jesu Forschung beweist, dass das so ist.)
  2. Um die Autorität der Bibel als Gottes Wort zu vertreten, brauchen wir eine Inspirationslehre, die die historische Betrachtung der Schrift aufnimmt. Das Alte Testament enthält die Zeugnisse der Geschichte des Volkes Israel. Das Neue Testament enthält die Zeugnisse der ersten Christen von Jesus, seiner Geschichte; von der Predigt und dem Leben der ersten Gemeinden. Diese Geschichte ist Heilsgeschichte, Geschichte Gottes mit den Menschen zu ihrem Heil. Die in der Bibel enthaltenen Zeugnisse sind von Gott, dem Heiligen Geist gewirkt. Und er ist auch die Kraft, die deren Überlieferung bewirkt hat. Es ist wichtig, dass wir nicht den einzelnen Autor und seine Beziehung zum Heiligen Geist allein betrachten, vielmehr sollten wir den Gesamtprozess der Überlieferung im Auge haben. Er ist als ganzer vom Geist gewirkt und geleitet. Wissenschaftliche Erkenntnisse geben nicht mehr als bessere Einsicht in diesen Prozess. Dabei ist es eigentlich selbstverständlich, dass diese Aussage über den Heiligen Geist eine Glaubensaussage ist. Die Inspiration der Bibel lässt sich nicht beweisen, so wenig wie sich Gott beweisen lässt. Jeder Mensch hat die Freiheit, die Bibel nicht als Gotteswort sondern als historische Quelle oder als Weltliteratur zu lesen. Das ist sie allemal auch.
  3. Bleibt die Frage der Hermeneutik, das heißt die Frage, wie die Bibel heute für mich zur Autorität wird. Von Luther her kommend legt sich die Antwort nahe: durch den Glauben an Jesus Christus. Er ist die Mitte der Schrift, der Schlüssel, der mir das Verständnis der einzelnen Teile aufschließt, der mir auch hilft das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Zentrum von der Peripherie zu unterscheiden. Wir haben außerdem bei Luther gelernt, dass hinter diesem Namen ein Geschehen steht, das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders. Genau deshalb muss ja auch, wenn man verstehen will, „was Christum treibet“ von Gesetz und Evangelium geredet werden. Diese Konzentration auf die Rechtfertigung ist heilsnotwendig. Sie rettet aus Verzweiflung und Todesangst. Trotzdem gibt es Teile der biblischen Botschaft, die von ihr aus nur schwer zu entfalten sind. Das eine ist das Zeugnis von Gott, dem Schöpfer, der die Welt und jeden von uns wunderbar geschaffen hat und erhält. Er hat die belebte und die unbelebte Kreatur durch seine Gesetze geordnet. Seine Gebote sind die in der Schrift überlieferte Gestalt dieser Ordnung (s. Psalm 19).
    Wir haben oben gesehen, wie schon Martin Luther selbst durch die Unterscheidung des zweifachen Gesetzesgebrauchs versucht hat, dieser Tatsache gerecht zu werden. Ein anderes Defizit liegt in der mit der Rechtfertigungslehre gegebenen Konzentration auf den einzelnen. Luthers seelsorgerlicher, existenzieller Ansatz bringt es mit sich, dass er fragt, wie bekomme ich einen gnädigen Gott; und er erlebt Befreiung von Angst und Tod, wenn zu ihm gesagt wird: „für dich gegeben und vergossen“. Wo aber bleibt die Gemeinde, das Volk Gottes? Schließlich wird doch in der Bibel das Heil Gottes immer dem Volk, der Gemeinde, der Kirche gegeben und dem einzelnen als deren Glied.
    Ich halte es deshalb für notwendig, dass wir von der Mitte Christus her wirklich auf die gesamte Schrift blicken. Gerade dann, wenn wir heilsgeschichtlich denken, erkennen wir, Christus ist die Mitte und der Schlussstein, von ihm kommt alles her und auf ihn läuft alles hin, A und O, Anfang und Ende. Es kommt alles darauf an, jede Frage an die Bibel und die Auslegung jeder Stelle in diesen großen Zusammenhang einzuordnen.
    Papst Benedikt hat im Vorwort zum ersten Band seines Jesusbuches den Begriff „Kanonische Exegese“ gebraucht. Er erläutert: Das ist das „Lesen der einzelnen Texte der Bibel in deren Ganzheit.“ Das „ist eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur historisch-kritischen Methode nicht in Widerspruch steht, sondern sie organisch weiterführt und zu eigentlicher Theologie werden lässt.“ „An dieser Stelle können wir sozusagen auch historisch ahnen, was Inspiration bedeutet: Der Autor spricht nicht als privates, in sich geschlossenes Subjekt. Er spricht in einer lebendigen Gemeinschaft und so in einer lebendigen geschichtlichen Bewegung….
    Die Schrift ist in und aus dem lebendigen Subjekt des wandernden Gottesvolkes gewachsen und lebt in ihm.“ (J. Ratzinger, Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. I, 2006, S. 18f.). Ein anderer Begriff, der auf die Weite hinweist, um die es hier geht ist der der Trinität. Es geht darum, die Schrift als das Zeugnis, das Wort des trinitarischen Gottes zu hören: des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Freilich wird an dieser Stelle noch einmal deutlich, dass wir uns in einem Zirkel befinden: Aus der Schrift erkenne ich den dreieinigen Gott, der mir allein helfen kann die Schrift recht zu verstehen.
    Wie komme ich in diesen Kreis hinein? Durch das Wunder des Heiligen Geistes, der allein Glauben schenkt. Und er tut dies in aller Regel in der Gemeinde, in der Kirche. M.a.W. wir brauchen die Gemeinschaft der Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens und Betens und Lebens, um zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift zu kommen. Das bedeutet nicht, dass wir eine kirchliche Instanz, ein Lehramt brauchen, um von der Bibel den richtigen Gebrauch machen zu können, aber es bedeutet, dass es gefährlich ist, wenn die Ausleger der Schrift sich nicht als Glieder der communio sanctorum verstehen, die auf die Väter und Brüder, die Mütter und Schwestern hören und mit ihnen im Gespräch sind. “ Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.“ Sage mir, in welcher Gemeinschaft du zu Hause bist, und ich sage Dir, wie Dein Schriftverständnis aussieht.
    Die Not evangelischer Schriftauslegung ist jedenfalls auch ein Gemeinschaftsproblem und im Ernstfall eine Machtfrage innerhalb des akademischen Betriebes.Zum Schluss noch einmal Papst Benedikt: „Der Zusammenhang mit dem Subjekt „Volk Gottes“ ist für die Schrift vital. Einerseits ist dieses Buch- die Schrift- der von Gott herkommende Maßstab und die weisende Kraft für das Volk, aber andererseits lebt die Schrift doch nur eben in diesem Volk, das sich in der Schrift selbst überschreitet und so- in letzter Tiefe vom fleischgewordenen Wort her- eben Volk Gottes wird.“ (Benedikt, a. a. O., S. 20)

Ein Gedanke als Nachtrag: Es ist üblich, die Autorität der Schrift dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass wir von der „Heiligen Schrift“ reden. Bei Rudolf Otto (Das Heilige, 21. Aufl. 1923) kann man lesen, dass die Momente des Heiligen das Numinose, das Mysterium tremendum und das Mysterium fascinosum sind. Wir sollten wieder lernen, dass die Heilige Schrift in diesen Bereich gehört, den wir nicht versachlichen und beherrschen können, sondern der unser Begreifen übersteigt. Der Umgang mit der Thora in der Synagoge und mit dem Evangelienbuch im orthodoxen Gottesdienst sollte uns anregen, entsprechende Formen zu finden. Im übrigen möchte ich an Luthers Worte über die Heiligkeit des Namens Gottes im Kleinen Katechismus erinnern:“ Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig, aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns heilig werde. Wie geschieht das? Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird und wir auch heilig als die Kinder Gottes danach leben. Dazu hilf uns, lieber Vater im Himmel! Wer aber anders lehrt und lebt, als das Wort Gottes lehrt, der entheiligt unter uns den Namen Gottes. Davor behüte uns, himmlischer Vater!“ Beten wir, dass die Schrift bei uns geheiligt werde.

Referat von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jacob, Dresden, auf der Jahrestagung der Ev.-Luth. Bekenntnisgemeinschaft Sachsen e. V. [1] in Rathen (Sächs. Schweiz) am 2. März 2013.