Gemeindenetzwerk

Ein Arbeitsbereich des Gemeindehilfsbundes

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Weltevangelisierung oder Weltveränderung?

Dienstag 12. März 2013 von Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften


Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften

Tübinger Pfingstaufruf zur Erneuerung des biblisch-heilsgeschichtlichen Missionsverständnisses

„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ (Apostelgeschichte 1, 8)

Am 1. und 2. März 2013 fand in Gomaringen bei Tübingen ein Symposion statt, das dem Gedächtnis des am 10. November 2012 heimgerufenen Prälaten und Förderers der Missionsbewegung Rolf Scheffbuch gewidmet war. Auf ihm wurde die folgende missionstheologische Erklärung beschlossen, in der wir uns nun zum Pfingstfest an alle Christen wenden, die das Werk der Mission und Evangelisation auf ihren Herzen tragen.

Pfingsten steht seit Beginn der Kirchengeschichte im Zeichen der Weltevangelisierung. Der erhöhte Herr hat den Heiligen Geistes nach seiner Verheißung seinen Jüngern gesandt (Lukas 24, 47-48; Apg 1, 8), um sie auszurüsten für die Erfüllung seines großen Auftrags, das Evangelium zu allen Völkern der Erde hinauszutragen (Mt 28, 18-20). Denn auch die Heiden sollten durch dessen Annahme Anteil gewinnen an der Erlösung der Menschen von Sünde, Tod und der Macht des Teufels, die Christus am Kreuz und in seiner Auferstehung ein für alle Male vollbracht hat.

Wir begrüßen das verstärkte weltweite Suchen nach missionarischen Wegen für unsere Zeit. Wir freuen uns über die Berichte aus allen Erdteilen, die Zeugnis ablegen vom Erwachen der evangelistischen Verantwortung und vom Gewinnen vieler bisher noch Unerreichter für den Glauben an Jesus Christus als ihren Herrn und Erlöser. Besonders gedenken wir der Märtyrer, die für ihr tapferes Zeugnis für die Heilsbotschaft von Jesus Christus als Herrn und Erlöser ihr Leben gelassen haben oder die dies auch heute noch tun.

Gleichzeitig allerdings bereitet es uns Sorge, dass nunmehr auch die evangelikale Missionstheologie beginnt, ihre traditionelle biblisch-heilsgeschichtliche Begründung zu vernachlässigen. Schritt für Schritt nähert sie sich nämlich dem geschichtstheologischen Missionsverständnis des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) an, wie dieser es unter dem Einfluss säkular-ökumenischer und politischer Theologien entwickelt hat. Das geschieht wesentlich durch die Vermittlung der ursprünglich in Lateinamerika beheimateten „Radikalen Evangelikalen“.

Unstatthaft werden hier Heilsgeschichte und Weltgeschichte auf dem Weg zur gewollten Aufrichtung des Reiches Gottes schon auf dieser Erde in eins gesetzt.

Hiergegen erheben wir in dieser öffentlichen Erklärung mahnend unsere Stimme, wie wir das auch in früheren Krisenzeiten der Mission durch Wächterrufe wie die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission  (1970) getan haben.

1. „Transformation“ als neue Thematik evangelikaler Missionstheologie

Das zeitgenössische theologische Denken der Evangelikalen bewegt sich  zunehmend im Spannungsfeld zwischen Verkündigung der durch Christi Sühnetod gewirkten Versöhnung mit Gott einerseits und Gesellschaftsveränderung als angeblichem Ziel der Mission andererseits.

Dieses Missionsverständnis wird gekennzeichnet mit Begriffen wie „ganzheitlich“, „holistisch“, „inkarnatorisch“. Viele Missionstheologen betreiben ihr Fach jetzt unter der Bezeichnung „Missionale Theologie“. Damit ist eine Schau verbunden, in der alle Wirkungsbereiche der Kirche – einschließlich ihrer sozialen und politischen Mitverantwortung und des Dialogs mit den anderen Religionen – bestimmt sind von ihrer umfassenden Sendung in die Welt, unter dem Verheißungsziel „Reich Gottes“.

In diesem Zusammenhang bildet das Wort „Transformation“ einen Schlüsselbegriff, der vielen Christen bisher unbekannt war. Angesichts seiner raschen Verbreitung und wachsenden Dominanz bedarf er dringend einer Klärung.

Das Wort „Transformation“ als solches kommt vom lateinischen transformare =  umformen. „Transformation“ im Sinne einer Veränderung von sozialen und politischen Strukturen ist so kein biblischer Begriff. Am ehesten entspricht ihm das griechische metamorphóo = umgestalten, verwandeln (Mt 17, 2; Röm 12, 2; 2 Kor 3, 18). Im Neuen Testament ist damit die vom Heiligen Geist bewirkte Umwandlung der Wiedergeborenen, ihre Heiligung und „Verklärung“, nicht aber eine Umgestaltung irdischer sozialer Zustände gemeint.

Dass die Neo-Evangelikalen das Konzept einer Gesellschafts-Transformation nützlich fanden, hängt damit zusammen, dass sich in weiten Teilen der  amerikanischen Missionsbewegung seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die „Kingdom-Theology“ durchgesetzt hat. Dies geschah in Verdrängung der bisherigen, auf persönliche Bekehrung und Gemeindebau ausgerichteten Missionstheologie.

Eine Facette dieser „Reich-Gottes-Theologie“ bildet die Dominion– bzw. Herrschaftstheologie. Sie entsprang aus der älteren amerikanischen Tradition des „Postmillennialismus“, d.h. der Ãœberzeugung,  dass die Wiederkunft Jesu Christi auf dieser Erde nach der Errichtung des von Jesus verkündeten und auf dieser Erde anbruchsweise aufgebauten messianischen Friedensreiches, des Tausendjährigen Reiches (Millennium) von Offenbarung 20, 1-6, stattfinden soll.

Diese Vorstellungen von einer schrittweisen Aufrichtung des Friedensreiches durch den Einsatz von Christen sind nun von den deutschsprachigen Autoren der Transformations-Theologie übernommen worden, und durch ihre Veröffentlichungen und Lehrtätigkeit werden sie an evangelikalen Seminaren und Hochschulen verbreitet. Aktionen wie die „Micha-Initiative“ setzen sie in die Tat um und erheben sie zum neuen Missionsprogramm. Dagegen protestierte Rolf Scheffbuch, unterstützt von einigen anderen pietistischen Theologen, u. a. Helmuth Egelkraut. Denn hier werde die Mission mit politischen Zielen verknüpft, die utopischen Charakter tragen (z. B. Halbierung der Weltarmut bis zum Jahre 2015!) und welche die Arbeitskraft und finanziellen Mittel der Missionare auf Kosten der vorrangigen Evangelisierung überlaste.

Vertreter der „transformatorischen Bewegung“ haben durch beeindruckende Buchserien auf sich aufmerksam gemacht. Sie erzielen durch ihre Veröffentlichungen und Kongresse eine beträchtliche Breitenwirkung. Das macht eine theologische Auseinandersetzung mit der Transformations-Theologie erforderlich.

Sie hat nämlich konkrete Auswirkungen in der missionarischen Praxis. Wirtschaftlich-soziale Projekte verdrängen die evangelistische Verkündigung. Zu deren Notwendigkeit bekennen sich zwar grundsätzlich auch die meisten Transformations-Theologen. Trotzdem beobachten wir mit Besorgnis, dass in ihren programmatischen Veröffentlichungen neben die Verkündigung des Evangeliums soziale und, wo möglich, politische Aktionen als gleichwertige, ja sogar bevorzugte Ausdrucksform des Evangeliums und der Königsherrschaft Gottes treten. Durch diese Erweiterung bleibt die soteriologische, d.h. die auf das ewige Heil gerichtete Dimension des Evangeliums, die von Jesus durch seinen Sühnetod gebrachte Erlösung, nicht unberührt. Im Gegenteil tritt sowohl in der Theorie als auch der missionarischen Praxis das Heil der Seele erklärtermaßen hinter der Schaffung besserer sozialer und ökonomischer Lebensbedingungen zurück.

2. Das Schriftverständnis der Transformations-Theologie

Transformations-Theologen bekennen sich zwar grundsätzlich zur Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift. Allerdings sind in ihrer Schriftauslegung gefährliche Weichenstellungen zu beobachten, die ein unvoreingenommenes Hören des Wortes Gottes beeinträchtigen oder verhindern. Sie stehen im Zusammenhang mit der „kontextuellen Hermeneutik“, welche einen Text von seinem Kontext, in diesem Falle der sozial-politischen Situation, her verstehen will. Die Problematik liegt darin, dass man hier die biblischen Texte nach den kontextuellen Auslegungsmethoden liest, wie sie aus befreiungs-theologischen und feministischen Theologien bekannt sind. Die sozial-politische Situation, in der die biblischen Texte gelesen werden, bietet dabei den Deutungsschlüssel.

Damit verbindet sich eine bestimmte Zuordnung von Altem und Neuem Testament. Willkürlich ausgewählte geschichtliche Ereignisse des Alten Testaments, wie besonders die Befreiung Israels aus Ägypten sowie die prophetische Predigt gegen Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit, betrachtet man als „paradigmatische“ [vorbildhafte] Modelle, auf die man auch die heutige Mission der Kirche verpflichtet.

Damit wird der Boden der klassischen evangelischen Schriftauslegung verlassen. Für diese bildet bekanntlich Jesus Christus die inhaltliche heilsgeschichtliche Mitte der Heiligen Schrift, der uns selber den verbindlichen Aufschluss darüber gibt, wie das Alte Testament als auf ihn bezogen zu verstehen ist (Lk 24, 27.45; vgl. Apg 13, 47; 2 Kor 1, 20).

 Eine Folge des kontextuellen Verständnisses der Heiligen Schrift bei den Transformations-Theologen ist, dass der Mensch mit seinen Problemen und Wünschen zum Mittelpunkt wird, nicht aber Gott, der sein Handeln in Gericht und Gnade in der Heiligen Schrift offenbart.

Wenn nun der biblische Text nur auf die Fragen des heutigen Kontextes hin gelesen wird, kann er das nicht mehr aufzeigen, was er selbst sagen will.

3. Das Jesusbild der Transformations-Theologie

Tiefgreifende Konsequenzen hat die kontextuelle Bibelauslegung für die Christologie, d. h. ihre Sicht von Person und Werk von  Jesus, dem Christus. Von ihrer Darstellung des zentralen Inhalts des christlichen Glaubens her fallen zugleich die Entscheidungen für das Gesamtverständnis der Kirche und ihrer „missionalen“ Existenz.

Christologische Gesichtspunkte kommen bei allen Autoren der Transformations-Theologie gelegentlich zu Worte. Was sie aber hauptsächlich interessiert, ist das Menschsein Jesu und sein hingebender Dienst in den sozialen Nöten dieser Welt.

Das geschieht unter weitgehender Ausblendung seines Gottseins, wie dieses besonders im Johannesevangelium (Joh 1, 1-14; 20, 28) betont herausgestellt wird und von der Alten Kirche in ihren grundlegenden Dogmen von Nizäa 325 und Chalcedon 451 formuliert worden ist: Ist doch nach diesen der Sohn Gottes wesensgleich mit Gott dem Vater, und in seiner Person sind beide Naturen, die göttliche und die menschliche, untrennbar miteinander vereint.

Nun wird zwar das Wunder der Menschwerdung Gottes angesprochen in dem Begriff    „inkarnatorisch“, der im zeitgenössischen Missionsverständnis der neo-evangelikalen Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Doch geht es dabei gerade nicht so sehr um das einmalige Wunder der Fleischwerdung des ewigen Logos in der Person des Christus. Vielmehr wird in dem, was wir eine „Vorbild-Christologie“ nennen können, hervorgehoben: Der menschgewordene Jesus Christus habe sich zum Diener gemacht und eine Existenz des Dienstes in den Nöten der Menschheit geführt.

Gewiss rief Jesus von Nazareth Menschen auf, in seine Nachfolge einzutreten, und er legte in seinen Predigten und Lehren die Grundlagen einer christlichen Ethik. Doch ist zu bedenken, dass die heilsgeschichtliche Einmaligkeit der Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes (Joh 1, 14), sein einmaliger Opfertod sowie seine Erhöhung auf den Thron Gottes jeder „Imitatio [wörtlich ‚Nachahmung‘] Christi“ eine Schranke setzt. Sein Sühneopfer am Kreuz zur Tilgung unserer Schuld kann nicht nachgeahmt werden. Es ist im Sinne des biblisch-reformatorischen Heilsverständnisses unstatthaft, aus dem „Christus für uns“ ein einseitiges „Wir wie Christus“ zu machen; denn damit würde das Evangelium zu einem neuen Gesetz.

Heute steht die christliche Missionsbewegung in Gefahr, durch solche Kontextualisations-Bemühungen auf die Fährte eines unechten Jesus geführt zu werden. Deswegen erinnern wir an die warnenden Worte des Apostel Paulus an die Korinther (2 Kor 11, 3-4 EÜ):

„Ich fürchte aber,…, auch ihr könntet in euren Gedanken von der aufrichtigen und reinen Hingabe an Christus abkommen. Ihr nehmt es ja offenbar hin, wenn irgendeiner daherkommt und einen anderen Jesus verkündigt, als wir verkündigt haben, wenn ihr einen anderen Geist empfangt, als ihr empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, als ihr angenommen habt.“

4. Kirche für die Welt

Das, was in der Transformations-Theologie der Christologie, der Lehre vom Wesen und Werk des Gottessohnes Jesus Christus, widerfährt, hat direkte Folgen auch für die Ekklesiologie, das Verständnis der Kirche. So wie dort bei Jesus Christus der wichtigste Aspekt der ist, dass er sich zum Diener der Welt in ihren Nöten machte, wird hier auch die Kirche einseitig unter dem Aspekt ihres Dienstes bei der Welttransformation betrachtet. Das bedeutet, dass die Funktion der Kirche wichtiger wird als ihr Wesen.

In Neuen Testament besteht dieses bekanntlich darin, dass sie in inniger Verbindung mit dem erhöhten Christus steht, so, wie die Glieder des Leibes zu ihrem Haupt (1 Kor 12, 12; Eph 1, 22; 4, 15; 5, 23; Kol 1, 18). In ihrer Neugeburt haben die Gläubigen Anteil an der göttlichen Natur gewonnen (2 Petr 1, 4), entronnen der verderblichen Lust der Welt.

Durch Gott den Sohn steht die Gemeinde auch mit den beiden anderen Personen Gottes in enger Verbindung. Sie ist das Volk Gottes und der Tempel des Heiligen Geistes.

In der Transformations-Theologie hingegen wird die Kirche in einer anderen Perspektive betrachtet und gewertet. Hier steht sie unter der Berufung, sich in ihrer ganzen Existenz dem Dienst in der Welt zu widmen und sich um die Verwandlung der wirtschaftlich-sozialen und politischen Strukturen der Gesellschaft zu bemühen, sodass dadurch Schritt für Schritt das Reich Gottes in Erscheinung trete.

Unter den Neo-Evangelikalen in den USA gab es schon zuvor eine ähnliche Entwicklung. So vertritt die Dominion Theologie die Auffassung, es sei Aufgabe der Kirchen und Christen, das Reich Gottes schon in der diesseitigen Geschichte aufzubauen. Programmatisch wird das in der Bewegung der „Emergent Church“ vertreten. Diese versteht sich als das neue „Paradigma“ [Leitbild] einer „missionalen Kirche“ für das 21. postmoderne Jahrhundert. Die Kirche ist in dieser Sicht Instrument Gottes zur Ausführung seines Reichsplanes. Doch könne er sich auch anderer Instrumente dabei bedienen, z. B. der nichtchristlichen Religionen wie auch politisch-sozialer Bewegungen, selbst wenn deren Mitglieder Atheisten sein mögen.

Transformations-Theologen halten formal an der dreifachen Grundaufgabe der Kirche: Leiturgia, Diakonia und Martyria [Anbetung, Diakonie und Zeugnis] fest. Aber es fällt auf, dass dabei auch der Gottesdienst der  Gemeinde zu einem Aufruf umgepolt wird, sich bei der Veränderung der Welt hin zum Reich Gottes einzusetzen. Ebenso ist die Mission weniger das Angebot an die gottentfernten Menschen, durch Bekehrung und Glauben an die Sühnetat Christi am Kreuz Vergebung der Sünden und ewiges Leben zu empfangen. Stattdessen wird sie zur Aufforderung, mitzuwirken beim Bau des Reiches Gottes im Hier und Jetzt.

Wie anders beschreiben dagegen die neutestamentlichen Schriften das Wesen und den Auftrag der Gemeinde:

„Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“  (1 Petr 2, 9 EÜ)

5. Gottes sich gegenwärtig sichtbar ausbreitende Königsherrschaft

Im Rahmen der Transformations-Theologie spielt der Begriff des Reiches Gottes eine zentrale Rolle, allerdings fast ausschliesslich in dessen gegenwärtiger Dimension. Gottes Königsherrschaft werde hier und jetzt, in dieser Welt, durch die Mission mit deren „sozial-transformativem“ Auftrag dargestellt und ausgebreitet. Das Reich Gottes könne überall da wahrgenommen werden, wo sich die „Werte des Reiches“ durchsetzten und Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung und lebensfeindliche Strukturen überwunden würden. Das gelte sogar für nicht- oder außerchristliche Vorgänge.

Mit solchen Behauptungen wird der „eschatologische Realismus“ der Bibel übersehen, d. h.  das, was sie über tatsächlich zu erwartende endzeitliche Ereignisse vorhersagt: das Ausreifen des Bösen, das Weltreich des Antichristen, der Weltuntergang und das Jüngste Gericht. Wird all das in innerweltliche utopische Programme umgewandelt, so wird damit die Kirche von ihrer vorrangigen Missionsaufgabe abgehalten, den christusfernen Menschen das Evangelium zu verkündigen.

6. Evangelistische Verkündigung und soziale Verantwortung in Geschichte und Gegenwart der Mission

Unsere Einwände gegen die Transformations-Theologie sind nicht gegen deren Hinweis auf die soziale Mitverantwortung der Mission gerichtet. Wir sind keineswegs gegen die Taten der Liebe, wohl aber gegen die massive Schwerpunktverlagerung im Beziehungsverhältnis zwischen Verkündigung und sozialer Verantwortung; denn dadurch droht das Evangelium zu einem ideologischen Programm zu werden. Wir gestehen den Transformations-Theologen ihr berechtigtes Anliegen zu, dass Bekehrung und Gesinnungswandel sowie die Jesusnachfolge auch sozialethische und strukturverändernde Konsequenzen haben. Aber wir widersprechen dem von ihnen erweckten Eindruck, dass der Mensch der „Macher“ des Reiches Gottes wäre und das empfangene Heil sich gleichsam erst durch die Tat erweisen würde. Denn dies kommt einer neuen  „Werkgerechtigkeit“ nahe.

Gewiss soll und kann christliche Mission solche Menschen, die Armut und sonstige Not erleiden, durch diakonische Taten der Liebe auch leiblich spüren lassen, dass ihnen besonders Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge zugewandt ist. Und gewiss kann das Reich Gottes durch die Ergebnisse christlichen sozialen und diakonischen Handelns zeichenhaft sichtbar erscheinen. Doch können solche positiven Veränderungen im  wechselhaften Lauf der Weltgeschichte auch wieder entschwinden. Erschreckend zeigt sich das heute in dem rapiden Werteverfall im einst christlichen Abendland.                                                        

Schon zu Beginn der neuzeitlichen Missionsbewegung  wussten die lutherischen, pietistischen und evangelikalen Missionen in ihrer Theologie und ihrem praktischen Einsatz um die Bedeutung sozialethischen Handelns. Dabei beachteten sie jedoch Luthers Lehre von den Zwei Regierungsweisen Gottes zur Rechten und zur Linken, d. h. Kirche und Staat, bzw. die reformierte Unterscheidung zwischen den zwei Mandaten, dem kulturellen und dem missionarischen. Das hielt sie heilsam von der Verirrung ab, sie miteinander zu vermischen und soziales Wohl als geistliches Heil auszugeben, wie das die Schwärmer zur Reformationszeit taten.

Unter diesen Voraussetzungen haben christliche Missionare aller Konfessionen in Lateinamerika, Afrika und Asien auf den Gebieten der Erziehung, ärztlicher Hilfe und wirtschaftlicher Entwicklung beachtliche Leistungen vollbracht. Sie zeigten ihre Früchte auch in bemerkenswerten gesellschaftlichen Verbesserungen bis in staatliche Ordnungen hinein.

Und doch stand für sie alle das Anliegen, verlorenen Menschen durch den Ruf zur Bekehrung und zum Glauben an das Evangelium den Weg zum ewigen Heil zu eröffnen, an erster Stelle. Deshalb dürfen auch wir im missionarischen Einsatz nie das Wichtigste vernachlässigen, was wir als Beauftragte von Jesus allen Menschen bringen sollen: das Angebot der Versöhnung mit Gott aufgrund des Sühnetodes von Jesus am Kreuz und die Gewissheit des ewigen Lebens durch seine Auferstehung von den Toten.

So ist und bleibt die Verkündigung des Evangeliums vom Heil in Christus die primäre Aufgabe der Mission und Evangelisation. Treffend antwortete Rolf Scheffbuch auf die Frage: Ist die Tat so wichtig wie das Wort?:

„Das Tun des Guten darf nicht zu einem Aushängeschild der Christen werden, mit dem sie die Hoffnung verbinden, besser angesehen zu werden. Vielmehr soll der Hinweis auf das ‚Werk des Christus‘ das Entscheidende am Christentum bleiben. Das ‚Wort‘ der Jesus-Botschaft kann durch nichts ersetzt werden – noch nicht einmal durch die liebevollste Tat der Barmherzigkeit.“

7. Das Kommen des Reiches Gottes in biblischer Perspektive

 „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.“ (Röm 14, 17) – „Wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in Hoffnung.“ (Röm 8, 22-24a)

Das verheißene Reich Gottes kann unter den Bedingungen der gefallenen Schöpfung noch nicht verwirklicht werden. Das zu übersehen war der Irrtum der Social-Gospel-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Genauso betraten später die ökumenischen Humanisierungs-Programme einen Irrweg. Denn in ihrer Verbindung mit der liberalen Theologie und dem Entmythologisierungs-Programm nahmen sie die Grundaussagen der biblischen Heilsgeschichte nicht ernst.

Das musste zur Abkühlung des evangelistischen Eifers führen. Heute nun droht die gleiche Gefahr auch den evangelikalen Missionen. Sie tut es, soweit diese sich auf die Projekte sogenannter „ganzheitlicher, holistischer, inkarnatorischer“ oder eben auch transformativer Mission einlassen. Denn hier geraten angesichts der Bemühungen um das leibliche und soziale Wohl die um das Heil der Menschen leicht in den Schatten.

Dies ist kein Urteil über die guten Absichten ihrer Anwälte.  Jedoch müssen wir das sehr ernst nehmen, was die Heilige Schrift negativ über die Sündhaftigkeit des menschlichen Herzens und die Zerstörungsmacht sagt, die dem Teufel, dem „Fürsten dieser Welt“ (Joh 12, 31; 14, 30; 16, 11), vorläufig, d.h. bis zum Ende dieser Weltzeit, noch verblieben ist. Darum muss eine heilsgeschichtlich ausgerichtete Mission gegenüber den ideologischen und theologischen  Fortschrittsutopien den Wirklichkeitscharakter der  biblischen Prophetie zur Geltung bringen.

Nach ihr wird der gegenwärtig noch wirksame Einfluss der dämonischen „Mächte und Gewalten“ erst der wiederkommenden Christus völlig beseitigen (2 Thess 2, 8; Off 19, 20).

Paulus beschreibt in Epheser 6, 10-17 und 1Thess 2,2 und Kol. 1, 28 seine Mission als einen Kampf, an dem auch die Gemeinde teilnehmen soll. Darum hat unsere Teilnahme an Gottes trinitarischer Mission neben der soteriologischen, dem Heil dienenden Aufgabe auch eine kämpferische Seite: Sie ruft den Sieg des Christus über alle Verderbensmächte aus (Mt 10, 1; Mk 16, 17; 2 Kor 10, 4).

Positiv hingegen dürfen wir uns auf die leuchtenden Verheißungen der biblischen Endzeit-Prophetie verlassen. Der Wiederkommende wird nach der Vernichtung der Weltherrschaft des Antichristen auf dieser Erde sein Reich aufrichten, und der Vater wird den neuen Himmel und die neue Erde schaffen, wo alles Leiden verschwunden sein und Gerechtigkeit wohnen wird (Off 21, 1-8; 22, 1-5) Im 2. Petrusbrief (Kap. 3, 11-13 EÜ) lesen wir:

„Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst: wie heilig und fromm müsst ihr dann leben, den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel im Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.“

Aufruf

Wir ermutigen und rufen dazu auf, die klassische biblisch-heilsgeschichtliche Schau der Mission zu erneuern. Die deutsche evangelische Missionstheologie hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder ihre besondere Berufung dadurch wahrzunehmen gesucht, dass sie das in ihr gepflegte heilsgeschichtliche Verständnis der Mission in die internationale Missionsbewegung kritisch konstruktiv einbrachte, und zwar sowohl in deren ökumenischer wie – heute zunehmend – auch evangelikaler Gestalt.

Seit Uppsala 1968 bis in die Gegenwart wurde diese Tradition weitergeführt  im Blick auf die  Vollversammlungen und Missionskonferenzen des ÖRK wie auch auf die drei Kongresse der Lausanner Bewegung in Lausanne (1974), Manila (1989) und Kapstadt (2010). Dies geschah u. a. durch die Eingaben des Tübinger Instituts für Missionswissenschaft und Ökumenische Theologie sowie durch die Verlautbarungen des Theologischen Konvents Bekennender Gemeinschaften. Sie alle waren von diesem heilsgeschichtlichen Missionsverständnis geleitet. Immer ging es darum, gegenüber schwärmerischen Tendenzen zur Vorwegnahme des  kommenden Reiches Gottes an die grundlegende heilsgeschichtliche Unterscheidung zwischen dem „Schon jetzt“ und dem „Erst dann“ durch das dreifache Kommen des Christus: einst im Fleisch, heute im Geist und schließlich in Macht und Herrlichkeit zu erinnern. – Auch heute haben viele gegenwärtige Unklarheiten über Grund, Ziel und die rechte Gestaltung der Mission eine gemeinsame theologische Ursache: Sie lassen die heilsgeschichtliche Schau, den „Blick auf das Ende“, wie das in der Vergangenheit den Weg der evangelischen Missionsbewegung bestimmt hat, in Vergessenheit geraten.

Das ist ein schwerer Verlust. Die Stärke der biblisch-heilsgeschichtlichen Schau erweist sich doch gerade darin, dass sie das Gottes-, Welt- und Zeitverständnis der Bibel selbst aufnimmt. Sie geht von der zeitlichen und inhaltlichen Mitte des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus aus, setzt ihre beiden Hauptteile Altes und Neues Testament in das entsprechende Verhältnis zueinander und beachtet die dazugehörigen Unterscheidungen. Daraus ergibt sich auch das erwähnte Spannungsverhältnis zwischen dem „Schon jetzt“ und dem „Erst dann“.

Viele umstrittene Themen finden von ihr her eine überzeugende Antwort.

Dazu gehört erstens und insbesondere die Stellung des Volkes Israel unter den Völkern. Nach dem Zeugnis von Paulus in Römer 11, 25-36 wird die schließliche Bekehrung und Wieder-Annahme Israels dann stattfinden, wenn die Völkermission zur Vollendung gekommen ist, die „Fülle der Heiden“ eingegangen ist und Christus wiederkommen wird. Ihm möchte die Mission an Israel die Herzen der Juden öffnen.

Zweitens findet die religionstheologische Frage nach dem Wesen der nichtchristlichen Religionen in ihrem Verhältnis zum christlichen Glauben ihre Antwort in deren dreipoliger Bestimmtheit durch Gottes Uroffenbarung (Apg 14, 17; Joh 1, 9; Röm 1, 19-20), die Antwort des Menschen in Gehorsam und Widerstand (Apg 17, 27f.; Jes 53, 6a) sowie die Wirksamkeit der Dämonen (2 Kor 4, 4; Eph 2, 2).

Drittens bewährt sich die heilsgeschichtliche Schau auch im gegenwärtigen Ringen um eine Zukunftsgestaltung, die dem Evangelium gemäß ist. Die Kirche Jesu Christi darf in ihrer sozial-politischen Mitverantwortung Zeichen des schon angebrochenen Reiches setzen, diesen jedoch weder eine zu große noch umgekehrt eine zu geringe Bedeutung beimessen. Vielmehr  vertraut sie fest auf die gewisse Erfüllung der biblischen Verheißung des Reiches Gottes bei der Wiederkunft Jesu Christi in Macht und Herrlichkeit. In seinem Reich werden Friede und Gerechtigkeit miteinander endgültig verwirklicht sein (Off 21, 1.24).

Abschließend möchten wir betonen, dass unsere Kritik an der Transformations-Theologie nicht nur einer irrigen Einzellehre und auch nicht den sie vertretenden einzelnen Theologen gilt. Vielmehr sprechen wir ihnen trotz der genannten Irrtümer keineswegs die Bruderschaft in Christus ab. Darum möchten wir mit ihnen um das Bleiben in der biblischen Wahrheit ringen. Dabei sind wir uns bewusst, dass auch wir der ständigen Korrektur und Vertiefung durch das Wort Gottes bedürfen, und wollen deshalb auch unsererseits für biblische Korrektur offen sein.

Zugleich richten wir unsere dringende Mahnung an die gesamte christliche Missionsbewegung. Möge sie sich davor hüten, durch eine zur Ideologie werdende Geschichtstheologie auf einen Irrweg zu geraten. Setzt diese doch, wie wir erkennen, an die Stelle des ewigen Heils das zeitliche soziale Wohl und vergisst, dass die Königsherrschaft Christi nicht von dieser Welt ist (Joh 18, 36). Jesus hat in seiner Endzeitrede auf dem Ölberg seine Jünger vor falschen Propheten und Christusgestalten gewarnt, die in der Endzeit auftreten und viele verführen werden (Mt. 24, 11). Als Erhöhter warnt er vor der endzeitlichen „Stunde der Versuchung“, die über den ganzen Erdkreis [griechisch: oikouméne!] kommen werde (Off 3, 10b). Doch der erhöhte Christus hat der Gemeinde in Philadelphia verheißen, sie um ihrer Glaubenstreue zu dem Wort vom standhaften Warten auf ihn (Menge-Ü.) willen in dieser Stunde zu bewahren (Off 3, 10a). Ebenso, so dürfen auch wir fest vertrauen, wird Er, der Gute Hirte, auch heute seine ihm getreue Gemeinde durch alle äußeren und inneren Anfechtungen hindurchbringen. Er wird es tun durch die Kraft und die Leitung des Heiligen Geistes, den er den Seinen als Unterpfand der vollendeten Erlösung in seinem Reich gegeben hat

(2 Kor 1, 22; 5, 5; Eph 1, 14).

O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein,
verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.
Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an,
dass jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann.

Hamburg und Tübingen, Pfingsten 2013

Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften:

Pastor Ulrich Rüß (Präsident)

Andreas.Späth (Vizepräsident)

Pfarrer Dr. Werner Neuer (Vorsitzender der Theologischen Kommission)

Prof. Dr. Peter Beyerhaus D.D. (Ehrenpräsident)

Mitarbeiter am Rolf Scheffbuch-Symposion und weitere Unterzeichner des Tübinger Pfingstaufrufs (TPA, Kurzfassung):

Pastor Burghard Affeld; Missionsleiter a.D. Friedhelm Appel; Pfr. Karl Baral; Pfr. Dr. Martin Baier; Prof. Dr. Dr. Horst W. Beck und Frau Christa Beck-Rudert; Frau Ingegärd Beyerhaus; Frau Kerstin Brosei; Pfr. Johannes  Beyerhaus; Pfr. Dr. Helmut Burkhardt; Dr. Martin Erdmann; Dozent Pfr. Dr. Stefan Felber; Prof. Dr. Edith Düsing; Prof. Dr. Helmuth Egelkraut; Pfr. Hans-Otto Graser; Frau Beate Gsell; Dr. Peter Hammond, Kapstadt; Dekan Martin und Frau Rosmarie Holland; Sr. Friederike Kehnel; Drs. [B] Dorothea Killus (Schriftführerin); Prof. Dr. Jung-Joo Kim, Seoul, Korea; Dr. Ingmar Kurg, Tallinn, Estland; Weihbischof Prof. Dr. Andreas Laun, Salzburg; Prof. Dr. Dong-Joo Lee, Seoul, Korea; Prof. Dr. Klaus Motschmann; P. Dr. Dieter Müller; Missionsleiter Manfred Müller; Pfr. Ernst und Frau Mag. Maria Nestele; Pfr. Gaston Nogrady; Dir. i.R. Pfr. Dr. Horst Neumann;  Rev. Dr. Thorsten Prill, Windhoek, Namibia; Dozent Mag. theol. Dr. Hans  Ulrich Reifler, Basel; Pfr. Martin Rösch; KR Dr. Rolf Sauerzapf; Mrs. Dorothea Scarborough, Kapstadt; Pfr. Winrich Scheffbuch; Jürgen Schlicksupp; Prof. Dr. Günter R. Schmidt; Prof. Dr. Harald Seubert;  Prof. Dr. Alma von Stockhausen; Frau Elfriede Tlach; Missionsdirektor em. Pfr. Dr. Eberhard Troeger; Prof. Dr. Bodo Volkmann; OStR Erik Wiberg, Värnamo, Schweden  u. v. a.

Dieser Aufruf ist auf Spendenbasis (KSK Tübingen Nr. 288 396   BLZ 641 500 20) in beliebiger Menge beziehbar  im Sekretariat der IKBG: E-Mail: >Sekretariat@ikbg.net<

Zur Langfassung des Tübinger Pfingstaufrufes.

Quelle: www.ikbg.net

 

 

Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag Artikel empfehlen Artikel empfehlen

Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 12. März 2013 um 12:37 und abgelegt unter Christentum weltweit, Theologie.