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Eine islamische Analyse

Der türkische Gelehrte Prof. Dr. Ahmet Davutoglu ist einer der einflussreichsten muslimischen Intellektuellen. In mehreren Büchern hat er den Traum von einem Großreich entwickelt, das Nationalstaaten überwindet, eine neoosmanische Vision. Sein Buch «Strategische Tiefe» ist ein Standardwerk – und ein Bestseller. Das politische Ziel ist ehrgeizig. Ihm schwebt keine Regionalmacht vor, sondern eine Großmacht: «Unser Spielfeld ist die Welt». Der Professor lebt nicht im akademischen Elfenbeinturm. Er ist Außenminister der Türkei.

Ahmet Davutoglu ist der Vordenker der islamischen Renaissance in der Türkei. Das Land am Bosporus soll sich auf seine alte Größe als islamisches Weltreich besinnen und daran anknüpfen. Seiner Analyse zufolge steht die westliche Zivilisation vor ihrem Niedergang. Der Türkeikorrespondent Boris Kalnoky zitiert aus Davutoglus Buch «Zivilisatorische Transformation». Der «muslimische Mensch» sei dem westlichen «potentiell überlegen». Der «Homo islamicus» sei «strebsam, dynamisch, moralisch und muslimisch», so der türkische Spitzenpolitiker. Dem verfallenden Westen könne nur noch die Transformation vom Falschen ins Richtige helfen. Das Richtige ist aus seiner Sicht ein islamisches Großreich.

Der in Afghanistan geborene und seit vielen Jahren in Deutschland lebende Neurologe und Psychoanalytiker Josef Ludin sieht diesen Machtanspruch mit Sorge. Die Vorstellung einer islamischen Transformation bedrohe «die säkulare europäische Zivilisation mit einem imaginären Gegenentwurf». Diese Idee einer islamischen Zivilisation «muss Europa zurückweisen», fordert der Arzt und Autor.

Er konstatiert, dass viele Europäer sich in Illusionen wiegen, wenn sie diesen Herrschaftsanspruch nicht ernstnehmen. Der Blick in die Geschichte zeige, so Josef Ludin, wie die Vision einer islamischen Zivilisation in der Praxis aussehe – was der Islam «sonst noch» zu bieten habe, außer den eigentlichen Glaubensinhalten: «Welche Zivilisation hat er uns vorzuschlagen, welches Rechtssystem, welche öffentliche Ordnung, welches Bildungssystem, welche Infrastruktur, welche Opernhäuser, welche Bibliotheken und Krankenhäuser…?» Überall, wo der Islam in den letzten 600 Jahren zivilisatorisch gewirkt habe, habe er «Armut, Analphabetismus und Rückständigkeit hinterlassen». Er stelle das Kollektiv über das Individuum. Seine Ablehnung von Wissenschaft, Kunst und Aufklärung bedinge sein Verharren in Archaismen. Ludin bilanziert: Der Islam hat «zivilisatorisch vollkommen versagt».

Interessant ist der Zusammenhang, den Josef Ludin zwischen den Anfängen der biblischen Religionen einerseits, des Islam andererseits und der jeweiligen heutigen Verfasstheit sieht. Der Islam sei von Anfang an «als der Herr der Welt» aufgetreten, als eine «Ideologie der Macht». Darin unterscheide er sich grundlegend vom Judentum und Christentum. Das Judentum sei von einer «Tradition der Ohnmacht» getragen gewesen («Wir waren Sklaven in Ägypten»). Christentum und Judentum mussten sich von Anbeginn der Verfolgung und Unterdrückung erwehren.

Die Gesellschaften, die sich im Einflussbereich der biblischen Tradition entwickelten, messen der Freiheit des Individuums großen Wert bei. Bürgerrechte, unabhängige Justiz, freie Presse bildeten sich hier heraus. Heute sind wir Zeuge davon, wie die europäischen Gesellschaften das Fundament dieser Werte aufgeben. Damit sind auch dessen Früchte gefährdet. Die Folgen dieses Verfalls sind dem islamischen IntellektuellenAhmet Davutoglu nicht entgangen.

Der Islamist in Nadelstreifen und mit Nickelbrille nutzt die zunehmende Schwäche Europas. Mit kühner Entschlossenheit verfolgt er das Ziel, die Türkei als führende muslimische Macht zu etablieren. Davutoglu und sein Mann für die Massen, Ministerpräsident Erdogan, verfolgen dieses Ziel brachial und zielstrebig. Auf ihrem Weg zu einem osmanischen Großreich sehen sie sich bereits auf der Zielgeraden.

Am gefährlichsten ist dieser islamische Imperialismus für Israel. Antijüdische und antiisraelische Hetze sind für Davutoglu und Erdogan der Treibsatz, der sie zu den Herren der islamischen Welt machen soll. Mit seiner Prognose über die Zukunftsfähigkeit der westlichen Zivilisation hat der neo-osmanische Denker Davutoglu möglicherweise Recht. Seine strategischen Überlegungen zeigen, dass die westliche Werteimplosion zur Gefahr für die Freiheit in Europa werden kann.

Thomas Lachenmaier

Quelle: factum, 07-2011 (www.factum-magazin.ch [1])