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IDEA-Interview mit Peter Scholl-Latour

Er ist der wohl bekannteste Journalist im deutschsprachigen Europa: Peter Scholl-Latour (Berlin/Paris). Und der 88-Jährige kennt die Welt wie kein anderer. Als Fernsehkorrespondent und Buchautor hat er fast alle Länder bereist, viele mehrfach. In seinem neuesten Buch „Die Welt aus den Fugen“ zeichnet er ein düsteres Bild: „Die Weltpolitik gleicht derzeit einem aufziehenden Gewittersturm.“ Mit Herrn Scholl-Latour sprach Karsten Huhn.

Herr Scholl-Latour, Ihre Bücher künden von Terror, Blutfehden und Heiligen Kriegen. Man gewinnt den Eindruck: Die Erde taumelt dem Abgrund entgegen.

Aber ich schreibe auch über positive Entwicklungen, und ich verteufle die Menschen nicht, die im Allgemeinen verteufelt werden.

An wen denken Sie?

An Organisationen wie die libanesische Hisbollah, die palästinensische Hamas oder die afghanischen Mudschaheddin, die als terroristische Organisationen eingestuft werden. Natürlich gibt es da auch Übeltäter, aber eben auch ganz ordentliche Menschen. Ich spreche mit allen, und Schwarz- Weiß-Malerei lehne ich ab. Nicht alle Taliban sind Verbrecher, und nicht alle Verbündeten des Westens sind gute Menschen.

Ihre Reiseberichte handeln vom Kommen und Gehen von Schurken, Tyrannen und Massenmördern. Sie sagen: „Ich glaube nicht mehr daran, dass der Mensch gut ist. Der Mensch ist von der Veranlagung her böse.“

Ich teile die Welt nicht in Gut und Böse ein, aber ich verneine das Böse auch nicht. Wir erleben ständig neue Ausbrüche des Bösen. Die christliche Lehre von der Erbsünde kommt nicht von ungefähr: Das Böse steckt tief im Menschen. Wir leben in einem darwinistisch denkenden Zeitalter. Eine Religion oder Weltanschauung, die davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus gut sei, muss scheitern. Diese Einsicht fehlt zum Beispiel derzeit der amerikanischen Politik. Sie will die Welt nach ihrem Bilde gestalten. Die Menschheit zum Guten zu führen, haben weder die Kommunisten geschafft, noch schaffen es jetzt die Amerikaner.

Die USA ist für Sie ein „Koloss auf tönernen Füßen“ – eine Anspielung auf das Buch des Propheten Daniel.

Das Buch über die USA habe ich geschrieben, als alle Amerika noch als unbesiegbare Weltmacht sahen. Ich wollte darauf hinweisen, dass dem nicht so ist. Die USA hat im Zweiten Weltkrieg gegen Japan und Deutschland grandios gesiegt, und die Landung der Amerikaner in der Normandie war eine logistische Meisterleistung. Heute sind die USA nicht in der Lage, den Irak, Afghanistan oder Somalia in den Griff zu bekommen.

Sie beschreiben unsere Erde als „Welt aus den Fugen“. Wie lässt sich die Welt wieder zusammenleimen?

Wahrscheinlich gar nicht. Die Welt hat sich wohl schon immer in einem Zustand der Auflehnung befunden.

Es gibt derzeit 20 Kriege – so viele wie seit 1945 nicht mehr.

Es hat schon immer viele Kriege gegeben. Nur erfahren wir durch die Medien heute viel eher von Konflikten, die wir früher gar nicht zur Kenntnis genommen hätten. Was mich dabei stört, ist, dass wir die Länder mit unterschiedlichem Maß messen. Zum Beispiel werden Christen und Juden in Saudi-Arabien viel stärker diskriminiert als etwa im Iran. In Saudi-Arabien dürfen keine Kirchen und Synagogen gebaut und keine Gottesdienste gehalten werden, und der Besitz einer Bibel steht unter Strafe. Der Iran lässt das alles zu – aber er gehört zu den Ländern, die wir anprangern. Nach Saudi-Arabien liefern wir ohne Bedenken Hunderte von „Leopard 2“-Panzer, während wir gegen den Iran eine Sanktion nach der anderen verhängen – die im Übrigen viel weniger Wirkung haben, als man meint.

Sie lehnen Sanktionen und Boykottmaßnahmen ab. Warum?

Ich halte Boykottmaßnahmen für zutiefst unmoralisch. Sie treffen vor allem die einfache Bevölkerung und bewirken politisch gar nichts. Zum Beispiel hatten die Sanktionen gegen den Irak zwischen 1991 und 2003 eine erschreckend hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit zur Folge. Saddam Hussein hat darunter nicht gelitten. Ich halte es auch für eine große Schweinerei, wenn man heute iranischen Flugzeugen die Ersatzteile verweigert – und heimlich auf einen Absturz der Maschinen wartet.

Was raten Sie der deutschen Außenpolitik bei Schurkenstaaten?

Mehr nachdenken! Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum Deutschland Patriot-Raketen in die Türkei schickt, die gegen Syrien aufgestellt werden. Dazu gibt es keinen UNO-Beschluss. Ich will gar nicht das Assad-Regime in Syrien von seinen Gräueln freisprechen – aber es ist das letzte säkulare Regime in der arabischen Welt und war unendlich liberaler als etwa Saudi-Arabien. Die Christen konnten sich in Syrien frei entfalten, genauso wie es im Irak unter Saddam Hussein der Fall war. Inzwischen ist die Christenverfolgung in Syrien fast so schlimm wie im Irak – aber in Europa will davon kaum jemand etwas wissen. Zudem ist fraglich, ob nach dem Sturz Assads jemand Besseres folgt. Unter den Aufständischen sammeln sich mehr und mehr Salafisten, die mit dem Terrornetzwerk al-Qaida verbündet ist.

Sie haben das Scheitern der Russen in Afghanistan und der USA in Vietnam vorausgesagt. Zuletzt haben sie prognostiziert, dass die USA in Irak und Afghanistan keinen Erfolg haben werden.

Sie können ruhig von einer Niederlage der USA reden! Ein Krieg ist verloren, wenn man seine Ziele nicht erreicht – und die USA haben ihr ursprüngliches Ziel, Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu bringen, weit verfehlt. US-Präsident George W. Bush wollte in Bagdad einen Leuchtturm der Demokratie errichten. Stattdessen haben die USA nach ihrem Einmarsch in den Irak die zuvor stabile Verwaltungsstruktur zerstört und ein Chaos angerichtet. Und in Afghanistan waren selbst die Russen erfolgreicher als die USA.

Derzeit befinden sich 6.700 Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätzen: in Afghanistan, Kosovo, Sudan, Libanon und am Horn von Afrika. Sind die Einsätze sinnvoll?

Der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan wurde mit dem Artikel 5 des NATO-Vertrages begründet, dem sogenannten Bündnisfall, wenn ein Bündnispartner angegriffen wird. Als Gegner galt der internationale, islamistische Terrorismus. Aber das ist eine blödsinnige Kriegsbegründung! Denn Terrorismus ist kein politischer Gegner, sondern eine Art, Krieg zu führen. Mit dem Kampf gegen den Terrorismus sind wir in einen Konflikt verwickelt, der zeitlich und räumlich unbegrenzt ist. Die Bundesrepublik hat den Afghanistan- Krieg wohl nur deshalb mitgemacht, weil wir den Amerikanern noch etwas schuldeten.

Sind Sie ein Anti-Amerikaner?

Nein, ich mache nur auf die Fehler der USA aufmerksam.

Wenn man ihre Bücher liest, gewinnt man den Eindruck, dass der Krieg der Normalfall und Frieden die Ausnahme ist.

Wir haben in Deutschland – was den Westen anbetrifft – bald 70 Jahre Frieden, und wir denken, das würde ewig so weitergehen. Aber die anderen europäischen Staaten haben in der Zeit immer weiter Kriege geführt, etwa die Franzosen den Indochinakrieg (1946-1954) und die Briten den Falklandkrieg (1985).

Vielleicht sind die Deutschen nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege ja ein für alle Mal vom Kriegführen geheilt?

Die Deutschen sind von gar nichts geheilt. Wir stolpern doch schon wieder in neue militärische Abenteuer hinein. Sicher hat sich eine mentale Veränderung vollzogen, die deutsche Truppe hat nicht mehr den Kampfgeist der Wehrmacht. Aber das war nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) auch schon mal so. Damals befanden sich die Deutschen im Zustand der totalen kriegerischen Erschöpfung. Als Napoleon 1806 in Deutschland einmarschierte, sagte er, er sei noch nie so friedfertigen Menschen begegnet. Nur 50 Jahre später gab es aber schon den preußischen Militarismus. Und heute engagieren wir uns gegen den Iran, gegen Syrien und natürlich in Afghanistan. Dort trägt die deutsche Kriegsführung Züge der Lächerlichkeit. Sie ist – rein militärisch gesehen – völlig unzulänglich. 80 % der Truppe sitzen in den Camps und kommen nie raus. Jeden Abend rufen sie zu Hause Mutti an, aber haben noch keinen Krieg erlebt. Dabei habe ich völliges Verständnis für diese Jungs, die ihre Haut für eine unsinnige Sache zu Markte tragen müssen.

Sind Demokratie und Menschenrechte nicht die höchsten Güter, für die es sich zu kämpfen lohnt?

Natürlich möchte ich selbst in einem Staat leben, der die Freiheit garantiert. Aber wir können die Freiheit anderen Staaten nicht aufzwingen.

Sie haben mit vielen Moslems Gespräche geführt. Was ist dabei zu beachten?

Sie müssen sich selbst zu Ihrer Religion bekennen! Wer der islamischen Welt als Atheist gegenübertritt, hat nicht die geringste Chance, ins Gespräch zu kommen.

Sie zitieren häufig den französischen Politiker André Malraux (1901-1976): „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein.“

Die Welt befindet sich in einer religiösen Gärung. Europa bildet da eine Ausnahme, und es ist eine unserer Schwächen, dass wir den Sinn für die Religion verloren haben. Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass es – vor allem in Ostdeutschland – immer mehr bekennende Atheisten gibt. Dagegen besinnt man sich in Russland viel eher der christlichen Wurzeln. Dabei stand das Land viel länger und viel radikaler unter der kommunistischen Zwangsherrschaft. Die wieder aufgebaute Erlöser-Kirche, in der die Punk-Band „Pussy Riot“ ihren Unfug aufführte, war von Stalin gesprengt worden! Diese dummen Mädchen führten ihren Tanz an einem Ort auf, der für Tausende von orthodoxen Geistlichen steht, die durch den Kommunismus ihr Leben verloren.

„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes. Das Christentum hat teilweise schon abgedankt. Es hat keine verpflichtende Sittenlehre, keine Dogmen mehr.“

Viele evangelische und auch katholische Kleriker sind dazu übergegangen, die Jenseitsbestimmung ihres Glaubens und die Dogmen ihrer Kirchen dem Zeitgeist zu opfern. Sie neigen dazu, das Christentum auf eine humanitäre Philosophie oder auf eine Soziallehre zu reduzieren.

Sie selbst beten täglich auf Latein.

So habe ich es gelernt. Ich war Messdiener und habe als Schüler ein Jesuiten-Internat in der Schweiz besucht. Als ich von meinem Präfekten verabschiedet wurde, sagte er zu mir: „Bleiben Sie Ihren religiösen Praktiken treu.“ Ich bete „Introibo ad altare Dei / Ad Deum, qui laetificat juventutem meam“ – „Ich trete ein zum Altar Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut.“ Psalm 43, ein sehr schöner Psalm.

Wie geht es weiter mit dem christlichen Abendland?

Machen wir uns keine Illusionen: Europa wendet sich vom Christentum ab, wird agnostisch, aggressiv aufklärerisch, atheistisch. Die Frömmigkeit wird weiter nachlassen und die Verhöhnung der Religion weiter zunehmen.

Haben Sie einen Rat für die Kirchen?

Sie sollten bei ihren ursprünglichen Lehren bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Quelle: ideaSpektrum, Nr. 51/52, 19.12.2012 (www.idea.de [1])

Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart Propyläen Verlag • 400 Seiten • 24,99 Euro 37.90 SFr • ISBN-10: 354907431X