- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Mein Bibel-Credo

Das inspirierte und ewige Wort Gottes, das uns mit der Bibel anvertraut  wurde,  ist nicht zuallererst ein großes Problem, sondern ein überaus großes Geschenk. „Welch ein Buch! Groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels… Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, alles ist in diesem Buche… Es ist das Buch der Bücher, Biblia“ (Heinrich Heine). Die Bibel enthält nicht nur Worte Gottes und ist nicht nur Zeugnis vom Wort Gottes, sondern ist Gottes Wort. Die Bibel ist zuallererst ein Weg Gottes zu uns, ein vielgestaltiger Weg vom Himmel zur Erde. Die Bibel ist zugleich ein Weg Gottes durch die menschliche Geschichte, Zeugnis vom Geschichtshandeln Gottes, hineingesprochen in die menschliche Geschichte, durch Menschen vermittelt und in menschlicher Sprache verfaßt und als Sammlung sehr verschiedenartiger und weithin sehr kunstvoller Texte verlässlich überliefert.

Beim Alten Testament handelt es sich „nicht um die bloßen Trümmer der israelitisch-jüdischen Nationalliteratur, sondern um eine bewußte Auswahl aus ihren Schätzen“ (Otto Kaiser). Das Alte (Erste) Testament ist auch für die Kirche eine unverzichtbare und unschätzbar wertvolle Schatzkammer. Vom Alten Testament führt der Weg zu Jesus Christus, vom Alten Testament und von Christus zur Kirche. Vom Alten Testament, von Christus und von der Kirche führt der Weg zum Neuen Testament. Von der ganzen inspirierten Schrift führt der Weg durch die nachbiblische und von der Bibel geprägte Geschichte bis hin zu ihrem inspirierten Leser von heute.

Die Bibel und der Heilige Geist sind auf das Engste miteinander verbunden und erschließen sich wechselseitig für uns. Im Leben Jesu und in seinem Sterben und seiner Auferstehung zu unserem Heil erreicht die „Bibellandschaft“ ihren höchsten Gipfel. Als überführendes Gesetz und als befreiendes Evangelium führt uns die Bibel zu Christus. So ist Jesus Christus als Brücke zu Gott zugleich die Mitte der Heiligen Schrift.

Und mit der Verkündigung Jesu vom „Reich Gottes“ wird uns der „roten Faden“ und die „Hauptstraße“ gezeigt, die sich durch die ganze Bibel mit ihrer vielgestaltigen „Landschaft“ hindurch zieht: Gottes Königherrschaft und Königreich, sein Gang durch die Geschichte, die damit zur Heilsgeschichte wird, und die Sehnsucht Gottes nach unserer freiwilligen Liebensbeziehung zu ihm.

Jeder Mensch sollte die unveränderliche und doch stets aktuelle Botschaft der Bibel hören, verstehen und ihrem Ruf folgen können, insbesondere die Kernbotschaft vom Heilstod und der Auferstehung Jesu und von dem mit und durch Jesus genahten und hier und heute erfahrbaren und in seiner Vollendung fröhlich und aktiv zu erhoffenden Reich Gottes. Jeder hat so die Möglichkeit, durch Jesus Christus in eine bleibende persönliche Beziehung zu Gott einzutreten, Reich Gottes und damit ein erfülltes Leben zu erfahren und für Zeit und Ewigkeit gerettet zu werden.

Zugleich dürfen wir neben dem höchsten Gipfel und der Mitte der Bibel durch die ganze Bibel hindurch viele gewaltige Berggipfel erblicken: von der Schöpfung bis zur Vollendung von Himmel und Erde. Im Anblick dieser Berge können wir  Orientierung und Kraft für die Täler des Leides und für die Mühen der Ebene finden. Neben ihrer Aufgabe als Wort an den Einzelnen ist die Bibel Gottes Wort an das Volk Israel und an die Kirche als Ganze und durch beide Heilskörperschaften hindurch an die gesamte Welt.

Israel ist und bleibt der Erstadressat des größten Teiles der Bibel und bleibt auch mit der Entstehung der christlichen Kirche Gottes auserwähltes Volk, dessen Gottesoffenbarung als Licht zu den Heiden kommen soll.

Die Kirche wird durch Gottes Wort geschaffen. Sie ist creatura verbi, wird „vom Worte Gottes geboren, ernährt, erhalten und gestärkt“, so dass sie „ohne das Wort gar nicht sein kann, oder daß, wenn sie ohne Wort ist, sie aufhört, Kirche zu sein“. (Luther) Das gott-menschliche Wort der Bibel  befähigt die Kirche zur koinonia (Gemeinschaft,) erhält und fördert die Gemeinschaft der Glieder des Christusleibes, die zugleich ein Vorgeschmack und gelebtes Zeichen des kommenden Gottesreiches sein darf.

Das gott-menschliche Wort der Bibel  bringt zudem beständig die kraftvollen Dreiklänge von Glaube, Hoffnung und Liebe und von leiturgia (Gottesdienst, Lobpreis, Gebet), martyria (Zeugnis, Verkündigung) und diakonia (Liebesdienst am Einzelnen und an der Gesellschaft) zum Schwingen.

Neben der persönlichen Glaubens- und Lebenspraxis der Gläubigen (praxis pietatis) will und kann die Bibel also das Leben und die Ordnung der Kirche/Gemeinde als Ganze inspirieren und lenken (praxis ecclesiae) und sogar die Ethik der gesamten Gesellschaft prägen (praxis christiana). Bei alledem ist das Wort der Bibel nicht nur Träger von Information, sondern zugleich Energiequelle, göttliches Dynamit des Heils.

„Ihr Christen habt in eurer Obhut ein Dokument mit genug Dynamit in sich, die gesamte Zivilisation in Stücke zu blasen, die Welt auf den Kopf zu stellen; dieser kriegszerrissenen Welt Frieden zu bringen. Aber ihr geht damit so um, als ob es bloß ein Stück guter Literatur ist, sonst weiter nichts.“ (Mahatma Ghandi)

„Performativ“ vermittelt das Wort der Bibel das, wovon es spricht. Die „Energie des Evangeliums“ erwirkt  Glaube, Hoffnung und Liebe, leiturgia, martyria, diakonia und koinonia und in alledem und bei allem Hören, Suchen und Forschen in der Bibel ein immer größeres Staunen über das Wunder der Heiligen Schrift.

Unser hermeneutischer Weg

Mit der großen Gabe der Bibel stellt Gott uns zugleich eine große und schöne Aufgabe: sie angemessen zu verstehen und bewusst gewinnbringend anzuwenden. Die Texte der Bibel sind Begegnungsräume von sieben Welten:

1. der historischen Welt des Autors/der Autoren,

2. der historischen Welt der ersten Leser,

3. der literarischen Textwelt mit ihrem Sinnüberschuss und ihrer Polyvalenz,

4. der Welt des biblischen Kanons, die die Einzeltexte und Bücher der Bibel in einer verständnisleitenden Gesamtstruktur und in einem dichten Netz an Intertextualität erscheinen lässt,

5. die Welt der langen Rezeptions-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte,

6. die (engere und weiterer) Welt des heutigen Lesers

und 7. nicht zuletzt die so fremde und ganz andere und doch so nahe und teils analoge Gotteswelt, die neben und in allen anderen Welten des Textes am Werk war und ist.

Diese Welten des Bibeltextes zu erforschen, angemessen und gewinnbringend aufeinander zu beziehen und verständlich zur Sprache zu bringen, ist die Aufgabe der konkreten Schriftauslegung. Hierfür das theoretische, praktische und „poietische“ (handwerkliche) Rüstzeug bzw. die „Grammatik für die Sprache der Schriftauslegung“ zur Verfügung zu stellen, ist Aufgabe der biblischen Hermeneutik. Die Bibel als das inspirierte Wort Gottes ist dabei grundlegend in Analogie zum inkarnierten Sohn Gottes zu sehen: Göttliches und Menschliches verbinden sich  darin in geheimnisvoller Weise, können zwar schwerpunktmäßig getrennt betrachtet werden, sind aber letztlich „unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und unzerteilt“ im Wort wie im Sohn gegenwärtig.

Daraus ergibt sich, dass Hermeneutik als biblische Hermeneutik eine geistlich-wissenschaftliche Hermeneutik sein muß und immer mehr eine Hermeneutik der Weisheit und des Glaubens werden sollte. Biblische Hermeneutik sollte bewusst in drei miteinander verbundenen Aufgabenfeldern agieren: als ars intelligendi (Verstehenskunst), als ars explicandi (Erklärungs- und Darstellungskunst) und als subtilitas applicandi (Scharfsinn der Anwendung).

Die Hilfen der Hermeneutik müssen in drei Richtungen gehen: a) die positive Nähe und die gewinnbringende Direktbegegnung mit dem Bibeltext zu fördern, b) die nebelverhangenen Bilder der Ferne heranzuholen und deutlicher sichtbar zu machen und c) die blinden Flecken der Nähe durch ein bewusstes Wegrücken zu überwinden.

Konkret heißt das: Die Hermeneutik sollte…

a) Ermutigung und methodische Hilfen zur Direktbegegnung mit dem Bibeltext vermitteln

b) die Fremdheitserfahrung einer vierfachen ‚hermeneutischen Differenz‘ – der linguistischen, historischen, poetologisch/rhetorischen und theologischen Differenz (ich höre von Gott und seiner so anderen Welt)- überwinden helfen,

c) positive Differenzerfahrung erst einmal ermöglichen helfen, d.h. das zu sehr Gewohnte und Überhörte oder das bisher falsch oder nur flach Verstandene aus der „Ferne“ besser sehen lassen.

Zum „In-die-Ferne-Rücken“ gehört auch die Relativierung des eigenen Standpunktes, der wie alle Lebens- und Meinungsäußerungen vor uns historisch bedingt ist. Einen Abstand zu mir selbst zu gewinnen und mich nicht länger als „archimedischen Punkt“ und letzte Wahrheitsinstanz zu empfinden, ist heilsam für das Hören auf die Bibel und auf ihre Auslegung vor und neben uns.

Bei aller Relativität unserer Welt und unseres eigenen Lebens ist es nun aber gerade äußerst hilfreich, mit der Bibel und ihrer Botschaft etwas unumstößlich Festes und zugleich so Dynamisches zu haben und dies in einem unabschließbaren Prozess immer besser und tiefer verstehen zu dürfen. Welch ein überaus großes Geschenk!

Gunther Geipel, Pfingsten 2012