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Warum immer noch keine Bekenntnissynode?

Einige grundsätzliche Überlegungen

1911, als der liberale Pfarrer Carl Jatho wegen Irrlehre seines Amts enthoben wurde und das ganze liberale Deutschland empört aufschrie, schrieb Adolf von Harnack, der große Kirchenhistoriker und Wissenschaftsorganisator, einem Kollegen: Die Amtsenthebung müsse man hinnehmen, „weil die Kirche immer noch Bekenntniskirche sei und die Mehrzahl ihrer Glieder den Gedanken nicht ertrüge, die Landeskirche ließe ‚ein Christentum ohne den lebendigen Gott und ohne den Herrn Christus‘ zu.“ Er fuhr fort: „Es wird ja gewiß einmal die Zeit kommen, wo auch die Positiven (heute würde man sagen die Glaubenskonservativen DM) …einsehen werden, daß sie nicht Verrat an der heiligsten Sache üben, wenn sie in einer äußern Kirchengemeinschaft bleiben, die alles, was Religion unter uns heißt, umschließen will….“ Harnacks Voraussage ist heute protestantische Wirklichkeit. Man kann lutherischer Bischof werden, auch wenn man Jesu Sühnetod bestreitet und das Kreuz bagatellisiert. Zwar sind die Landeskirchen nach ihren Verfassungen immer noch Bekenntniskirchen, aber diese Bekenntnisbindung ist ebenso wie die Bibelbindung längst – mit „aufgeklärter“ historisch-kritischer Kunstfertigkeit relativiert – einem opportunistischen Pragmatismus gewichen. Und dieser ist nicht mehr fähig, die Scheidung von Lehre und Irrlehre zu vollziehen, am Ende weil die theologischen Pragmatiker keine am Jüngsten Gericht geeichten Maßstäbe mehr akzeptieren, die ihnen allen Ernstes Grenzen ziehen. In dieser Situation ist es zweifellos ein Verhängnis, daß „bekennende Gruppen“ in den Landeskirchen sich im Gefühl ihrer Machtlosigkeit mehr oder weniger leidend mit dieser Situation arrangiert haben.

Die sächsische Provokation

Das kleine sächsische Evangelisationsteam hat es nun gewagt, die machtbewußten Leitungsgremien der sächsischen Landeskirche herauszufordern: Eine Bekenntnissynode sei dringend geboten, weil die leitenden Organe ihrer Kirche die konkret gottwidrige Sünde statt des umkehrenden Sünders rechtfertigten. Damit gefährde Kirche das Heil der Sünder, denn sie schneide ihnen durch die kirchenamtliche Legalisierung der Sünde den Weg der Umkehr zur Vergebung ab. So schafft tatsächlich ein ethisches Problem die Situation des status confessionis, des Bekenntnisfalls, in dem sich die Wahrheit von der Lüge, das Leben vom Tod trennt. Das wird offenbar selbst in bekennenden Gruppierungen nicht überall klar und scharf gesehen.

Niemand, der bereit ist, Gott zu hören, kann leichthin bei Paulus (z.B. 1. Kor 6,9-10) die Gerichtskonsequenz konkreter Sünde überspringen. Nur ideologisch besessener Verstand kann übersehen, daß Gottes heiliger Schöpferwille durch die kirchliche Legitimierung homosexueller Praxis dekonstruiert, Gottes vernünftig geschaffene Natur denaturiert wird. Angesichts der Eindeutigkeit der Bibel ist es ausgeschlossen, homosexuelle Praxis unter dem Gesichtspunkt der Heiligung zu leben. Unter soteriologischem Aspekt, das heißt unter der Frage, wer wird in Ewigkeit gerettet, muß also die Einstellung zur homosexuellen Praxis um Gottes und des Menschen willen zum status confessionis werden, der geistlich Kirche von Kirche trennt. Gilt dies in eschatologisch-biblischer Qualität, dann ist es alles andere als theologische Hysterie, in der gegenwärtigen Situation des landeskirchlichen Protestantismus Bekenntnissynoden zu fordern und an den Kirchenkampf zu erinnern.

Dietzfelbinger statt Harnack

Die prophetische Diagnose des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Dietzfelbinger, die er 1971 in seinem Rechenschaftsbericht der EKD-Synode vortrug, beschreibt nämlich inzwischen die Situation umfassend und präzis:

„Wenn nicht alles täuscht, so stehen wir heute in einem Glaubenskampf, einem Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war. Das Unheimliche daran ist, daß dieser heutige Kampf vielfach kaum erkannt, zu allermeist verharmlost wird und unter Tarnworten wie ‚Pluralismus’ voranschreitet.“

Dietzfelbinger sah im kirchlichen Pluralismus das Wort Gottes um seine scheidende und rettende Macht gebracht. In der Nazizeit war es sichtbarer als heute der Außendruck einer dämonisierten Ideologie, die darauf zielte, die Kirche der Herrschaft Christi zu entwinden und gesellschaftspolitisch zu mißbrauchen. Heute wirkt diabolischer Geist sehr viel intelligenter, sanfter, aber auch dreister mitten in der Kirche, und das demokratisch legitimiert durch Gremien-Mehrheiten, denen Vertreter eines gescheit formulierenden und wissenschaftlich-theologisch argumentierenden Pluralismus weite Spielfelder für fast beliebige anthropologische, spirituelle und ethische Konstrukte eröffnen. Auf dieser Ebene von Kirchenleitung werden wie einst in den deutsch-christlich beherrschten Kirchen Wahrheitsfragen in Machtfragen pervertiert, Lehrzucht durch Disziplinarzucht ersetzt. Einheit mit der Kirchenleitung und geistliche Loyalität werden selbst dann beansprucht, wenn irrende Kirchenleitung methodisch geschult das Wort Gottes fälscht. Sachsen demonstriert es. Die geistliche Einheit in Christus ist jedoch längst zerbrochen, wo das, „was Christum treibet“ als ausgehöhlte Chiffre für beliebige religiöse und ethische Inhalte dient.

Das demokratisch entfremdete „Lehramt“

Der plural entwickelte Protestantismus hat kein geistliches Lehramt gestalten können, das Gottes heiliges Wort gegen die säkularisierende Macht aufgeklärter Wissenschaft und den Subjektivismus der „allgemeinen Priester“ zu schützen vermocht hätte. Theologische Fakultäten können dieses geistliche Lehramt nur begrenzt wahrnehmen, weil sie selbst Teil des wissenschaftlichen Pluralismus sind. Theologische Arbeit vollzieht sich zwar in der Regel auf hohem intellektuellem Niveau und mit präzis ausdifferenzierten Begriffsinstrumentarien. In wissenschaftlich säkularem Umfeld ist sie heute jedoch oft nicht viel mehr als ein artifizielles formales Spiel im Elfenbeinturm, das die Weltdistanz in Christus genau so wenig durchhält wie die gegenwärtig real existierenden Landeskirchen. Evangelium und Gesetz wurden in diesem Spiel nicht selten zu gescheit gedachten Konstrukten und Gottes geistmächtiges Wort zum Wort des aufgeklärt religiösen Menschen mit vernunftbegrenzter Geltung.

An die Stelle eines geistlichen Lehramts sind im Namen des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden in der Neuzeit Synoden getreten, die Lebens- und Glaubensfragen inzwischen demokratisch durch Mehrheiten entscheiden und ihre Ergebnisse dann als „magnus consensus“, als große Übereinstimmung im Glauben empfinden. Auch das ist leicht erkennbar Falschmünzerei, denn das Instrument des magnus consensus fordert zwingend, die 2000jährige Glaubens- und Lehrerfahrung der Väter und Mütter des gemeinsamen Glaubens verbindlich ins Gespräch einzubeziehen. Zu dieser Geschichte gehören nicht zuletzt auch die Schwestern und Brüder in den alten klassischen Kirchen. Der magnus consensus hat nämlich auch eine ökumenische Dimension. Eine dem Leib Christi, also dem gesamten Gottesvolk aller Zeiten verpflichtete Bekenntnissynode stünde – selbst als Minderheit im Protestantismus – geistlich für den magnus consensus. Das „allgemeine Priestertum“ aller Kirchensteuerzahler, synodal-demokratisch ausgeübt, ist in sich säkularisierender Kirche nicht imstande, Brandmauern gegen die Schwelbrände des Zeitgeistes zu errichten und Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes bei Christus zu halten. Die EKD zeigt es auf allen synodalen Ebenen schlagend, und ausgerechnet das vermeintlich nur ethische Problem homosexueller Lebenspraxis ist zum Schiboleth geworden.

In dieser diffusen Situation bedürfte das Wort Gottes zweifellos dringend der geistvollen Stimme einer Bekenntnissynode.

Warum findet sich keine Bekenntnissynode zusammen, die innerhalb der landeskirchlichen Organisation mit einer Stimme bekennt, was zum Kerngehalt des Evangeliums gehört, ethisch dem Willen Gottes entspricht, und die öffentlichkeitswirksam feststellt, was dem Evangelium und dem lebensdienlichen Willen Gottes widerspricht, also zu verwerfen ist? Es bedürfte dringend dieser einen Stimme, die das zunehmende Versagen der in vieler Hinsicht zu Sympathisanten des postmodernen säkularisierten Pluralismus gewordenen landeskirchlichen Leitungsgremien grundlegend korrigiert und recht lehrende Kirchenleitung von irrlehrender unterscheiden läßt. Was hindert es?

Die Lehrmüdigkeit der bekennenden Opposition

Soweit ich sehe, gibt es in den Landeskirchen kaum eine bekennende Gruppierung, die nicht direkt oder indirekt unter pietistischen Einflüssen stünde. Im Pietismus hatte die Echtheit des subjektiven Glaubens von Anfang an den Vorrang vor der objektiven Wahrheit, die Authentizität des geistlichen Lebens vor der Klarheit der Lehre. Dies ist bis heute Stärke und Schwäche zugleich. Definierte Lehre war im Urchristentum die unverzichtbare Konsequenz geklärten Glaubens. Der von Harnack am Anfang des 20. Jh. vorausgesehenen Ablösung der Landeskirchen von verbindlichen Lehrüberlieferungen entspricht innerhalb der bekennenden Gruppierungen die Versuchung zu Kompromiß bereiten pragmatischen Arrangements im Gefüge der bergenden Institution auf Kosten der klaren biblischen Lehre. Zur Anpassung verführt heute zusätzlich der allgegenwärtige Druck postmodern fühlender Gesellschaften. Hier wird jede Grenzen ziehende Lehre als Diskriminierung gebrandmarkt und als „Fundamentalismus“ geradezu kriminalisiert. Aber dürfen landeskirchliche Gruppierungen, die der Lehre Jesu und seiner Apostel folgen wollen, darauf verzichten, das geistlich trennende Urteil über dogmatische oder ethische Irrlehre verbindlich zu fällen, weil der postmodern fühlende Mensch innerhalb und außerhalb der Kirche im Unterschied zu Jesus und seinen Aposteln nicht mehr verstehen will, daß es keinen Glauben ohne definierte, also auch verwerfende Lehre gibt? Dürfen sie es innerkirchlich im Namen einer Liebe, die der Wahrheit ausweicht?

Die soteriologische Entwarnung

Dem in die westlichen Wohlstandsgesellschaften integrierten Mainstream-Protestantismus fehlt es längst wieder an der eschatologischen Radikalität, die Karl Barth mit anderen nach der geistig-kulturellen Katastrophe des ersten Weltkriegs zurückgewinnen wollte. Es gelang nicht. Barth hat neben vielen anderen mit seiner Nähe zur Allversöhnungslehre sogar am Ende dem Evangelium wie dem Gesetz die eschatologische Schärfe genommen und in seinem grandiosen Jahrhundertwerk im etablierten Protestantismus für eine beruhigte eschatologisch-soteriologische Gemütlichkeit gesorgt. Was aber, wenn wirklich, wie es die Bibel einschärft, jeder Mensch am Ende vor dem Richterstuhl Christi erscheinen muß? Wenn an Gottes konkreten Geboten Maß genommen wird? Wenn sich ein doppelter Ausgang öffnet und Menschen in Ewigkeit verloren gehen, auch weil die Kirche sie verführt und die Maßstäbe gefälscht hat? Und selbst die bekennenden Christen hätten durch die historisch-kritisch operierende Theologie verunsichert und durch den Zeitgeist verängstigt ihrem Einspruch die Verbindlichkeit und Eindeutigkeit entzogen? Schweigen wir nicht allzu oft verunsichert, wenn in unseren Landeskirchen Gottes richtendes Wort desavouiert wird? Was wenn die Hölle keine Fiktion und keineswegs leer wäre?

Die Entschärfung des Gesetzes durch das Evangelium

Luthers manchmal fast dualistische Differenzierung von Gesetz und Evangelium ist in der evangelischen Glaubensgeschichte allzu oft zur billigen Gnade auf Kosten der Gebote degeneriert. Immer wieder begegnet gegenwärtig in diesem Zusammenhang der Verweis auf die von Luther geistvoll beanspruchte Definitionsmacht: Ist Christus unser, so machen wir neue, präzisere Dekaloge als Mose. Wer indessen mit Luther voll Finderfreude so argumentiert, hat fasziniert durch diese Schwindel erregende Freiheit entweder nicht weitergelesen oder schlimmer: er fälscht Luther. Luther stellte nämlich 1535 in den Glaubensthesen genau im Zusammenhang dieser Bemerkung sehr nüchtern fest, daß wir nicht so vollmächtig im Heiligen Geist leben wie die Apostel und Propheten und deshalb an die biblischen Gebote gewiesen bleiben. Er nennt hier die Fabrikanten neuer Gebotstafeln Schwarmgeister. Ihm war jederzeit bewußt, daß der Mensch auch im Kraftfeld der erlösenden und erneuernden Liebe Christi tödlich gefährdet bleibt durch die Macht der Sünde. Deshalb ist der Verzicht auf Gottes Gebote und Lebensformen im Namen einer formalisierten Liebe ein enthusiastisch anmaßender, zutiefst Luther und der Bibel widersprechender Versuch, den Himmel auf die Erde zu zwingen. Wer so verfährt, bringt den Menschen um Gottes Schutzräume. Aber lauert hier nicht auch für Christen, die Schrift und Bekenntnis ernst nehmen wollen, die theologische Schlange, welche lockt, die in der Heiligen Schrift konkret definierte und mit Gerichtsfolgen bewehrte Einzelsünde am Ende doch verschwiemelt landeskirchlicher Beliebigkeit zu überlassen im Glauben, daß die Übermacht der Gnade am Ende dem Gesetz die Schärfe nähme?

Fehlen uns Mut, Klarheit und Gewißheit des Geistes? Eine Bekenntnissynode, die zusammenträte, bedeutete nicht den Austritt aus der Landeskirche. Hier geht es auch nicht um Zweifel an der persönlichen Integrität von landeskirchlichen Amtsinhabern, hier steht die Autorität von Gottes Wort auf dem Spiel. Eine Bekenntnissynode wäre sowohl geistliche Notmaßnahme wie Provokation aus der Wahrheitsmacht der Heiligen Schrift heraus. Es gibt keine Liebe, die nicht auch verwirft. Eine so verstandene Bekenntnissynode hätte ihre Wurzel auch nicht in der Spaltkraft die dem Protestantismus von Anfang an innewohnt, sondern müßte dem ökumenischen Geist Jesu Christi in der Weltchristenheit verpflichtet sein, der den magnus consensus, die große Übereinstimmung sucht. Auch die Widerstand leistenden Sachsen inszenieren nicht einen kirchenpolitischen Machtkampf, sondern stellen im Rahmen dessen, was im Leib Christi immer und überall gegolten hat, die Wahrheitsfrage. Erzwingt die Wahrheit, die Christus in Person ist, nicht unausweichlich das Bekennen und damit die eine klare Stimme, die im landeskirchlichen Protestantismus gegenwärtig nur eine Bekenntnissynode sein kann?

Dr. Dieter Müller

Quelle: Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis, 33. Jahrgang, Nr. 2/2012, Oktober 2012, S. 8-11