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Geistliche Altersvorsorge (Eine Betrachtung zum Predigerbuch Kap. 11,1 bis 12,8)

Geistliche Altersvorsorge (Eine Betrachtung zum Predigerbuch Kap. 11,1 bis 12,8)

Am Ende kehrt das Predigerbuch wieder zum Anfang zurück. Wieder schärft uns Salomo unsere Vergänglichkeit ein, diesmal noch energischer als in den ersten drei Kapiteln. Im Schlußteil bekommen wir die menschlichen Lebensalter vor Augen gestellt, aber nicht in einem erbaulichen Sinn, sondern appellativ: denke immer an das Altwerden und Sterben! Die Jugend wird in besonderer Weise angesprochen. Auch von der Manneszeit ist die Rede. Aber dann eben auch in besonderer Weise vom Alter, wobei das Alter zweifellos dominiert. Wie das ganze Buch ist natürlich auch der Schluß ein scharfer Treibstachel. Die Lebensalter spiegeln je auf ihre Weise unsere Vergänglichkeit wider, und sie sind insofern göttliche Treibstachel, die uns der Unvergänglichkeit zutreiben sollen.

Der Mensch ist im allgemeinen so geschickt und anpassungsfähig, daß er sich mit allen möglichen Lebensumständen arrangieren kann. Jemand hat einmal den Menschen mit einer Katze verglichen, die vom Dach fällt und immer mit den Beinen aufkommt. So entwickelt auch der Mensch eine besondere Fähigkeit, sich mit den besonderen Gegebenheiten seines Lebens zu arrangieren, aber das vernebelt dann auch oft seine Sinne. Daß ihm die Zeit durch die Hände rinnt, daß er auf das offene Grab zulebt, das bedenkt er nicht. Die Jugend versucht ihren eigenen unabhängigen Lebensstil zu finden, der Erwachsene richtet sich mit seinen Möglichkeiten ein, und auch im Alter versucht der Mensch sich sein diesseitiges Leben so erträglich wie möglich zu gestalten.

Salomo eröffnet uns hier einen Blick auf die Lebensalter, den wir nicht gewohnt sind. Er gibt keine Tipps, wie man sich mit den Gegebenheiten noch besser arrangieren kann. Wir werden hier sehr hart angefaßt. Hier werden Illusionen zerbrochen, die wir uns schnell und oft über unser Leben und über die Lebensabschnitte bauen. Die Gefahren der Jugend werden schonungslos aufgezeigt, ebenso die Beschwerden des Alters. Und immer herrscht der Aspekt der Vergänglichkeit vor. Es werden weniger die Chancen und die Schönheiten der einzelnen Lebensalter geschildert, als vielmehr die Gefahren und die Beschwerden. Das hat natürlich seinen Sinn. Es ist ja nicht so, daß Salomo nicht auch die Schönheiten kennt. Aber er will uns hier einen anderen, einen wirklich heilsamen Blick vermitteln.

Die Einteilung bzw. Untergliederung von Kapitel 11 und 12 ist nicht einfach. Die Gedanken gehen ineinander über. Die Bildersprache ist nicht leicht zu verstehen. Der Tenor ist jedoch deutlich. Es geht um die Lebensgestaltung aus der Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens, um eine geistliche Altersvorsorge.

Im Mittelalter gab es die sogenannte Ars Moriendi, die Kunst des Sterbens. Die Klöster boten Kurse an, so würden wir das heute sagen, wo die Menschen an die Ewigkeit herangeführt wurden, z.B. durch Exerzitien und Wortbetrachtungen. Durch solche Sterbeseminare sollten die Menschen in die Lage versetzt werden, den Tod zu akzeptieren und sich auf die Ewigkeit vorzubereiten. Wenn man z. B. an die große Pestwelle denkt, die 1348 – 1351 durch ganz Europa zog und etwa die Hälfte der gesamten Bevölkerung dahinraffte, und sich dann fragt, wie die Menschen heute auf eine solche Katastrophe reagieren würden, dann muß man wohl befürchten, daß der moderne Mensch einen solchen Schock nicht verkraften würde. Bei 450 Mio. Menschen wären das 225 Mio. Menschen, wenn man das umrechnet in unsere Zeit und auf Europa bezieht. Der mittelalterliche Mensch war jedenfalls fähiger mit dem Sterben umzugehen als wir heute. Dazu trug die Ars Moriendi bei. Hier bei Salomo erhalten wir eine „Kunst des Sterbens“, die für alle Menschen aller Zeiten geschrieben wurde.

Obwohl wie gesagt die Einteilung des Schlußteils in Sinnabschnitte nicht leicht ist, schlage ich vier Abschnitte vor.

Lindere die Nöte anderer

Kapitel 11,1-5: Dieses Kapitel beginnt mit einer bildhaften Rede, über die sich die Ausleger bis heute nicht klar geworden sind. „Laß dein Brot über das Wasser fahren, denn du wirst es finden nach langer Zeit.“ Aus sich heraus ist der Vers kaum zu verstehen, höchstens aus dem Zusammenhang. Dieser lenkt den Blick auf den nächsten bzw. auf die nächsten Verse. In Vers 2 heißt es: „Verteile es unter sieben oder acht, denn du weißt nicht, was für Unglück auf Erden kommen wird.“ „Brot“ steht hier vermutlich für all das, was der Mensch zum Leben braucht. Dieses Brot sollen wir weitergeben, im konkreten und im übertragenen Sinn. Hilf anderen Menschen zum Leben. Verteile Dein Brot. Nach langer Zeit wirst du es finden. Daß wir das, was wir weitergeben, als Segen Gottes wiederfinden, ist eine geistliche Grunderfahrung, die jeder Christ bestätigen kann. Manche sagen, und das ist gut formuliert: Gott läßt sich nichts schenken. Was wir weitergeben im geistlichen Kreislaufsystem Gottes, das kommt als Segen Gottes früher oder später auf uns, oft in potenzierter Form, zurück. So sieht es auch das Neue Testament. Paulus sagt im Galaterbrief 6,9: „Laßt uns im Gutes tun nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten.“ Paulus läßt es offen, wann und wie der Segen zurückkommt, aber er bestätigt, daß er kommt.

Auch Vers 3 gebraucht ein schwieriges Bild: Die Wolken und der vom Unwetter gefällte Baum, der dann liegen bleibt und nicht bewegt werden kann – das ist vermutlich eine Bildrede, die uns daran erinnern soll, daß wir genau so, wie die Regenwolken voll sind von Wasser und dieses Wasser weitergeben, auch von unserem Hab und Gut weitergeben sollen.

Das geistliche Grundgesetz des Nehmens und Gebens muß man sich einmal ganz grundsätzlich klarmachen. Gott gibt uns, damit wir geben. Viele Christen haben das noch nicht verstanden, und im Grunde muß man sich täglich trainieren im Nehmen und Geben. Wir nehmen von Gott die geistlichen und irdischen Güter und Gaben, die er heute für uns bereit hält, und wir geben das, was der Nächste braucht, aus unserem geistlichen und irdischen Besitz ihm weiter. Etwas zugespitzt formuliert könnte man sagen: Wir haben nur etwas, um es weiter zu geben. Wir haben nichts für uns. Gott ist ein kommunikativer Gott, der uns viel gibt, aber eben damit wir es weitergeben, und der anderen viel gibt, damit sie es an uns weitergeben. So entsteht ein Kreislaufsystem. So funktioniert die Natur. So funktioniert alles Lebendige. Die Zellen des menschlichen Körpers geben das ab, was andere Zellen brauchen. Das Blut und das Lymphsystem und andere Kanäle transportieren das, was die Zellen brauchen. Ein Organ ist für andere da. Nichts in dieser Welt ist für sich selbst da. Alles hat dienende Funktion.

So ist der Mensch als die Krone der Schöpfung Gottes in besonderer Weise dazu erschaffen, um weiterzugeben. Das kann man auch in der Bergpredigt als das geistliche Lebensprinzip der Nachfolger Jesu studieren. Alles, was wir behalten, verkümmert. Das haben schon die alten Israeliten festgestellt. Wenn sie Manna aufheben wollten, war es am nächsten Tag schlecht. Was wir aus egoistischen Gründen behalten und für uns einsetzen, verkümmert und verschimmelt. Aber was wir weitergeben, bringt gute Frucht. Dieses geistliche Grundprinzip gibt uns Salomo hier mit auf den Weg.

Ferner sagt er, warte nicht zu lange mit dem Weitergeben. Wer auf den Wind achtet, der kommt nicht zum Säen. Das ging mir öfters so im Garten beim Düngerstreuen. Wenn man immer wartet, wo der Wind herkommt, dann hindert man sich selber, endlich anzufangen. Warte nicht zu lange damit. Prüfe nicht zu viele Umstände, ob du das geben kannst oder nicht, und ob du dann vielleicht zu kurz kommst. Das sind unnötige Gedanken. Geben, was der andere braucht, das ist die Devise, Brot, Lebensbrot und natürliches Brot, je nachdem was er benötigt.

Vers 5 ist eine Art Quintessenz. Wie Gott seinen Einsatz für andere nutzt, weißt du nicht. Wie und wann er dich dafür segnet, weißt du auch nicht. Aber so ist das im Glauben. Was Gott tut, wie er es tut, wann er es tut, das wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß er ein handelnder und segnender Gott ist, ein Gott, der sich nichts schenken läßt

Das ist der erste Teil der geistlichen Altersvorsorge. Salomo kehrt hier unser menschliches Denken total um. Wir denken, wenn wir haben, ist unser Leben gewährleistet. Die Bibel sagt, wenn du gibst, ist dein Leben gewährleistet. Das ist eine völlig andere Lebensperspektive.

Nutze die Zeit, solange du Kräfte hast

Kapitel 11,6-8: Der Prediger sagt, säe deinen Samen am Morgen. Da es im Schlußteil insgesamt um die Lebensalter geht, kann man sich unter dem Morgen die Jugend und die frische Lebenszeit vorstellen. Es liegt ein Segen darauf, wenn einer in der Jugend schon zum Glauben an Christus findet. Was kann Gott nicht aus einem langen gesegneten Leben machen. Er kann natürlich auch einen geistlichen „Spätzünder“ noch benutzen, das ist klar. Aber wenn ich an meine Lebenszeit bis zum 26. Lebensjahr denke, dann möchte ich doch sagen, daß viel zu viel Unnötiges und Ungutes, viel zu viele Irrwege und Umwege diese Phase kennzeichneten, wo ich mir im Wege stand und anderen zur Beschwernis wurde.

„Laß deine Hand bis zum Abend nicht ruhen“. Das heißt, gestalte dein Leben so, daß es ein Leben ist, das vom Säen, vom Weitergeben bestimmt ist. Das ganze Leben soll ein Geben sein. Was sollen wir geben? Wie schon gesagt: wir geben das, was Gott uns gegeben hat. Können wir wissen, was wir bewirken? Salomo sagt deutlich nein. „Du weißt nicht, was gerät“. Der Sämann weiß es auch nicht, wie viele Samen vom Winde verweht werden, wie die künftigen Wetterverhältnisse sind und was schließlich aufgeht. Niemand weiß, wie, wo und wann das Gute, das er weitergibt, bei anderen zur Frucht wird. Man weiß ja nicht einmal, ob das Gute, was man für andere einsetzt, von ihnen überhaupt erkannt oder angenommen oder gewollt wird. Oft scheint es, als ob der andere gar keinen Blick dafür hat, was man an Gutem ihm gönnt und ihm geben möchte. Die Wirkungen unseres Einsatzes bleiben uns verborgen. Das ist Hoheitsgebiet Gottes. Aber das darf unseren Einsatz nicht schmälern.

Jetzt kommt Salomo noch einmal auf die guten Lebenszeiten zu sprechen: „Es ist das Licht süß, solange wir es sehen“. Man muß sich das immer wieder klar machen, sub specie aeternitatis, im Blick auf die Ewigkeit. Wir sind hier in dieser Lebenszeit mit vielerlei Gaben und Kräften ausgestattet, und das Licht, das Gott uns schenkt, das uns wirken läßt, ist eine dieser wunderbaren Gaben. Der alternde Mensch empfindet das Licht nicht immer als süß. Sein Augenlicht wird trübe, dunkel oder er erblindet. Das war natürlich im Altertum noch öfters der Fall als heute. Die Quintessenz: Nutze die Kräfte, solange du sie hast. In der Bergpredigt gibt es lange Passagen über das Geben. Da sagt Jesus: Gib, aber laß die linke Hand nicht wissen, was die Rechte tut. Das heißt, bilde dir nichts darauf ein, es ist ja deine Pflicht, es ist ja das Wesen christlicher Existenz. Gott gibt, denn er ist ein liebender Gott. Liebe gibt, denn sie will nichts für sich. In dem Maße, in dem Christen in dieser Spur leben, sind sie Gebende. Aber sie sollen es tun, solange sie die Kräfte dazu haben.

Halte deine Seele und deinen Leib rein

Kapitel 11,9-10: Jetzt wendet sich Salomo speziell an die Jugend. Luther übersetzt hier „Jüngling“. Salomo erweist sich hier als absolut kompetenter Jugendseelsorger, denn mit diesen beiden geistlichen Ermahnungen trifft er den Nerv der Jugend, damals wie heute, und zwar als Seelsorger und Leibsorger.

Zunächst spricht er die Probleme der Seele an. „Laß den Ärger fern sein von deinem Herzen“. Ein Jugendlicher ärgert sich sehr schnell, besonders über die altmodischen Alten. Salomo ermahnt ihn, den Ärger nicht in der Seele zu lassen. Tu ihn raus. Halte ihn fern von dir. Das ist ein sehr sinnvoller Rat an den jungen Menschen, der meint alles besser zu können und alles besser zu machen und sich eben schnell ärgert, wenn er nicht so wie er es will zum Zuge kommt.

„Dein Herz mache dich fröhlich in den Tagen deiner Jugend. Wandle auf den Wegen deines Herzens und was deinen Augen gefällt.“ So heißt es wörtlich, wenn man weiter liest. Das klingt merkwürdig. Man denkt ja fast, daß Salomo der Jugend den Rat gibt, nach eigenen Gutdünken zu leben. Aber man muß nur weiterlesen, dann merkt man, daß das nun gerade nicht seine Absicht ist. „Wisse, daß dich Gott deswegen ins Gericht bringen wird.“ Das heißt: Wenn du so weiter machst, wenn du nach deinem eigenen Gustus lebst, dann denke bitte daran, daß alles ein ewigkeitliches Ziel hat und daß Gott dich dafür prüfen und zur Rechenschaft ziehen wird. Wir sollten also diesen Teilvers 9b „Tu, was dein Herz gelüstet und dein Auge begehrt“ nicht isoliert lesen, nicht als salomonischen Rat an die Jugend auslegen, sondern als eine rhetorische Formulierung, durch die der Prediger die Jugend zum Nachdenken bringen will. Mach was du willst, aber bitte denk dran, Gott wird dich vor Gericht ziehen. Manche Ausleger verstehen das anders und sagen, hier gönne Salomo der Jugend tatsächlich ein eigenes Leben, eigene Lebensinhalte, eigene Lebensfreuden, aber ich denke, daß es hier doch um das Leben im Angesicht der Ewigkeit geht, und damit verträgt sich Zügellosigkeit nicht. Salomo gibt eine Sterbevorbereitung und öffnet einen Ewigkeitshorizont, das sollte jede Auslegung berücksichtigen.

Nun folgt eine Zusammenfassung der Ermahnungen an die Jugend: „Halte fern das Übel von deinem Leib und laß den Unmut fern sein von deinem Herzen.“ Ich möchte hier ein besonderes Augenmerk auf die Leibsorge legen. Die Seelsorge kennen wir alle. Aber die Leibsorge ist genau so wichtig. Was macht der Mensch mit seinem Leib? Gehorcht er den Trieben? Läßt er sich verführen von denen, die ihn dazu ermutigen, den leiblichen Trieben zu folgen? Wer regiert in uns? Regiert der Geist den Leib oder regiert der Leib den Geist? Diese Fragen muß sich jeder stellen. Und in unserer Zeit, wo uns überall eine veräußerlichte, pervertierte, ja dämonisierte Sexualität und ein unbegrenzter Konsumrausch entgegenschreien, ist das ein hochaktueller Rat. Halte das Üble fern von deinem Leib. Das ist das Beste, was man der Jugend heute empfehlen kann. Halte deinen Leib rein und gehe einen alternativen Weg.

Denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend

Kapitel 12,1-8: Hier kommt nun ein Abschnitt, der zur Kennzeichnung des Alters außergewöhnlich viele und z.T. sehr schwierige Bilder verwendet. Er beginnt mit der Aufforderung „Denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend“. Das bedeutet nichts anderes als „Schieb deine Bekehrung nicht auf das Alter auf“. Wir könnten heute diese Aufforderung vielleicht so umschreiben: Wenn du in deiner Jugend den Gedanken an Deinen Schöpfer verdrängst, gehst du ein großes Risiko ein. Die Funktionen des Leibes, die Funktionen der Seele und des Geistes lassen im Alter nach. Wer weiß, ob du dann noch die Einsicht, den Willen, das Verständnis dafür hast, daß du ein Kind Gottes sein mußt, daß du dich ganz und gar unter Gottes Willen stellen mußt, daß du dich bekehren mußt zu dem Herrn Jesus Christus. Schiebe das nicht auf. Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend. Das sollten wir der Jugend in derselben Intensität sagen, wie es damals Salomo gesagt hat.

Nun folgt die berühmte Schilderung des Alters. „…ehe die bösen Tage kommen.“ Hier wird uns ein ungeschminktes Bild des Alters vor Augen gestellt. Es ist ein Bild ohne Wehleidigkeit, ein Bild ohne Illusionen, ein Bild ohne falsche Hoffnungen. Hier wird dem alten Menschen nichts vorgemacht, Salomo verspricht ihm nicht, daß die Medizin eines Tages alle Altersbeschwerden in den Griff bekommen wird, er verspricht keinen sorgen- und beschwerdefreien Lebensabend.

Das Alter ist das offensichtlichste Kennzeichen unserer Vergänglichkeit. Kein Mensch, wenn er alt wird, kann sich den Alterserscheinungen entziehen. Jeder muß sich der Tatsache stellen, daß nun der Tod nicht mehr sehr lange auf sich warten läßt.

Im Gegensatz zum Realismus des Predigerbuchs bauen wir uns heute die Illusion auf, das Alter aufschieben und womöglich besiegen zu können. Eine breit angelegte Anti-Aging-Bewegung gaukelt dem älter werdenden Menschen vor, daß er das Altern aufhalten kann. Der postmoderne Mensch bäumt sich mit aller Kraft gegen das Alter auf.

Es lohnt sich, in dieser Hinsicht einmal unsere Gesellschaft kulturkritisch zu untersuchen. Da werden aus Altenheimen plötzlich Seniorenresidenzen. Kulturelle Revolutionen beginnen meistens mit der Sprache. In der Sprache drückt sich immer auch die geistige Haltung und Verfassung eines Menschen und eines Volkes aus. Es freut mich immer, wenn ich in der Schweiz durch Ortschaften fahre und noch den Begriff Altenheim sehe. Anscheinend macht man dort den Unsinn der „Seniorenresidenzen“ nicht mit.

Seit der neomarxistischen Kulturrevolution der 68er-Bewegung wurde das Alter für rückständig erklärt. Die Parole „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“ machte Geschichte und prägte das Bewußtsein weiter Teile der Jugend. Was sich da angesammelt hat an Tradition, das müssen wir entlüften und entrümpeln, das wurde zum erklärten Ziel einer ganzen Generation. Was die Alten geleistet haben, das schaffen wir schon längst. So hat man das damals gemeint, und viele denken immer noch so. Für Deutschland kam noch erschwerend dazu, daß tatsächlich große Teile der Elterngeneration sich vom Nationalsozialismus verführen ließen. Das hat der Neomarxismus begierig aufgegriffen und behauptet, daß eben das obrigkeitshörige Denken der Deutschen dazu geführt habe. Max Horkheimer hat 1937 über die bürgerliche Familie geschrieben und behauptet, die herkömmliche bürgerlich-christliche Familienstruktur sei die eigentliche Ursache für das Aufkommen faschistoider Menschentypen in Europa, also von Menschen, die anfällig sind für die Verführung durch den Faschismus.

Den geringen Stellenwert des Alters in unserer Gesellschaft offenbart auch das wirtschaftliche Leben. Wirtschaft und Industrie beginnen meist bei den älteren Arbeitern und Angestellten, wenn Entlassungen nötig werden. Der Mensch spürt, daß er im Alter nicht mehr so viel wert ist, gewiß keine günstige Voraussetzung dafür, daß er lernt, sein Älterwerden zu bejahen und anzunehmen. Die Werbung gaukelt ein Leben in ewiger Jugend vor. Die Gesundheitsindustrie mit ihren Anti-Aging-Produkten versucht, mit allen Mitteln und Methoden das Alter aufzuhalten und aus dem Bewußtsein zu verdrängen.

Was steht eigentlich hinter der modernen Ablehnung des Alters? Ich denke, es ist letztlich ein Aufbäumen gegen die Vergänglichkeit. Der säkulare Mensch will nicht mehr zur Kenntnis nehmen, daß eine Strafe Gottes über der Menschheit liegt, die Mensch und Kreatur vergänglich gemacht hat, und so wird eine Scheinwelt aufgebaut, die das Alter für rückständig erklärt, für unattraktiv und schließlich für überwindbar.

Aus dieser umfassenden gesellschaftlichen Lüge können und sollten Christen ausbrechen und das Alter nehmen als das, was es ist, nämlich als eine von Gott verordnete Vorbereitungszeit auf Tod und Ewigkeit. Alt werden ist eine gottgewollte Loslösung aus der Welt. Ich werde schrittweise aus meinen Verpflichtungen und Verhaftungen an die Welt gelöst. Ich kann die Welt nicht mehr so wahrnehmen und nicht mehr so genießen wie früher. Die Funktionsfähigkeit der Sinne läßt nach, der Verstand kann die täglichen Herausforderungen nicht mehr so gut meistern. Ich werde abgeschält aus dieser Welt. Mir wird meine irdische Heimat entzogen, damit ich mich auf meine himmlische Heimat einstellen lerne. Das Alter hat so gesehen eine tiefe geistliche Bedeutung. Auf dieser Spur bewegt sich Salomo, wenn er uns die Beschwerden des Alters vor Augen stellt.

Wenn man sich den von Salomo aufgezählten Alterskennzeichen zuwendet, stößt man einige Male auf schwer deutbare Bilder, wo letztlich nur vermutet werden kann, was der Verfasser meint. In jedem Fall bereitet V. 1 darauf vor, daß Salomo den Vergänglichkeitsaspekt des Altwerdens beschreiben will. „Es kommen Jahre, da wirst du sagen, sie gefallen mir nicht.“ Hier kann man eigentlich einen Doppelpunkt setzen, denn alles, was danach kommt, beschreibt diese Zeit. Mit den „bösen Tagen“ der Luther-Übersetzung sind natürlich die „beschwerlichen“ Tage gemeint, denn geistlich gesehen können diese Tage durchaus zu einem Lebenshöhepunkt werden.

Die Welt wird dunkler. Das Augenlicht läßt nach. „Die Hüter des Hauses zittern“. Das sind sehr wahrscheinlich die Arme. „Die Starken krümmen sich“. Das sind die Beine. „Die Müllerinnen“, das hat Luther so originell übersetzt, eigentlich heißt der Ausdruck „die Mahlenden“, das sind die Zähne, und die stehen müßig herum, weil sie nichts mehr tun können, weil es so wenige geworden sind. Die Augen sind gemeint, wenn Salomo von denen spricht, „die finster werden, wenn sie durch die Fenster sehen“. Und „wenn die Türen an der Gasse sich schließen, so daß die Stimme der Mühle leise wird, wenn sie sich hebt wie wenn ein Vogel singt und alle Töchter des Gesangs sich neigen“, dann müssen damit die Ohren gemeint sein, die im Alter in ihrer Leistung nachlassen. Dann folgen in V. 5 wieder sehr deutliche und unmittelbar einleuchtende Aussagen. Der alte Mensch „fürchtet sich vor den Höhen“, d.h. jeder Schritt wird beschwerlich, besonders Schritte in die Höhe. Man bekommt Angst sich zu bewegen, denn man könnte hinfallen und es könnte keiner da sein, der aufhilft. Das sind altersspezifische Ängste, die so treffend beschrieben sind, daß der Verfasser selber alt geworden sein muß.

Nun folgen wieder schwierigere Bilder, der blühende Mandelbaum, die beladene Heuschrecke und die aufbrechende Kaper. Vielleicht sollen diese drei Bilder aus der frühlingshaften Natur ein Kontrastprogramm zum sterbenden Menschen sein, der im Gegenüber zur wieder aufblühenden Natur seine Vergänglichkeit desto stärker erfährt. Aber dann wird es wieder ganz deutlich. „Der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt“. Wir finden hier wieder dieselbe Überzeugung, die uns schon im 3. Kapitel begegnet ist. Die Ewigkeit ist in den Menschen hineingelegt. Hier wird diese Tatsache noch einmal deutlich unterstrichen. Der Mensch verläßt im Tod die Zeit und geht über in die Ewigkeit. Es gibt keine Auflösung oder eine Vernichtung des Menschen. Was sich auflöst, ist nur der Leib, und zwar aufgrund des Strafwortes Gottes in 1. Mose 3,19 „Du sollst zur Erde werden, wovon du genommen bist“.

Wieder folgen schwierige Bilder. Deutlich ist nur, daß sie den Tod meinen. Da zerreißt ein silberner Strick. Da zerbricht eine goldene Schale. Es zerschellt ein Krug. Ein Rad zerbricht. Das sind Bilder und Begriffe, die einen endgültigen Charakter tragen. Es gibt kein langsames Ausglimmen, sondern ein plötzliches Ende. Der Tod zerbricht den Leib. Er ist der Sold der Sünde (Röm. 6,23). Man muß den Tod als den großen Zerbrecher und Zermalmer ernst nehmen, wenn man die todesüberwindende Botschaft des Evangeliums wirklich in ihrer ganzen Schönheit und Süße schmecken will. Wenn man den Tod als einen natürlichen Prozeß ansieht, so wie es manche Esoteriker tun, dann verliert die Botschaft des Evangeliums an Strahlkraft. Der Tod ist wirklich eine brutale Beendigung des natürlichen Lebens.

In V. 7 spricht der Prediger denkbar knapp das weitere Schicksal der Gestorbenen an. Der Leib, der aus Erde geformt ist, kehrt zurück zur Erde. Der Geist, der von Gott kommt, kehrt zurück zu ihm. Das ist eine sehr deutliche, auch sonst in der Bibel anzutreffende Aussage. Der Geist, also das Persönlichkeitszentrum, das Ich des Menschen, ist ein Gedanke Gottes und als solcher grundsätzlich unzerstörbar. Natürlich ist das hier sehr knapp formuliert, daß der Geist wieder zu Gott kommt, der ihn gegeben hat. Hinzufügen muß man, daß dort das Gericht auf ihn wartet, denn Salomo geht davon aus, daß der Mensch dann zum Gericht gezogen wird (3,17; 11,9).

In V. 8 zieht der Prediger sein Schlußfazit. Damit endet die Überlieferung Salomos. Ab 12,9 spricht der Bearbeiter des Buchs. Salomo bestätigt und bekräftigt seine Einschätzung des menschlichen Lebens. „Es ist alles Hauch, absolut Hauch“. Hauch, ein nicht sichtbares, unbeständiges, vollkommen kraftloses Etwas. Wo keine Ewigkeit vorhanden ist, wo nur irdische Zeit und irdischer Raum die Wirklichkeit ausmacht, dort ist alles der Vergänglichkeit unterworfen. In der Perspektive der Ewigkeit ist alles Vergängliche nur ein Hauch.

Man könnte es auch mit Heinrich Kemner so sagen: Alles vergeht, nur das von Gott Geschenkte hat Bestand. Nur was Gott neuschöpferisch in das Leben eines Menschen hineingelegt hat, wird die Zeit überdauern. Nur das neue Leben, das der Mensch im Glauben an Jesus Christus empfängt, ist unvergänglich.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius

Quelle: Pastor Dr. Joachim Cochlovius, Fröhlich sein trotz Vergänglichkeit. Eine Auslegung des Predigerbuches, 96 Seiten, 5,00 €. Das Buch kann hier [1] bestellt werden.