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Predigt zum Reformationsgedenken am 31. Oktober 2007

Predigt zum Reformationsgedenken am 31. Oktober 2007
in der Petruskirche Kiel

Römer 1,16: „Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil für jeden, der (an ihn) glaubt.“

„Der wahre Schatz der Kirche ist das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ – das ist die 62. jener 95 Thesen, die Martin Luther heute vor 490 Jahren an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen hat. Er wollte damit zu einer Diskussion mit Kollegen und Studenten seiner Universität aufforderten. Aber daraus wurde nichts, weil einfach niemand kam. Statt dessen aber liefen Drucke dieser Thesen in Windeseile durch ganz Deutschland, und daraus wurde der Anfang der Reformation, das heißt der Erneuerung der Kirche von Grund auf, und zwar durch eben die Kraft Gottes im Evangelium von Jesus Christus, mit dem der Apostel Paulus ebenso thesenartig seinen Brief an die Christen in Rom beginnt. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil für jeden, der an Jesus Christus glaubt“.

Heute ist eine Erneuerung unserer Kirche an Haupt und Gliedern wieder einmal dringend notwendig – und zwar eine Erneuerung, die noch tiefer greifende Probleme anzugreifen und zu lösen hat als die, mit denen Luther zu ringen hatte. Es geht, kurz gesagt, darum, daß das Denken und Wollen unserer modernen Welt seit langem gott-los geworden ist; und daß auch die Zahl derjenigen Christen mehr und mehr anwächst, die sich dieser Gott-losigkeit anzupassen für notwendig oder sogar für chic halten – eine Tendenz, die wie ein Gift den ganzen Glauben durchdringt und seine Kraft lähmt. Ich meine nicht einen kämpferischen Atheismus, der sich mit dem Glauben der Kirche anlegt, sondern ein lautloses Hinschwinden der Wichtigkeit Gottes für das Leben der Menschen. Und das geschieht, indem gleichzeitig ein Bedürfnis nach religiösem Erleben durchaus zunimmt. Aber die Rede der Kirche von Gott als dem Herrn über alle Menschen verblaßt – ein moderner Mensch will keinen Herrn über sich, er will selbst über sich bestimmen. Eine Religiosität dagegen, die bei meditativer Einkehr in die Tiefe der eigenen Seele mein Ich „göttlich erwärmt“ und mich mit mir selbst einig werden läßt, steht jedem Menschen frei.

Warum lassen sich aber immer mehr Christen auf diesen Zeitgeist ein und deuten den Glauben so um, daß er mit dem Hören auf Gott, mit persönlichem Vertrauen auf ihn und mit Gehorsam zu ihm, – mit dem also, was Paulus mit Gottes Wort im Evangelium und mit dem Glauben an Jesus Christus meint, – nichts mehr zu tun hat? Statt dessen geht es ihnen um je meine eigene Gläubigkeit, was den Sinn meines Lebens angeht, und um ein Selbstvertrauen zu mir, mein Leben schon irgendwie meistern zu können. Dieser Trend tritt in der neuen „Bibel in gerechter Sprache“ besonders deutlich hervor. Da darf von Gott als dem Herrn und von Gott dem Vater nicht mehr die Rede sein, um so mehr dafür von einer göttlichen „Geistkraft“ in mir. Vor allem darf hier von Jesus nicht als dem Sohn Gottes zu lesen sein, sondern von einem jüdischen Propheten und messianischen Lehrer als einem vorbildlichen Menschen, der alle Menschen liebt und vor allem mich bejaht.

Warum dieser Trend zu einem „soft“-Evangelium? Gewiß, manche sagen, man könne doch zu Menschen unserer Zeit nicht so markig-autoritär von Gott reden, wie die „Sprache Kanaans“ es tut; diese Sprache befremde unsere Zeitgenossen nur unnötig. Das, was ihnen am ehesten vertraut sei und ihre Zustimmung ermögliche, das müsse der Ton sein, in dem in einer zeit-„gerechten“ Bibel von Gott und Göttlichem zu lesen sein müsse. In Wirklichkeit jedoch ist es nicht Rücksicht auf die anderen, sondern die eigene Scheu, in der Sprache der Bibel von Gott zu reden; das eigene Empfinden, selbst so nicht mehr reden und glauben zu können, die eigene Abwehr gegen alles „Autoritäre“ zwischen Gott und mir, der Wunsch nach einem Christentum, das keinerlei Anstoß erregt, weder bei anderen, noch eben auch bei mir selbst.

Was liegt dem zugrunde? Nichts anderes als eine moderne Form der Entscheidung Adams und Evas, die Frucht der Erkenntnis dessen, was gut und böse ist, selbst vom Baum des Paradieses zu brechen, und das eigene Ich an die Stelle des Ich Gottes zu setzen, wenn es darum geht, wie ich selbst leben will. Das ist seit über 200 Jahren der O-Ton der modernen Welt: Jeder soll nach seiner Facon selig werden – ein Gott als Herr über mir darf da nichts zu sagen haben über das hinaus, was ich zu sagen habe. Nicht der Mensch ist das Ebenbild Gottes, sondern Gott soll zum Ebenbild des Menschen werden. Ich Adam, Ich Eva, wir sind der Nabel der Welt. Und von dem, was nach Gottes Geboten gut und böse ist, bleibt nur eines als allgemein-gültig übrig: das Gebot der Toleranz, der Toleranz, die ich von anderen für mich erwarten darf, zu leben, wie ich leben will, und entsprechend auch meine Toleranz, andere zu akzeptieren, wie sie eben sind.

Adam und Eva im Paradies fürchteten sich noch vor Gott, als er sie bei Namen rief. Die heutige Eva und der heutige Adam haben solche Furcht längst abgeschafft. An ihre Stelle tritt jedoch statt dessen unweigerlich eine geheime unbenennbare und tief unheimliche Angst – die Angst, mutterseelenallein zu sein, allein nur mit mir selbst; die Angst davor, daß, wenn es ernst wird, das Band wechselseitiger Toleranz zerreißen könnte und ich dann völlig hilflos dastehe; die Angst, einmal zu sterben, ohne je wirklich und erfüllt gelebt zu haben – biblisch ausgedrückt: die Angst, „verloren“ zu sein. Solche Verlorenheit, die Menschen sich selbst geschaffen haben und aus der sie sich nicht selbst befreien können, nennt die Bibel die Wirklichkeit der Sünde.

Nun ist aber dies die eigentliche Botschaft des Evangeliums, daß Gott selbst dieses Gefängnis der Sünde aufgesprengt hat, weil es der Wille seiner Liebe ist, auch die Bösesten unter den Sündern aus ihrer Verlorenheit herauszuretten. Nicht daß Gott so schwächlich wäre, Sünder lieber nicht mit dem tödlichen Verderben zu bestrafen, das sie verdienen. Nein, Gott vollstreckt seinen Zorn sehr wohl! Aber das Wunder Gottes ist: Dieses Gericht über die Sünde vollstreckt er – statt an uns Sündern – an seinem Sohn: Christus hat am Kreuz von Golgata den Tod auf sich genommen, den die Sünde den Sündern als ihren Sold auszahlt, wie Paulus es im Römerbrief pointiert-plastisch sagt. Am Kreuz hat Gott nicht etwa seinen Sohn geopfert, um seinem Zorn Genüge zu leisten, wie das Karfreitagsgeschehen immer wieder in der Pose geradezu moralischer Entrüstung boshaft kritisiert wird. Sondern das Wunder besteht darin: Gott selbst ist mit dem Gekreuzigten ganz eines. Indem Christus sich selbst hingegeben hat, sein Leben für das unsrige, hat Gott sich selbst für uns hingegeben und hat so seine Liebe zu uns in unausdenkbarer Radikalität verwirklicht. Aber wiederum nicht so, daß seine Liebe zu uns am Kreuz Christi gescheitert wäre, sondern sie hat ihren allergrößten und allerletzten Sieg errungen, indem Gott seinen geliebten Sohn von dem Tod auferweckt hat, den Christus für uns gestorben ist. Das ist das Wunder aller Wunder Gottes, das im Evangelium verkündigt wird: Gottes Liebe gibt sich selbst für uns hin – und hat eben darin ihren Sieg errungen. Karfreitag und Ostern gehören aufs engste zusammen, die totale Nacht des grauenhaftesten Todes in der grauenschaffenden Menschenwelt und der aufstrahlende Morgen neuen Auferstehungslebens.

Das war einst die Kunde, mit der die Apostel die Welt gewonnen, den tief resignierten Pessimismus vieler Menschen, der auch damals den Zeitgeist beherrschte, überwunden und ihnen einen völlig neuen Lebenssinn gegeben hat: ein Leben, das in Liebe gründet und zur Liebe ermutigt. Dieses Evangelium war auch der einzigartige Schatz, den wiederzugewinnen Luther seiner Kirche zugemutet hat: „Nun freut euch, lieben Christen g’mein und laßt uns fröhlich springen!“

Warum legt sich heute so vielfach ein klebriger Mehltau über dieses herrliche Evangelium, das wir doch unserer Welt mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit von „viel Spaß“ und unendlich viel Resignation wahrhaftig nicht weniger schulden als Paulus und Luther? Warum diese verbreitete Scheu unter uns selbst, diese Botschaft der Bibel beim Wort zu nehmen, und die eigenartige Bereitschaft, sich mit lauter Surrogaten zu begnügen, ja all diese billigen Ersatzmotive sogar noch als „moderne Theologie“ zu verkaufen?

Denn das muß mit allem Ernst gesagt werden:

Erstens: Wer die Bibel meint unseren Wünschen anpassen zu sollen, wer sich gar reformatorisch dünkt, wenn er sie für die heutige Zeit willkürlich verändert, der zerbricht das Fundament der ganzen Reformation. „Allein die Schrift“ sollte in ihrer Lehre als bestimmendes Prinzip gelten – und so steht es auch in der Bekenntnisgrundlage aller lutherischen Kirchen, einschließlich unserer Nordelbischen. Es ist schlicht bekenntniswidrig, wenn uns eine Bibel empfohlen wird, die der Heiligen Schrift ständig ins Wort fällt.

Zweitens: Wer nicht mehr von Gott als dem Herrn über uns reden und nichts mehr davon wissen will, Gottes Willen in seinen Zehn Geboten zu gehorchen – vom ersten: „Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst keine anderen Götter neben Mir haben“, bis zum 5. und 6. einschließlich des absoluten Verbots, werdendes Leben zu töten, und der Anstrengung, Ehekrisen gemeinsam durchzustehen, statt Ehen nach Belieben zu wechseln oder mit andersartigen „Partnerschaften“ zu vertauschen, und schließlich bis hin zum 9. und 10. Gebot, das meinen Begierden nach immer mehr und nach immer mal etwas Neuem Grenzen setzt, – wer es also zum Prinzip modernen Christentums macht, „frei“ leben zu dürfen, wie man es eben selbst will oder auch wie es sich mir gerade bietet, der bricht Gott die Treue und darf sich nicht darüber wundern, daß dann sein ganzes Verhältnis zu Gott verblaßt.

Drittens: Wer in Jesus nur einen Menschen sieht mit einem vorbildlichen Verhältnis zu Gott, nicht aber Gottes Sohn, in dem mir Gott selbst begegnet, der wird weder vom Weihnachtswunder der Menschwerdung Gottes etwas verstehen noch vor allem von Karfreitag und Ostern als wirklichem Handeln Gottes im Geschick Jesu Christi. Und er wird sich nicht darüber wundern dürfen, daß Jesus als Person ihm völlig entschwindet und Jesu Geschichte zu einem Haufen gleich-gültiger Glaubensdeutungen wird. Das innere Leben wird dann heillos-leer. Die beglückende Gewißheit: Du bist von Gott errettet, wird dann versiegen; und die herrliche Hoffnung auf meine Teilhabe am Auferstehungsleben Christi durch den Tod hindurch – wird nicht mehr mein letzter, untrüglicher Trost sein können. Die Kraft Gottes, von der der Apostel im Römerbrief spricht, wird nichts mehr sein, womit ich unerschütterlich- fest „rechnen“ kann, nicht mehr die Quelle, aus der mein Glaube an Gott seine Kraft ziehen kann und darf, gerade in Zeiten, wo er in mir selbst ganz schwach und unverläßlich wird.

Liebe Brüder und Schwestern: Dies alles ist nicht etwa eine theologische Meinung eines Altbischofs, von der man denken kann, was man will, die man sich aber besser nicht zu eigen machen sollte, weil es heute doch viel bessere, modernere, menschenfreundlichere Theologien gibt. Nein, es handelt sich um das Fundament der Lehre unserer Kirche, die in der Mitte der Heiligen Schrift zu finden ist, so und nicht anders. Wer den Glauben anders auffaßt und verkündigt, vertritt Irrlehre. Paulus sagt im Brief an die Galater: Es gibt nur ein Evangelium und keinerlei andere, die man anstelle des einen auch vertreten und anderen vermitteln könnte und dürfte.

Wenn es denn so ist, liebe Schwestern und Brüder, dann laßt uns am heutigen Gedenktag der Reformation zusammentreten zu einer Gemeinschaft, in der wir uns gegenseitig dazu helfen und ermutigen, dieses eine herrliche Evangelium von Gott und von Jesus Christus so klar und eindeutig öffentlich zu vertreten, daß einerseits die vielen Nichtmehrchristen, mit denen wir in einer Welt zusammenleben, es als Alternative ernstnehmen und daran Interesse finden können; und daß andererseits die vielen Mitchristen, deren Glaube blaß geworden ist unter dem Einfluß grassierender Irrlehre, neues Vertrauen zu Gott und zu Jesus Christus fassen und dieses Glaubens so richtig froh werden können.

Amen.