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Die fünf demographischen Plagen Deutschlands und die Demographiestrategie der Bundesregierung

Die fünf demographischen Plagen Deutschlands und die Demographiestrategie der Bundesregierung

Gegen die bestprognostizierte Krise unserer Geschichte kann die Demographiestrategie der Bundesregierung nichts ausrichten. Dabei birgt der Familiensektor Deutschlands Potential für eine der höchsten Geburtenraten Europas.

Die Bundesregierung hat zur Bekämpfung der demographischen Krise eine sogenannte Demographiestrategie entwickelt. Darin werden Maßnahmen für alle denkbaren Auswirkungen des demographischen Wandels vorgestellt, aber man findet so gut wie kein Wort über eine Steuerung der Ursachen. Die Hauptursache der Krise – die niedrige Geburtenrate – soll unter keinen Umständen beeinflußt werden. Grund: „Der Staat hat im Schlafzimmer nichts zu suchen“. Ein wahrer Satz, aber der Staat betreibt auf seine Weise massive Bevölkerungspolitik und regiert bedenkenlos in die Familien hinein.

Auf die Entscheidungen für oder gegen Kinder hat nicht die Familienpolitik die größten Wirkungen, sondern Politikbereiche wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Indem beispielsweise eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik die Realeinkommen der Menschen erhöht, vergrößert sie zugleich das entgangene Einkommen, wenn eine Frau zugunsten der Erziehung von Kindern auf Erwerbsarbeit verzichtet, falls sich nicht beides miteinander vereinbaren läßt. Auf diese Weise übt die Wirtschaftspolitik, ohne formal zuständig zu sein, eine negative Nebenwirkung auf die Geburtenrate aus, deren Ausmaß den Einfluß der Familienpolitik weit übertrifft. Ähnliches gilt für Politikbereiche wie die Sozial- und Bildungspolitik.

Die Stärke der Familien in Deutschland wird allgemein verkannt: Eine Mehrheit von zwei Dritteln der Menschen hat Kinder, und zwar seit Jahrzehnten unverändert die ideale Zahl von durchschnittlich zwei pro Frau. Deutschland hat nur deshalb eine der niedrigsten statt eine der höchsten Geburtenraten Europas, weil wesentlich mehr Menschen kinderlos bleiben wie in anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich.

Beim Jahrgang 1950 war die größte Frauengruppe – die nicht Zugewanderten in den alten Bundesländern – noch zu 15,4 Prozent zeitlebend kinderlos. Der Prozentsatz erhöhte sich bis zum Jahrgang 1970 auf den internationalen Spitzenwert von 30,0 Prozent. In den neuen Bundesländern und bei den Zugewanderten ist der Prozentsatz nur halb so hoch, aber er stieg ebenfalls vom Jahrgang 1950 bis zum Jahrgang 1970 auf das Doppelte – Tendenz steigend.

Die Konsequenzen der niedrigen Geburtenrate erinnern an die Plagen der Bibel. In Deutschland sind fünf demographische Plagen in Form von wachsenden Verteilungskonflikten zu unterscheiden:

Erstens zwischen alten und jungen Generationen bzw. zwischen den Beitrags- und Steuerzahlern einerseits und Menschen im Ruhestand andererseits.

Zweitens innerhalb jeder alten und jeder jungen Generation zwischen Menschen mit bzw. ohne Nachkommen: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2001 ist die Pflegeversicherung (darüber hinaus auch die Renten- und Krankenversicherung) verfassungswidrig, weil Kinderlose privilegiert werden, indem sie die vollen Versorgungsansprüche erwerben, ohne den „generativen“ Beitrag in der Form der Kindererziehung zu leisten, ohne den die umlagefinanzierte Sozialversicherung nicht funktioniert.

Drittens zwischen den Entleerungsgebieten einerseits und den Landeshauptstädten und Metropolregionen andererseits, die ihre demographischen Defizite zu Lasten der Entleerungsgebiete verringern.

Viertens zwischen Menschen mit bzw. ohne Migrationshintergrund: Migranten leben auf Grund ihrer im Durchschnitt wesentlich schlechteren schulischen und beruflichen Qualifikationen zu einem viel höheren Anteil von Sozialtransfers.

Fünftens zwischen den Ländern im Norden und Süden Europas, denn die Finanzkrise entstand nicht zuletzt aus der Schuldenaufnahme zur Finanzierung der demographischen Lasten der sozialen Sicherungssysteme, deren Defizite in allen Ländern durch die niedrige Geburtenrate verursacht werden.

Die Politik könnte, wenn sie es wollte, für einen Wiederanstieg der Geburtenrate sorgen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, sie betreibe Bevölkerungspolitik nach dem Muster der Nazizeit. Dafür müßten vor allem folgende Maßnahmen ergriffen werden: Beendigung der verfassungswidrigen Benachteiligung der Familien durch Umsetzung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Sozialversicherung; Schaffung von attraktiven Betreuungseinrichtungen für Kinder ab dem Vorschulalter; Bevorzugung von Eltern bei der Besetzung von Arbeitsplätzen bei gleicher Qualifikation der Bewerber; Konzentration der staatlichen Ehe- und Familienförderung auf die Erziehung von Kindern statt auf den formalen Status der Ehe; Einführung demographischer Kennziffern in den Finanzausgleich auf allen regionalen Ebenen,

Die wichtigste Maßnahme wäre die Umsetzung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts, denn durch die Mißachtung der höchstrichterlichen Rechtssprechung hat Deutschland auf diesem Gebiet seine Rechtsstaatlichkeit verloren. Durch die Mißachtung des Rechts wird die Bevölkerungsschrumpfung beschleunigt, die Alterung verstärkt und die Einwanderung zu Lasten der Herkunftsgebiete gefördert.

Prof. Dr. Herwig Birg, 2.10.2012

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Der Beitrag erschien zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.10.2012

Wir empfehlen die Internetseite www.herwig-birg.de [1], auf der weitere Beiträge von Prof. Herwig Birg zur demographischen Entwicklung gelesen und heruntergeladen werden können.