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Wie ein Laie evangelische Theologie erlebt

Dienstag 12. Juni 2012 von Andreas Rau


Andreas Rau

Wie ein Laie evangelische Theologie erlebt

„Damit stehen wir aber vor dem tiefsten Gegensatz, der heute die Geister scheidet, dem Gegensatz zwischen zwei Standpunkten, die so radikal verschieden sind, daß sie sich überhaupt nicht mehr miteinander verständigen können … Es stehen sich hier in der Tat zwei Geisteshaltungen gegenüber, zwei Auffassungen der Wirklichkeit, zwei Religionen und zwei Deutungen unserer von Geburt und Tod begrenzten Existenz. Zwischen diesen beiden Standpunkten ist jede Brücke des Verständnisses abgebrochen. Sie müssen sich gegenseitig Lebensfremdheit und Wirklichkeitsferne vorwerfen. Auf beiden Seiten kann man das Wort „Gott“ gebrauchen, wenn man vom Höchsten sprechen will, für das man lebt … Und doch lebt man auf beiden Seiten auf verschiedenen Sternen und steht auf entgegengesetzten Fundamenten. Dieser Gegensatz zwischen zwei Lebensdeutungen ist nicht bloß eine theoretische Konstruktion, eine akademische Angelegenheit, die man … ruhig zurückstellen könnte. Dieser Gegensatz ist vielmehr eine ganz und gar praktische Angelegenheit …“ (Karl Heim: Glaube und Denken – Band 1; Einleitung, Verlag der Liebenzeller Mission, Bad Liebenzell 2003).

Unter Theologen geht die Rede vom „garstigen Graben der Geschichte“. Der verliefe quer durch die Zeit und meint die Jahrhunderte, die seit der Entstehung der Bibel vergangen sind. In dieser Zeit habe sich das Denken grundlegend verändert, wodurch dem aufgeklärten Zeitgenossen heute der Zugang zu den Worten der Apostel und Propheten erschwert oder gar unmöglich gemacht werde.

Als Laie steht man häufig vor einem anderen Graben; einem, der quer durch den Raum verläuft; genauer: zwischen Kanzel und Kirchenbänken. Er trennt das verquollene Denken vieler Theologen von der Alltagslogik der Gemeinde. Durch ihn wird ’normalen Menschen‘ der Zugang zu theologisch-kirchlichem Reden erschwert oder gar unmöglich gemacht.

In der weltweiten Christenheit findet sich ein weiterer, besonders garstiger Graben; einer, der immer tiefer und breiter wird. Er ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen und dennoch ist er wie „eine große Kluft befestigt“ zwischen zwei theologischen bzw. religiösen Welten. Die anglikanische Weltkirche droht an ihm zu zerbrechen. Beim lutherischen Weltbund brennt seinetwegen die Luft. Selbst bei den Katholiken rumort es. Dort streitet man über andere Themen, aber der Graben ist der gleiche.

Auch in der EKD werden die Probleme größer und größer. Hier allerdings läßt sich der Verlauf dieses Grabens nur schwer beschreiben. In erster Linie trennt er wohl die „Kerngemeinde“ von ihren Kirchenleitungen. Dieses Heft ist der Versuch, einen Blick in diesen dritten Graben zu werfen.

*   *   *

Der Autor ist ein Laie; ein schlichter Christ, der wohl zur „Kerngemeinde“ zählt. Als solcher hat er keine Ahnung von akademischer Theologie. Doch er hat hier und dort einige Brosamen aufgeschnappt. Und viele davon kommen ihm sehr, sehr merkwürdig vor. Deshalb ist er überzeugt, die Wurzel vieler kirchlicher Ãœbel ist ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Fachtheologie und Gemeindefrömmigkeit.

Dieses Heft ist ein Versuch, diesen Widerspruch aus der Perspektive der Gemeinde zu beschreiben. Dabei ist bitte, bitte zu beachten: Theologen schauen gern „dem Volk aufs Maul“ – solange das Volk selbiges hält und schweigt. Wenn das Volk dieses sein Maul aber auftut und eine eigene Meinung vertritt, dann wirken manche Theologen irritiert. Diese Sprache sind sie nicht gewohnt. Denn das Maul des Volkes redet nicht, wie Akademiker reden. Es redet auch nicht wie Diplomaten reden. Das Volk redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: gerade heraus, mit klaren Worten, mitunter unbeholfen oder ungehobelt – und ausdrücklich nicht um den heißen kirchlichen Brei herum.

Mit anderen Worten: Im Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ war es ein Kind, das die Wahrheit sah und aussprach: „Er hat ja nichts an!“ Der Autor ist kein Kind sondern ein Narr. Ein Narr, der ausspricht, was er sieht. Er meint, dies seiner Kirche schuldig zu sein.

Der garstige Graben

 I. Gott: „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“. Wenn man sich diese Worte auf der Zunge zergehen läßt, kann einem schwindelig werden. Da soll es irgendwo ein Wesen geben, das buchstäblich alle Macht hat; das nicht nur all die Wunder auf unserer Erde sondern auch den Mond, die Sonne und den unvorstellbar gewaltigen Kosmos geschaffen hat. Gegen solch einen Gott wäre der Mensch nichts, absolut nichts. Das Verhältnis wäre nicht wie Maus und Elefant sondern wie Mücke und Sonne. Dieser Gott ist für uns völlig unerreichbar; und selbst wenn die Mücke die Entfernung zur Sonne überwinden könnte – es würde nicht einmal „pffft“ machen und sie wäre verdampft. Bei einem Streit hätten wir null Chancen; absolut null. Auf diese Vorstellung kann man nun auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen reagieren:

A) Man versteht sie als Chance. Was wären das für Möglichkeiten, wenn solch ein Gott tatsächlich existierte und uns wohlgesonnen wäre; wenn er uns beraten, uns beistehen würde; wenn er uns teilhaben ließe an seiner Kraft, an seinem Geist; wenn er auch uns winzigen Mücken ewiges Leben schenkte? Was könnte uns besseres passieren, als solch einen „Vater unser im Himmel“ zu haben?

Oder aber B), man empfindet solch einen Gott als Gefahr, als Bedrohung. Es ist wahrhaft kein angenehmer Gedanke, daß da jemand sein soll, der uns immer sieht; der buchstäblich alles von uns weiß: jede Tat, jedes Wort, jeden Gedanken. Der auch noch Gebote erläßt, was wir tun und lassen sollen; der einmal Gericht halten und ein Urteil sprechen will über uns und unser Leben.

Das Problem ist, man kann nicht sicher wissen, ob es solch einen Gott gibt oder nicht. Es gibt keinen eindeutigen Beweis für ihn; es gibt aber auch keinen Beweis gegen ihn. Deshalb muß jeder Mensch für sich selbst eine Entscheidung treffen: ja oder nein; glaube ich an diesen Gott oder lehne ich ihn ab; akzeptiere ich eine allmächtige Autorität über mir oder will ich mein eigener Herr sein?

Diese Entscheidung trifft man weniger mit dem Verstand; sondern sie kommt aus dem Herzen, dem tiefsten Innersten unserer Seele. Von dort heraus prägt sie unser Wollen, unser Fühlen, unser Denken, unser ganzes Sein. Und von dort heraus bestimmt diese Entscheidung auch unseren Glauben, unsere Theologie. Die einen, A), stellen sich dem Gedanken an einen großen, allmächtigen Gott – mit all den Problemen, die das mit sich bringt („Wie kann Gott das zulassen?“); die anderen, B), tun alles, um Gott klein und entsprechend sich selber groß zu denken.

Zum Beispiel Jesus Christus: Die einen riefen aus Leibeskräften: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich unser!“ Die anderen riefen, auch aus Leibeskräften: Weg mit dem – „Kreuzige ihn!“ Heute ist Jesus nicht mehr sichtbar unter uns; dafür haben wir die Bibel. Auch hier: Die von A) glauben, die Bibel ist „Gottes Wort“; Worte, die von Gott durch Menschen hindurch zu uns kommen. Also nehmen sie die Bibel, wie sie ist. Für A) ist sie das, was der große, allmächtige Gott uns Mücken zu sagen hat.

Die von B) dagegen dulden keinen Gott über sich; folglich akzeptieren sie auch kein „Wort Gottes“ als Autorität, der sie sich unterordnen müßten. Allerdings rufen sie nicht: „Weg mit der Bibel“, sondern ihre Parole lautet: „Interpretieren, nicht eliminieren!“ Auf deutsch heißt das wohl: „Wir ver-werfen die Bibel nicht, aber sie hat nach unserer Pfeife zu tanzen! Das heißt, wir müssen sie (historisch) kritisch untersuchen. Was uns darin gefällt, in Ordnung, das lassen wir gelten; was uns nicht zusagt, wird umgedeutet“.

In der Folge wird die Bedeutung der unbequemen Textstellen verändert; sie werden verdreht, sie werden umgebogen und zwar so, wie der Theologe es braucht. Die Aussagen der Bibel werden den Wünschen der Mücken angepaßt. Dadurch ist heutige Theologie in alle Himmels-richtungen deut- und dehnbar. Sie beinhaltet nicht mehr, was Gott sagen will, sondern was Menschen hören wollen, wonach „ihnen die Ohren jucken“ (2Ti 4,3). Neuerdings geht man sogar noch einen Schritt weiter: Man beginnt, die Bibel selbst zu verändern; man schreibt sie nach aktuellen Wünschen um in eine „Bibel in gerechter Sprache“.

In der EKD-Monatszeitschrift „Zeitzeichen“ (11/05, S. 39) wurde der Kirchenpräsident der ev. Landeskirche Hessen und Nassau gefragt: „Ist die Bibel Gottes Wort?“ Seine Antwort: „Nein … Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes identisch. Das Wort Gottes ist kein Buch, sondern lebendiges Geschehen. Es ist überall in der Welt zu vernehmen, auch nonverbal, zum Beispiel in der liebevollen Zuwendung zu einem anderen Menschen.“  Das Wort Gottes wird hier zu einem beliebigen Etwas ohne jede objektive Substanz. Da kann dann tatsächlich „jeder nach seiner Fasson selig werden“; sprich: jedermann kann sich seinen Glauben nach seinem je eigenen Geschmack gestalten. Was ihm persönlich zusagt bzw. nützlich erscheint, ist dann „Gottes Wort“, und was ihm nicht gefällt, ist es eben nicht.

Wie dieses „lebendige Geschehen“ konkret aussehen kann, läßt sich ebenfalls in – der offiziellen kirchlichen Zeitschrift! – „Zeitzeichen“ nachlesen. Im Januar 2006 (S. 48) schrieb der Theologie-Student Florian Dieckmann dort sinngemäß: Am Anfang meines Theologiestudiums habe ich noch an einen Gott im Himmel geglaubt; heute, am Ende des  Studiums, tue ich das nicht mehr. Jetzt glaube ich: „Es gibt Gott nicht außerhalb unseres Glaubens an ihn … Gott ist da, wo von ihm geredet wird … Anderswo muß man ihn nicht suchen. Das ist ernüchternd … weil der Thron im Himmel quasi verlassen ist und leer. Weil da keiner sitzt über den Wolken. Keiner regiert im soundsovielten Himmel.“

Das lernen Theologie-Studenten heute an den Universitäten: „Der Thron im Himmel ist leer. Gott ist nur da, wo von ihm geredet wird; anderswo muß man ihn nicht suchen“! Mit anderen Worten: wenn man über Gott redet, dann existiert er; wenn man nicht über ihn redet, dann gibt es ihn auch nicht. Der ewige, allmächtige Gott wird hier zu einer Art Westentaschen-Götzen. Bei Bedarf holt man ihn heraus; wenn man ihn nicht mehr braucht, wird er zusammengeklappt und weggesteckt.

Das wird selten so deutlich gesagt. Dennoch, heutige Theologie ist weithin der groß angelegte Versuch, Gott klein zu machen, ihn berechnen und vor allem kontrollieren zu können – damit der Menschen entsprechend groß sein und herrschen kann. Der Gott der heutigen Theologie ist lieb und nett und brav und gnädig; er sagt und tut grundsätzlich nur das, was die B)-Theologen von ihm erwarten. Genauer wohl: man sucht sich ein pflegeleichtes Etwas, mit dem man machen kann, was man will – und das wird dann zum “Gott“ ernannt (z. B. “die Alles bestimmende Wirklichkeit“ oder “der Grund der Möglichkeit von überhaupt allem“).

Wohlgemerkt; es geht hier nicht darum: die einen sind die Guten, die machen alles richtig; und die anderen sind die Bösen, die machen alles falsch. Die Vertreter beider Seiten sind Sünder und machen Blödsinn. Auch wir Frommen haben oft genug allen Grund, uns an die eigene Nase zu fassen. Hier geht es zunächst nur um die zwei grundsätzlich verschiedenen, nicht zu vereinbarenden Grundformen von Theologie: Bei A) der große Gott und ein kleiner Mensch; bei B) der große Mensch und ein kleiner Gott. Oder im Blick auf die Bibel: Bei A) ist die Bibel die Autorität und der Mensch steht unter ihr. Die Bibel kritisiert den Menschen. Bei B) ist der Mensch die Autorität und die Bibel steht unter ihm. Der Theologe kritisiert die Bibel.

II. Theologie: In der  Physik hat es einmal einen großen Streit gegeben über die Frage: Woraus besteht das Licht? Einige Physiker sagten: „Licht besteht aus Teilchen“; andere sagten: „Licht ist Welle, ist reine Energie.“ Schlichte Laien können das nur schwer begreifen, aber es galt wohl: entweder – oder, entweder Teilchen – oder Welle. Das eine schließt das andere aus; beides gleichzeitig geht nicht. Der Witz war nun, machte man ein bestimmtes Experiment, konnte man beweisen: Licht ist Teilchen. Machte man ein anderes Experiment, konnte man das genaue Gegenteil beweisen: Licht ist Welle. Das Experiment entschied über das Ergebnis; bzw. das Ergebnis war abhängig vom Verhalten des Forschers: was er suchte, das fand er auch – obwohl beide Ergebnisse nicht zusammenpaßten und sich gegenseitig ausschlossen.

„Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ Falls dieser große, allmächtige Schöpfer tatsächlich existiert, dann sollte er selbst unendlich komplizierter ‚beschaffen sein‘ als das von ihm geschaffene Licht. Deshalb dürfte auch und gerade bei Gott gelten: das Experiment bestimmt das Ergebnis. Was wir über Gott herausfinden, was wir mit ihm erleben, ist abhängig von uns, von unserem Verhalten: Was wir suchen, das finden wir auch.

Wieder das Beispiel Jesus Christus: Wer bei ihm Gottes Liebe und Hilfe suchte, der fand das auch. Der konnte ehrlichen Herzens sagen: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“. Bis heute, durch die Jahrtausende hindurch, bekennen unzählige Christen aus ganzem, tiefsten Herzen: „Mein Herr und mein Gott!“ Und die anderen, die von oben herab geringschätzig auf Jesus geschaut haben, die sagten: „Zeig uns was du kannst. Tu‘ doch mal ein Wunder. Bist du Gottes Sohn, dann steig herab vom Kreuz“? Die kamen zu dem Ergebnis: Jesus ist ein ganz gewöhnlicher Mensch, der Sohn des Zimmermanns; nichts Besonderes, im Gegenteil ein „Fresser und Weinsäufer“.

Oder die Bibel: Wer sie gewissermaßen auf Knien, mit betendem Herzen liest, der merkt, darin steckt die Liebe und der Segen und die Kraft des großen ewigen Gottes. Wer die Bibel aber von oben herab, mit kritisie-rendem Verstand betrachtet, der kommt halt zu dem Ergebnis: Die Bibel ist „eine von Menschen geschriebene religiöse Urkunde und daher zu lesen und  zu verstehen wie andere menschliche Urkunden auch“ (H. Zahrnt); nichts Besonderes, ein Buch wie jedes andere. Auch hier, das Ergebnis hängt ab von unserem Verhalten: was wir suchen, das finden wir auch.

Der Marburger Theologie-Professor Wilfried Härle hat eine „Dogmatik“ (2. Aufl., Berlin, 2000) geschrieben. Auf Seite 13 erwähnt er eher am Rande die Frage: Ist Theologie die Lehre von Gott oder die Lehre von Verkündigung und Glauben? Mit anderen Worten: Ist Theologie ein Experiment, das auf Gott hin ausgerichtet ist, das Gott erkennen will? Oder ist Theologie ein Experiment, das herausfinden will, was Menschen denken und tun, das Glauben und Verkündigung der Christen untersucht? Zugespitzt: Sucht Theologie nach Gott oder nach dem Menschen?

Seine Antwort: Es gibt ein Argument für Theologie als Lehre von Gott, aber das sei „nicht durchschlagend“; deshalb sei Theologie die „Bezeichnung der institutionalisierten, wissenschaftlichen Form der Reflexion über Inhalte der christlichen Botschaft und Vollzugsweisen ihrer Vermittlung“. Auf deutsch: Theologie untersucht, was der Mensch – zwar der christliche Mensch, aber dennoch der Mensch – denkt und redet. Theologie sucht den Menschen.

Und was Theologen auf der Suche nach dem Menschen so alles finden, konnte man im SPIEGEL nachlesen. In der Ausgabe 50/1999 (S. 130) stand ein Interview mit Andreas Lindemann, Professor für Neues Testament an der kirchlichen Hochschule in Bethel.  „SPIEGEL: Hielt Jesus sich für Gottes Sohn? Lindemann: Nein.“ An anderer Stelle: „SPIEGEL: … Also verstand auch Jesus selbst seinen Tod nicht als Sühnetod für die Sünden der Menschen … Lindemann: Davon hat Jesus in der Tat nicht gesprochen. Die Worte, mit denen er seinem Sterben Heils-bedeutung zuschreibt, sind ihm nachträglich in den Mund gelegt worden.“

In diesem Stil geht das über vier Seiten: Jesus sei nicht in Bethlehem geboren; die Weihnachtsgeschichten seien komplette Erfindungen; Jesus hat vielleicht Kranke geheilt, aber andere Wunder habe er nicht getan; er habe weder die Bergpredigt gehalten noch das Abendmahl eingesetzt noch den Missionsbefehl erteilt; das leere Grab sei eine Legende, Himmelfahrt natürlich auch. Kurz gesagt: Die Evangelien berichten nicht, was der große, allmächtige Gott durch Jesus getan hat; sondern die Evangelien seien überwiegend von Menschen erfundene Geschichten.

Besonders bemerkenswert: „SPIEGEL: Papst Johannes Paul II … behauptet, ‚dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt‘. Lindemann: „Das wird seit Jahrzehnten von keinem Ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet. SPIEGEL: Der Papst … verkündet, die Evangelien seien … ‚als historische Zeugnisse … zuverlässig‘. Lindemann: Ich kenne jedenfalls im deutschsprachigen Raum keinen Exegeten, auch keinen katholischen, der sich so äußert.“ Das ist natürlich Quatsch; selbstverständlich gibt es solche Exegeten (insbesondere an den von der Kirche nicht anerkannten Bibelschulen). Dennoch, hier schreibt einer, der es wissen muß: Er kenne keinen Theologie-Professor – weder einen evangelischen, noch einen katholischen – der glaubt, daß das, was die Evangelien berichten, tatsächlich geschehen sei.

Und als Tüpfelchen aufs i: „SPIEGEL: Herr Lindemann, wenn wir sie so hören, kommt uns der Gedanke: Was man über den Menschen Jesus weiß, ist dem christlichen Glauben im Wege. Lindemann: Das bestreite ich nicht …“. Das sagt ein Vertreter der modernen wissenschaftlichen Theologie: Der Jesus, der damals gelebt hat, und der Christus, den wir heute glauben und bekennen, seien verschiedene Gestalten; beide passen nicht zusammen. „Was man über den Menschen Jesus weiß, ist dem christlichen Glauben im Wege“.

Was wir suchen, das finden wir auch: A) findet in der realen Person, die vor 2000 Jahren im heutigen Nahen Osten gelebt hat, sowohl einen richtigen Menschen als auch Gott selbst; Jesus war wahrer Mensch und wahrer Gott. B) dagegen meint, der Christus der Bibel sei eine „kerygmatische“ Gestalt; ein geglaubter, ein gepredigter, letztlich ein erfundener Christus. Der wirkliche, der „historische Jesus“ sei nur Mensch gewesen; sicherlich ein außergewöhnlicher Mensch, aber eben doch nur ein Mensch. Das Göttliche sei ihm erst nachträglich angedichtet worden. Das hätte sich die Urgemeinde erst nach seinem Tode ausgedacht, um ihren Glauben in einer der damaligen Zeit gemäßen Form verständlich zu machen; ihn gewissermaßen mit mythologischen Bildern zu illustrieren.

Nochmals, es geht nicht darum, die einen sind die Guten und die anderen sind die Bösen. Auch wir von A) suchen und finden oft genug nicht Gott sondern uns selbst. Hier geht es nur um das Grundprinzip. Das Ergebnis hängt ab von uns, von unserem Verhalten: Was wir suchen, das finden wir auch.

A) Wenn der kleine Mensch zu dem großen Gott aufsieht, ihn sucht, ihn anbetet – dann findet er den Gott, der in die Geschichte der Menschheit eingegriffen, sich in dieser Geschichte offenbart hat; dann findet er in der Bibel bezeugt, was dieser große Gott getan und geredet hat – in der Geschichte seines Volkes, durch die Apostel und Propheten und vor allem durch seinen Sohn Jesus Christus.

B) Wenn aber der große Mensch nur sich selber anschaut; sich selber sucht, sich selber anbetet – dann wird er auch nur sich selbst, den Menschen, finden; dann sieht er in der Bibel Geschichten, die von Menschen erfunden wurden.

(Soweit ich weiß, spricht man heute in der Physik vom „Welle-Teilchen-Dualismus“. Nicht nur das Licht sondern alle Atome seien sowohl Welle – als auch Teilchen. Ähnliches sollte auch für Jesus gelten: Er war sowohl wahrer Mensch – als auch wahrer Gott; sowohl 100 Prozent Mensch – als auch 100 Prozent Gott. Genau wie die Bibel: sowohl 100 Prozent Menschenwort – als auch 100 Prozent Wort von Gott. Nicht: entweder – oder; sondern: sowohl – als auch. Die Physiker haben es inzwischen begriffen …)

III. Heil: Es war einmal – da hatte das Handwerk noch goldenen Boden. Damals gab es Schmiede, Bäcker, Schneider usw., die aus unter-schiedlichen Materialien mit unterschiedlichen Verfahren unterschiedliche Erzeugnisse herstellten. Ähnlich ist es in der Theologie. Auch hier werden aus unterschiedlichen Materialien mit unterschiedlichen Verfahren sehr unterschiedliche „Produkte gefertigt“.

Die Theologen von A) sind Zeugen. Sie finden Wahrheit vor. Was sie „gehört, gesehen, betrachtet, betastet“ (1Joh 1,1), was sie „akribisch erkundet“ (Luk 1,3) haben, das bezeugen sie. Der große Gott bzw. dessen Taten und Worte sind Norm und Vorgabe, an die all ihr Denken, Reden und Tun gebunden ist.

B) dagegen lehnt einen großen Gott ab; deshalb akzeptiert man auch keine göttliche Vorgabe, der man verpflichtet wäre. Hier ist es der große Mensch bzw. dessen Wünsche und Bedürfnisse, an die alles Denken, Reden und Tun gebunden ist. Hier schafft der Mensch sich seine eigenen Normen. Wahrheit wird letztlich vom Menschen „hergestellt“. B)-Theologen sind Erzeuger.

Und genau dies ist der Kern der heutigen offiziellen evangelischen Theologie. Nochmals der SPIEGEL 50/1999: „SPIEGEL: Wenn sich nahezu alles, was über Jesus in der Bibel steht, als unhistorisch erwiese, könnte es ihren Glauben erschüttern? Lindemann: Nicht im Geringsten … Ich kann ihn [den Glauben] nicht davon abhängig machen, was wir historisch forschenden Theologen jeweils feststellen.“ Und weiter: „SPIEGEL: War das Grab denn leer? Lindemann: Das weiß ich nicht. Aber selbst wenn das Grab und Reste des Leichnams Jesu gefunden würden, würde dies meinen Glauben an die Auferweckung Jesu durch Gott nicht berühren.“

Dies läuft letztlich auf eines hinaus: Die geschichtlichen Fakten sind eine Sache, der christliche Glaube ist eine andere. Beides hat im Grunde wenig miteinander zu tun. Der christliche Glaube ist nicht abhängig von historischen Tatsachen, sondern er ist ein Produkt menschlicher Phantasie. Er wurde von der Urgemeinde bzw. den ersten Theologen frei erfunden. Oder mit anderen Worten, nochmals der „SPIEGEL: … Rudolf Augstein hat … folgenden Kernsatz formuliert: ‚Nicht, was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion … bestimmt.‘ Stimmen Sie dem zu? Lindemann: Ich würde es nicht so apodiktisch formulieren, aber im Prinzip kann ich diesem Satz zustimmen …“

Der bekannte Theologe R. Bultmann hatte diese Haltung auf die Spitze getrieben. Er war (H. Zahrnt „Die Sache mit Gott“; DTV 1982, S. 273) „der Meinung, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können“. Folglich war hielt er das, was damals tat-sächlich geschehen ist, für belanglos. Er soll gesagt haben (S. 274): „es möge gewesen sein, wie es wolle“. Seine Nachfolger sind wieder etwas zurückgerudert; dennoch auch sie sagen letztlich nichts anderes. Z. B. schreibt Prof. W. Härle in seiner Dogmatik (S. 305): Das Bild des Menschen Jesus von Nazareth sei „durch die – notwendigen – Vermittlungen und Interpretationen der Ãœberlieferung ausgeschmückt und verändert worden“.

Und dieses „Ausschmücken und Verändern“ ist kein abgeschlossener Prozeß, sondern dauert an bis heute. Das ‚Erzeugen von Wahrheit‘ gilt als Kernkompetenz und Hauptaufgabe evangelischer Theologie. Deren zentraler Begriff lautet halt „Interpretation“: Die biblischen Texte werden übernommen, ihre Aussage, ihre Bedeutung aber werden vom Wortsinn, vom „Buchstaben“, losgelöst und den aktuellen Bedürfnissen ent-sprechend jeweils neu „erzeugt“ bzw. erfunden. In die alten Worte werden neue Inhalte gefüllt, in die alten Schläuche neuer Wein, in die alte Kirche immer wieder neues, anderes Evangelium.

Für A) dagegen dauert das „Vorfinden von Wahrheit“ noch immer an. Gott redet und handelt bis heute. Der große, allmächtige Gott will auch heute eingreifen in die Geschichte und zwar in die ganz persönliche Geschichte eines jeden Menschen. Und das geschieht dort, wo der historische, der wirkliche, der auferstandene Jesus persönlich „mitten unter uns ist“ – und durch seinen Geist Menschen buchstäblich „begegnet“, ihnen „Heil widerfahren“ läßt, ihr Leben von Grund auf verändert. Der Auferstandene selbst ist – auch heute – „die Wahrheit“; er ist der Maßstab, an dem die gesamte A)-Theologie hängt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5).

Hinzu kommt: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Der Mensch sucht etwas, woran er sich halten, sich in der Not festklammern kann. Der Glaube braucht einen Haken, einen festen Punkt, an den er sich hängen kann. A) sucht diesen Halt im „Wort Gottes“, in der Bibel. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24, 35). „Es steht geschrieben!“ ist das Fundament, auf das der A)-Glaube sich stellt. Und durch diese Worte hindurch klammert er sich an den, der für mich gestorben ist. Und in Christus hänge ich am ewigen, allmächtigen Gott.

B) dagegen lehnt verbindliche Vorgaben ab. Folglich kann auch die Bibel keinen festen, belastbaren Halt bieten. Also muß der B-Glaube einen anderen Aufhänger suchen. Auch den bringt Bultmann wieder auf den Punkt (H. Zahrnt, a.a.O. S. 263): „Das Wort der Verkündigung ist der Grund des Glaubens, es ist sein einziger Grund.“ Und weiter (S. 259): „Die Predigt gehört zum Heilsgeschehen hinzu, sie selbst ist das Heilsgeschehen.“ Hier soll der Glaube sich hängen an den Prediger; soll Halt finden in dem, was der jeweilige Pfarrer sich ausdenkt und von der Kanzel verkündet. In der Not, im Leben und im Sterben, soll ich mich klammern an das, was das historisch-kritische Theologenhirn erzeugt.

Zugespitzt heißt das: A) glaubt, durch die Bibel hindurch ist „Christus uns gemacht von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung“ (1Ko 1,30). B) meint im Kern, „der Theologe hat sich gemacht zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung“. Bei A) dreht sich alles um die – in der heiligen Schrift bezeugte – Person des Auferstandenen; hier glaubt man an Jesus Christus; bei B) dreht sich alles um die Person des Theologen; dort soll man letztlich an seinen Pfarrer glauben. Kurz: für A) gilt allein Christus und allein die Bibel, „solus Christus“ und „sola scriptura“; bei B) zählt allein der Theologe und dessen Wort, „solus theologus“ bzw. „solo verbo“.

In der Folge sucht A) ein „Heil“, das direkt von Gott kommt, das buchstäblich übernatürlich, nicht von dieser Welt ist. A) bittet um Trost, Hilfe, Kraft, Segen … die menschliche Möglichkeiten weit übersteigen; um einen „Frieden, der höher ist denn alle Vernunft“. Gott selbst „heilt“ den Menschen – und wirkt durch ihn hindurch heilend in die Welt hinein. Deshalb lautet der Kernsatz des A)-Glaubens bzw. sein größtes Gebot: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Hier geht es um Gott und den Menschen, um Gott und die Welt.

B) dagegen sucht ein „Heil“ zu verwirklichen, das Menschen sich ausdenken; sucht das umzusetzen, was Theologen unter einer „heilen Welt“ verstehen. Die höchsten Ziele heißen hier: „Frieden, Gerechtigkeit, Umweltschutz“. D. h., es geht letztlich nur um den Menschen bzw. nur um die Welt. Wobei man sich weniger um das „Heil“ des Einzelnen müht sondern um die Verhältnisse, die Lebensbedingungen, eben um eine „heile Welt“. Z. B. sollte beim Kirchentag in Bremen 2009 „die weltweite Wirtschaftskrise im Zentrum … stehen“; man wollte „den Sinn für Verantwortung schärfen“ und „neue, ‚eben menschliche Maßstäbe‘ für die Gesellschaft … finden“ („DIE+Kirche“ 3/09). Eine – im eigentlichen Sinne – religiöse Botschaft ist von den Kirchentagen nicht zu hören.

Wohlgemerkt: Diese Haltung wird oft genug in eine fromme Sprache gewickelt. Dann werden „Christus“ und „der Geist Gottes“ leicht zu Aktivisten, die immer haargenau die Weltverbesserungs-Pläne unterstützen, die gerade aktuell sind. Und „Gott“ erinnert an einen Wunschzettel zu Weihnachten: wie auf einem leeren Bogen Papier werden ihm all die Eigenschaften und Absichten zugeschrieben, die B) sich wünscht. Doch auch wenn diese religiöse Verpackung geschickter erfolgt, bleibt im Kern der grundlegende Unterschied: Bei A) will Gott den einzelnen Menschen heilen und durch ihn hindurch die Welt verbessern; bei B) will der Mensch die Welt heilen und dadurch dem einzelnen Menschen ein besseres Leben ermöglichen.

Nochmals: dies alles soll nicht heißen, die einen sind die Guten und die anderen die Bösen. Auch wir von A) predigen oft genug „uns selbst“, sprich: von Gott losgelöste fromme Theorien; d. h., wir bleiben Lichtjahre hinter unseren Ansprüchen zurück. Dennoch bleibt der grundlegende Unterschied:

A) nutzt als „Material“ die Worte und Taten Gottes, vorgegeben in der Geschichte seines Volkes Israel, in seinem Sohn (dem historischen Jesus), in seinem Wort (der Bibel) und heute durch seinen Geist, um mit dem Verfahren Bezeugen, Dienen, Haushalten (1Ko 4,1) als Produkt ein von Gott geschenktes, überweltliches, ewiges „Heil“ zu vermitteln.

B) dagegen nutzt als Material den menschlichen Geist, die menschliche Intelligenz, die menschliche Phantasie um mit dem Verfahren Interpretation, Ausdenken, Erfinden, Erzeugen als Produkt eine „heile Welt“ zu schaffen, d. h. ein zeitliches, innerweltliches, von Menschen gemachtes „Heil“ (gern „Schalom“ genannt).

In Klammer: Manche Vertreter von B) sehen in ihrem großartigen Schaffen etwas mitleidig auf das eher unscheinbare Dienen ihrer Kollegen von A) herab. Z. B. gilt die Ausbildung an den von A) verantworteten Bibelschulen als „unwissenschaftlich“ und wird in unserer Kirche nicht anerkannt. Auch liest man in der kirchlichen Presse mitunter Bemerkungen wie: die von A) seien „eher einfach gestrickt“ (DIE+KIRCHE) oder sie hätten „den Verstand an der Kirchentür“ abgegeben (Zeitzeichen) usw. D. h., die Vertreter von A) gelten im Theologen-Olymp als ein wenig beschränkt.

Umgekehrt ist es mir schleierhaft, wie intelligente Menschen ihr ganzes Leben solch sinnloser Hirnakrobatik widmen können? Oder wie sie mit den leeren, selbstgestrickten B)-Theorien die Kirche erhalten wollen? A) und B) sind halt völlig unterschiedliche Welten. Klammer zu.

IV. Rechtfertigung: Es dürfte eine Binsenweisheit sein: die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte. Auch ich bin nicht so, wie ich sein sollte. Und das gilt für alle Menschen: Der heilige Gott hätte allen Grund, uns aus seinem Reich auszuschließen; Abstand zu wahren; uns auf Distanz zu halten. Auf einer Distanz wie zwischen Sonne und Mücken: der Abstand der Sünde.

Um diesen Abstand zu überwinden, braucht es ein gewaltiges, alles veränderndes Geschehen: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16). Jesus Christus hat am Kreuz diese unendliche Distanz zwischen Gott und Menschen überwunden; er hat eine Brücke gebaut, einen Weg gebahnt. Der Mensch kann den Weg über diese Brücke gehen durch Glauben; und zwar allein durch Glauben, „sola fide“. Dieser Grundsatz ist offenbar so wichtig, daß die ehemalige Landeskirche der Kirchenprovinz Sachsen ihn seinerzeit in ihre Grundordnung (Kirchenverfassung) aufgenommen hatte (Vorspruch 3): Die Kirche „bekennt … daß Jesus Christus allein unser Heil ist … empfangen allein im Glauben.“

Soweit Rechtfertigungslehre A); nun zu Rechtfertigungslehre B). Die klingt sehr ähnlich, besagt aber etwas völlig anderes. Zum Beispiel: In Magdeburg gibt es das Domgymnasium, eine „christlich orientierte Schule in freier Trägerschaft“. In der Schulschrift 2003/5 schrieb ein Religionslehrer zur Frage „Woran zeigt sich, daß unsere Schule eine christliche Schule ist?“ Dort heißt es (unter Berufung auf Prof. W. Härle): Das christliche Menschenbild beruhe auf der „Rechtfertigung des Menschen vor Gott … Luther definiert den Menschen als justificari fide (aus Glauben gerechtfertigt)“.

Oder: Prof. E. Jüngel ist der derzeit wohl bekannteste evangelische Theologe in Deutschland. 2002 hat er vor dem Bioethik-Kongreß in Berlin – also vor nichtchristlichem Publikum – Thesen vorgestellt „Zum christlichen Verständnis des Menschen aus theologischer Sicht“. In These 4 heißt es: „Als gerechtfertigter Sünder bleibt er [der Mensch] die [unwiderruflich] von Gott bejahte und anerkannte Person“ (www.ekd.de).

Oder: Am 02. Juni 2008 hat die Bischofskonferenz der VELKD eine Erklärung veröffentlicht „Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott“. Darin heißt es: „Nach christlicher Ãœberzeugung ist der Mensch … von Gott bejaht, geliebt, anerkannt, und das heißt: gerechtfertigt“.

Daß es Menschen geben könnte, die nicht (aus Glauben) „gerechtfertigt“ sind, wird dabei weder vom Religionslehrer noch von Prof. Jüngel noch von den lutherischen Bischöfen erwähnt. Diese Möglichkeit wird nicht in Betracht gezogen; im Gegenteil, Prof. Jüngel schreibt an anderer Stelle („Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens“, Mohr Siebeck 1998, S. 227f), Menschen würden „auch im schlimmsten Fall“ die „unzerstörbare Würde einer von Gott gerechtfertigten menschlichen Person“ besitzen.

Für A) braucht es zur Rechtfertigung Gnade und Glauben, „sola gratia“ und „sola fide“; Joh 3,36: „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihn.“ Hier gibt es eine Trennung zwischen „gerechtfertigt“ und „nicht gerechtfertigt“; eine Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen gerettet und verloren, zwischen ‚Reich Gottes‘ und ‚der Welt‘, zwischen Himmel und Hölle.

Für B) dagegen hat der Glaube praktisch keine Bedeutung. Dort gilt nur „sola gratia“. Dort ist ‚der Mensch an sich‘, d. h. jeder Mensch, aus Gnaden gerechtfertigt. B) kennt kein „Entweder – Oder“, keine Trennung, keine Grenze. Dort existiert nur ein einziges großes Ganzes; man glaubt nur drinnen, nur gerettet, nur Himmel und Reich Gottes.

Mit anderen Worten: Gnade heißt, eine nach geltendem Recht gebotene Strafe wird erlassen. Unschuldige brauchen keine Gnade; sie können Gerechtigkeit verlangen. Der Schuldige jedoch ist auf Gnade angewiesen. Allerdings, er hat keinerlei Anspruch darauf; er kann sie weder fordern noch erstreiten noch erkaufen. Sein Schicksal liegt einzig und allein in der Hand dessen, der begnadigen kann. Der Schuldige ist vollkommen abhängig von ihm und seiner Entscheidung.

Doch genau das will B) nicht akzeptieren. Deshalb wird „Rechtfertigung“ konstruiert als eine Art göttliche Generalamnestie, durch welche die gesamte Menschheit ein für alle Mal unwiderruflich „aus Gnaden gerechtfertigt“ sei. Zorn Gottes, strafende Gerechtigkeit, verurteilendes Gericht oder gar ewige Verdammnis werden ausgeschlossen. Kurz: B) legt Gott fest; läßt ihm keine Wahl; nimmt ihm jeden Entscheidungsspielraum: Er wird zum Gnädigsein gezwungen, zum Begnadigen verurteilt; Gott wird zum Gnade Gewähren regelrecht verdammt. Anders ausgedrückt: in der B)-Rechtfertigungslehre eignet der Mensch sich die Gnade an; er schreibt sich Rechtfertigung als unzerstörbaren, unverlierbaren Besitz fest; der Mensch stellt sich selbst einen „unwiderruflichen“ modern-theologischen Ablassbrief aus, der die Vergebung sämtlicher Sünden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft garantiert.

Noch eines: ‚Begnadigung‘ kann nicht verdient werden. Dennoch sollte der Schuldige schon deutlich machen, 1.) daß er seine Schuld bereut. „Gott, sei mir Sünder gnädig“, sagte der Zöllner im Gleichnis und ging gerechtfertig hinab; nicht aber der Pharisäer, der meinte, diese Haltung nicht nötig zu haben. Und 2.) daß er, der Schuldige, gewillt ist, „hinfort nicht mehr zu sündigen“ d. h. die geltende Rechtsordnung anzuerkennen. Er sollte – mit Paulus gesprochen (Phil 2,10f) – „die Knie beugen in dem Namen Jesu und bekennen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Deshalb spielt „Buße“ für A) eine entscheidende Rolle. „Da unser Herr und Meister spricht: ‚Tut Buße‘ usw., hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei …“, beginnt Luther die Geburtsurkunde unserer evangelischen Kirche. B) dagegen empfindet das Ansinnen, vor einem gerechten, heiligen und deshalb auch konsequenten Gott die Knie beugen zu müssen als „mörderischen Alptraum“ (Drewermann). Deshalb schafft man sich halt eine Rechtfertigungs-Theologie, die „Buße“ vor Gott überflüssig macht.

Falls dann Fragen aufkommen wie Apg 2,37 „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“ oder Apg 16,30 „Was soll ich tun, daß ich gerettet werde?“, so antwortet A): Ja, du mußt und du kannst etwas tun – nämlich „Buße … zur Vergebung deiner Sünden“. Heute ist der Tag deines Heils! Heute kann dir Heil widerfahren! Darum, bitte, komm herüber über die Grenze; lasse dich versöhnen mit Gott: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig“.

B) dagegen hat dafür kein Verständnis. Dort müßte die Antwort lauten: Kein Grund zur Sorge, du bist schon gerettet, d. h. gerechtfertigt; deine Sünden sind dir vergeben; du bist mit Gott versöhnt. Du brauchst dazu nichts tun. Dies alles ist unwiderruflich unzerstörbare Wirklichkeit für dich. Deshalb muß heute nichts mehr geschehen. Mit dir ist alles in Ordnung!

Mit anderen Worten: Bei A) ist Rechtfertigung „Konjunktiv“; eine Möglichkeit, die „allein durch Glauben“ zur Wirklichkeit wird. Für B) ist Rechtfertigung „Indikativ“ (Jüngel); eine für jeden Menschen „unzerstörbare“ Wirklichkeit. Oder wie Bonhoeffer es formuliert: bei A) ist Rechtfertigung „Resultat“; für B) ist sie „prinzipielle Voraussetzung für eine Kalkulation“.

Auch hier geht es nicht um die Guten oder die Bösen. Auch bei A) ist die Grenze oft genug nur leere Theorie; bzw. uns fehlt die geistliche Kraft, Menschen über diese Grenze zu helfen. Dennoch, in diesem Punkt müssen die Vertreter von B) sich fragen lassen, ob ihnen nicht genau die Jacke paßt, die ihre Kollegen bereits vor 2000 Jahren anziehen mußten: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr gehet nicht hinein, und die hinein wollen, die laßt ihr nicht hineingehen“ (Mt 23,13)? Das ist die große Frage an Jüngel, Härle und Kollegen: „Die hinein wollen, laßt ihr nicht hinein – weil ihr sagt: Friede, Friede und ist doch kein Friede!“?

Und B) muß sich die Frage gefallen lassen: Wenn alle Menschen vor Gott gerecht sind – wozu soll man sie dann noch missionieren? Wozu braucht es dann noch eine Kirche? Mit ihrem bequemen, Buß-losen Glauben rauben die B)-Theologen der kirchlichen Arbeit Ziel und Motivation. Sie betten den Menschen (bzw. sich selbst) in eine sichere, „unzerstörbare“ Gnade – doch unsere Kirche geht daran kaputt. Bonhoeffer ist heute aktueller denn je: „Die billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche“.

In Klammer: 1. Falls jemand diese Ausführungen ins Reich der Märchen verweist, der lese bitte das Grundsatzreferat von Prof. Jüngel vor der EKD-„Missionssynode“ 1999. Finden sich dort Hinweise auf eine Grenze zwischen „gerettet und verloren“? Finden sich dort Begriffe [bzw. ‚die Sache dahinter‘] wie „Rettung“, „Buße“, „sola fide“ . . . ? Oder betont er da: „Das ist der souveräne Indikativ des Evangeliums: dass die ganze Welt bereits im Licht der Gnade Gottes existiert, dass also auch der noch nicht ‚missionierte‘, dass auch der noch nicht ‚evangelisierte‘ Mensch bereits vom Licht des Lebens erhellt wird“?

2.  Immerhin, Jüngels Aussagen sind völlig korrekt und zutreffend – für Adam und Eva im Garten Eden. Daß aber inzwischen der Sündenfall eingetreten ist, scheinen die B)-Theologen nicht bemerkt zu haben. Folglich treiben sie eine Paradies-Theologie, die die Sünde ignoriert. Klammer zu.

V. Sprache: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie … und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Mt 28,19f). Der Ruf nach „Mission“ tönt derzeit bis in die letzten Winkel unserer Kirche. Zu diesem Zwecke will A) das Evangelium möglichst klar und eindeutig predigen. Man schaut dem Volk aufs Maul, um ihm „die großen Taten des HERRN“ verständlich bezeugen zu können. Das Volk soll genau verstehen, wovon die Rede ist. Es soll wissen, was es glauben kann und was nicht; wofür oder wogegen es sich entscheiden muß. Die Mücken sollen verstehen, was der große, allmächtige Gott ihnen zu sagen hat; welch ungeheure Bedeutung seine Worte haben; was dabei auf dem Spiel steht: buchstäblich ewiges Leben oder ewiger Tod.

Bei B) dagegen hat man ein Problem. Wenn deren Ãœberzeugungen für jedermann verständlich formuliert würden, gäbe es Ärger. Wenn z. B. laut gesagt würde: Wir glauben nicht „an Gott … den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erden“; oder: Wir glauben nicht „geboren von der Jungfrau Maria“; oder: Wir glauben nicht „am dritten Tage auferstanden von den Toten“ usw., dann gäbe es gewaltige Schwierig-keiten mit dem Papst, in der Ökumene und in den eigenen Gemeinden. Und man stünde nackt und bloß in der Öffentlichkeit: Wer braucht schon eine Kirche, die nichts anderes predigt als die säkulare Umwelt auch?

Also läßt man sich etwas einfallen. Nochmals der „SPIEGEL: Dass die Jungfrauengeburt nicht historisch ist, ist feste protestantische Ãœberzeugung … Ist es für Sie ein Problem, einerseits überzeugt zu sein, dass es keine Jungfrauengeburt gegeben hat, und andererseits das Glaubensbekenntnis zu sprechen: ‚geboren von der Jungfrau Maria‘? Lindemann: Nein, überhaupt nicht …“ (SPIEGEL 50/99, S. 134). Hier bestätigt ein Theologie-Professor in der Presse: Unser Glaubens-bekenntnis ist sachlich falsch. Wir Protestanten glauben selber nicht, was wir Sonntag für Sonntag in unseren Gottesdiensten öffentlich bekennen. Wir bezeugen einen Glauben, den wir gar nicht haben. Wir denken „Jungfrau falsch“, bekennen aber „Jungfrau richtig“; wir glauben „nein“, aber wir bezeugen „ja“; wir meinen „schwarz“, aber wir sagen „weiß“.

Dieser Geisteshaltung begegnet man in unserer Kirche auf Schritt und Tritt. Der unter I. zitierte Student Florian Dieckmann dürfte inzwischen Vikar bzw. Pfarrer sein. Als solcher zieht er sich einen Talar an, tritt vor die Gemeinde und spricht mit lauter Stimme: “Ich glaube an Gott …“ Und im Stillen denkt er: Der Thron im Himmel ist leer; da sitzt keiner, der regiert.

Oder: Professor Lindemann behauptet im SPIEGEL, das leere Grab sei eine Legende; d. h. er und viele seiner Kollegen sind überzeugt, Jesus sei im Grab verfault wie jeder andere Mensch auch. Und dennoch bekennen sie alle: „Ich glaube … an Jesus Christus … am dritten Tage auferstanden von den Toten.“

Oder: Der sächsische Bischof verschickt Rundschreiben an seine Pfarrer und Gemeinden. Im Sommer 2006 war dem ein „hilfreicher Vortrag“ der Leipziger Theologie-Professorin G. Schneider-Flume beigefügt „Jesus Christus als Mitte der Schrift“. Darin heißt es: „Aberglaube wirft sich auf die Ãœbermacht – sei es in der Höhe oder in der Tiefe, die Macht, die ‚alles kann‘. Das ist die Allmacht des Selbst, oder die Projektion des Allesmacher-Gottes, die Macht der Wünsche und des Sehnens“. Auch hier: Bischof und Professorin bekennen „Ich glaube an Gott … den Allmächtigen“ – und im Stillen denken sie, das sei Aberglaube.

Wenn ein Mensch seine Seele aushaucht, stirbt er. Bei B) haben die Worte ihre Seele verloren. Gott, der Allmächtige, Schöpfer, Jungfrau, Auferstehung, Heiliger Geist, Vergebung der Sünden … bis hin zur Auferstehung der Toten und dem ewigem Leben. Sie alle werden ständig benutzt, aber sie sagen nichts mehr. Diese Worte sind leer und tot. Und mit den Worten hat auch die Sache ihre Seele verloren. Der Glaube ist kaum mehr als ein leeres Gefäß: fromme Formeln ohne Inhalt, ohne Leben, ohne Kraft. Alle sprechen das gleiche Bekenntnis, doch das hat jeden Wert verloren. Es ist „dumm geworden“ (Mt 5,13). Es wurde auf die Straße geschüttet und wird von den Leuten zertreten. Jedermann kann es benutzen, sprich: deuten, wie er oder sie es gerade braucht.

Nicht zu vergessen: B)-Theologen sind intelligent! Sie wissen sich darzustellen. Sie wissen genau, was das jeweilige Publikum hören will. So können sie praktisch jedermann ‚besoffen reden‘. Doch genau das ist das Problem. Unsere Kirche wirkt wie ‚besoffen‘: Nüchterne, auf die Gemeindepraxis bezogene Theologie findet kaum noch statt. Selbst in den einfachsten Fragen des Glaubens herrscht (weithin) Unsicherheit oder schlicht Schweigen. Die erdrückenden theologischen Probleme werden nicht angepackt geschweige denn geklärt. Es wird zwar viel und fromm geredet – doch hinter all den schönen Worten breitet sich die tödliche Leere immer weiter aus.

Zum Beispiel das „Wort Gottes“. A. Noack, Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, sagte in Bibel-TV (vor eher frommen Publikum): „Für mich ist die Bibel Gottes Wort“.

Kirchenpräsident P. Steinacker in Hessen und Nassau dagegen meint (zeitzeichen 11/05, S. 39;  vor eher liberalen Lesern): „das Wort Gottes ist kein Buch sondern ein lebendiges Geschehen“.

Fachtheologen bieten häufig eine dritte Variante an: „Die Bibel ist nicht Gottes Wort, aber sie enthält Gottes Wort“. So warnt der badische Landesbischof U. Fischer vor „einem ’naiven Biblizismus‘, der das Wort Gottes mit den Worten der Bibel gleichsetze. Vielmehr lasse sich in einem mehrstufigen Verfahren aus theologischen, historischen und soziolo-gischen Einsichten ein ethisches Urteil gewinnen, ‚das beanspruchen kann, an dem aus der Bibel zu uns sprechenden Wort Gottes orientiert zu sein'“ (badische Synode im April 2012; nach www.idea.de).

N. Schneider, Präses der rheinischen Landeskirche und EKD-Ratsvorsitzender, ist etwas großzügiger. Im Blick auf den Kirchentag (ideaSpektrum 13. 06. 07) sagte er: „Das Wort Gottes ist die Klammer, die die Fülle der Veranstaltungen umschließen soll.“ Fernsehpfarrer Fliege, der Dalai Lama, Muslime, jüdische Schriftgelehrte, PDS-Atheisten … – sie alle werden von „der Klammer des Wortes Gottes“ umschlossen?

Kurz: in der großen, bunten EKD scheint jeder Bischof über ein eigenes „Wort Gottes“ zu verfügen?

Oder wenn der Papst meint, die Evangelischen seien keine richtige Kirche. Dann stehen diese trutzig auf und protestieren: Kirche sei dort, „wo das Evangelium rein gepredigt“ werde. Sehr schön und sehr lutherisch! Doch wer prüft denn nach, ob in den evangelischen Gottesdiensten das Evangelium tatsächlich „rein“ gepredigt wird? Und vor allem, was heißt das überhaupt: „Evangelium rein predigen“? Was genau unterscheidet denn reines Evangelium von unreinem, von schmutzigem Evangelium?

Der ehemalige Wolfsburger Superintendent Dr. H. Koch ist wahrhaft kein Pietist. Dennoch schreibt er in „Die Kirchen und ihre Tabus“ (2006, Patmos Verlag Düsseldorf) auf Seite 81: „Man bringt ‚Das Evangelium‘ immer dann ins Spiel, wenn dessen Autorität als das Wort Gottes einem kirchlichen Anliegen besonderes Gewicht verleihen soll. Da sie so gut wie nie mit Inhalt gefüllt wird, eignet sich die Worthülse ‚Evangelium‘ bestens dazu, wie ein Nagel benutzt zu werden, den man bei Bedarf in die Wand schlägt, um ein jeweils anderes, aber in den jeweiligen Zusammenhang passendes Bild aufzuhängen.“ Auf deutsch: das evangelische Kirchenverständnis ist (heute!) kaum mehr als „verbo“-Schaum, fromm klingendes Gerede ohne ernsthafte Aussage.

Eine solche Nagel-Rolle scheinen inzwischen alle Grundworte des Glaubens zu spielen. Sie alle haben keine verbindliche inhaltliche Substanz mehr. Letztlich kann jeder Theologe damit ausdrücken, was er will; oder eben seine je eigenen Wünsche und Theorien daran aufhängen. So hat kirchliches Reden (heute!) ein trauriges Gefälle: von klaren Worten hin zu trüben Sprachnebeln, von eindeutigen Aussagen zu verschwommenen Andeutungen, vom Inhalt zur Form, vom Sein zum Schein, vom Suchen bzw. Bezeugen von Wahrheit hin zur Selbstdarstellung; kurz: ev. Kirche “plappert wie die Heiden“: es wird viel geredet, aber kaum noch etwas gesagt.

Wohlgemerkt: Auch bei A) redet man oft genug frommes Fach-Chinesisch bzw. unverständliches Kanaanäisch; wir sprechen oft von Gott und meinen doch nur uns selbst, unser frommes Ego. Dennoch, hier in diesem Punkt geht es tatsächlich darum: Die einen sind die Guten und die anderen die Bösen! Denn die von B) tun Unrecht: Sie sind Diebe. Sie stehlen Zeichen; sie stehlen Worte; sie stehlen Sprache. Genauer: Sie stehlen Gefäße mit der Aufschrift „Gott“; doch den gießen sie aus und füllen stattdessen „Mensch“ hinein. Das Ganze verkaufen sie dann als „reines Evangelium“.

„Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, welches ist die Heuchelei“ (Luk 12,1). Dieser Sauerteig trägt heute die vornehm-wissenschaftliche Bezeichnung „Interpretation“ und genau die ist wie ein Krebsgeschwür, das Sprache, Theologie und Glauben zerfrisst. Die „Kirche des Wortes“ lebt von der Klarheit ihrer Sprache – und wenn die Worte sterben, stirbt die Kirche mit ihnen. Die von B) verursachte babylonische Kirchen-Sprachverwirrung, sprich: die Interpretations-Heuchelei, ist durch nichts, aber auch gar nichts, zu entschuldigen!

In Klammer: Es könnte sein, daß jemand überzeugt ist, der Eiffelturm stünde in Berlin. Dann würde er diese seine Meinung u. U. aus tiefsten, ehrlichen Herzen vertreten. Dennoch ist sie falsch. Und eine falsche Überzeugung bleibt falsch, auch wenn sie tausendfach geglaubt und wiederholt wird.

Theologen haben „Interpretation“ mit der akademischen Muttermilch aufgesogen. Folglich sind viele von ihnen zutiefst überzeugt, Gott, Kirche und Menschheit einen Dienst zu erweisen, wenn sie Bibel und Bekenntnis umdeuten. Dennoch, die deutsche Sprache ist eine recht eindeutige Sprache: Ja heißt ja und nein heißt nein; richtig meint richtig und falsch meint falsch, Jungfrau bedeutet Jungfrau und Etikettenschwindel ist Etikettenschwindel. Wenn man Worte der deutschen Sprache in einem anderen Sinne verwendet, als ’normale Menschen‘ sie verstehen, dann ist das Betrug! Klammer zu.

VI. Wahrheit: In Württemberg wird die Synode der Landeskirche in den Gemeinden direkt gewählt. Folglich bietet diese Synode – als einzige in der EKD – ein realistisches Abbild der Situation in dieser Kirche; sprich: es gibt u. a. je eine starke Fraktion von A) und von B), „Lebendige Gemeinde“ und „Offene Kirche“. Anfang 2002 bat der damalige – in der EKD ebenfalls einzige – A)-Bischof die Synodalen, nach einem „theologischen Grundkonsens“ zu suchen; d. h. „in allgemein verständlicher Weise die Inhalte evangelischen Glaubens“ darzustellen. Das wurde versucht – und scheiterte. Die Mitglieder der Synode einer Landeskirche konnten sich nicht darauf einigen, was sie denn gemeinsam glauben!

Dies konnte so nicht im Raum stehen bleiben. Also wurde ein zweiter Versuch gestartet. Heraus kam „Daran glauben wir“; zehn Merksätze mit kurzen Erklärungen, von „Gott der Schöpfer“ bis „Die neue Welt – Gottes Zukunft für uns“. Der Autor hat sie gelesen – und nichts gefunden, worüber er hätte meckern können. Er findet sonst immer was, hier aber nichts, absolut nichts. Aber: er hat auch nichts gefunden, das sich ihm eingeprägt hat, das ihn bewegt oder geholfen hat. Es ist ein runder, glatter Text ohne Ecken und Kanten. Er wurde zwischen A) und B) so lange gerieben, bis alle Substanz aufgeweicht und jedes Profil abgeschliffen war.

Wohlgemerkt: der Versuch war wichtig und aller Ehren wert(!), auch ist das Ergebnis nicht schlecht. Dennoch, man hätte auch anders verfahren können, nämlich Gemeinden und Öffentlichkeit aufklären, ihnen die Wahrheit sagen: „In unserer Landeskirche begegnen sich zwei unterschiedliche Religionen; folglich existieren auch zwei unterschiedliche Theologien und zwei unterschiedliche Formen von Glauben. Beide Seiten vertreten gegensätzliche Ãœberzeugungen und sind nicht zu vereinbaren: A) glaubt das und das; B) glaubt dies und jenes; in den Punkten sind wir grundsätzlich verschiedener Meinung; in jenen Fragen gibt es einige Gemeinsamkeiten.“

Man hätte dies tun können im Vertrauen darauf, daß „Wahrheit frei macht“: frei zu gegenseitigem Verstehen, zu eigenem Denken, zu bewussten Entscheidungen. Doch genau dies scheint unsere Kirche zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Also werden die Gegensätze übertüncht, die offenen Fragen vernebelt, die Probleme schöngeredet. Man verrührt beide Religionen und sucht ein harmonisches Miteinander zu demonstrieren. Doch solch ein harmonisches Miteinander ist ausgeschlossen. Gott akzeptiert die Herrschaft des Menschen nicht und der Mensch duldet die Herrschaft Gottes nicht. Also liegen A) und B) in einem ständigen, erbitterten Streit; einem Streit, der beide Seiten lähmt, sie aufreibt, ihnen schwersten Schaden zufügt.

Zum Beispiel: Viele Theologie-Studenten kommen aus Familie und Gemeinde von einer A)-Prägung her. Im Studium werden sie dann mit knallharter B)-Theologie konfrontiert. Doch ihnen wird nicht die Wahrheit gesagt: Die Gegensätze und Widersprüche der ev. Theologie werden verschwiegen; stattdessen werden ihnen die B)-Theorien als der einzig wahre (weil „wissenschaftliche“) christliche Glaube eingebläut. D. h., die Studenten werden nicht sachlich informiert, sondern einseitig „missioniert“ (richtiger wohl: manipuliert). Das Ergebnis sind oft genug theologisch gespaltene Persönlichkeiten, geistliche Zwitterwesen: in ihnen stecken Reste von A) vermengt mit Elementen von B); von allem etwas, nur nichts richtig. In der Folge ist das A)-Lager heute nur noch ein Schatten seiner selbst.

Ähnlich ergeht es den Neutralen; all denen, die irgendwo zwischen den Stühlen sitzen, vielleicht weil sie dieses Spiel nicht durchschauen: Ein wenig A), ein wenig (mehr) B), irgendwo zwischen “Gott“ und “Mensch“, weder Fisch noch Fleisch; „glatte“ Pfarrer mit einem „glatten“ Glauben ohne Ecken und Kanten, ohne innere Kraft; weder für Gott noch für den Menschen wirklich zu gebrauchen.

Die B)-Seite ist auch nicht besser dran. Sie hat zwar  – abgesehen von Württemberg – alle wichtigen Positionen in EKD und Landeskirchen fest im Griff. Doch dafür müssen ihre Vertreter sich in die Formen, in die Kleider, von A) zwängen. Und die passen einfach nicht. Wenn „Mensch“ sich selbst als „Gott“ verkauft, wirkt das wenig überzeugend: Predigten, „Wort zum Sonntag“, Andachten in Rundfunk und Presse, die unzähligen Papiere aus Synoden und Kirchenleitungen … Menschliche Klugheit mit religiösen Andeutungen garniert: nett, „glatt“, belanglos.

Diese Belanglosigkeit hat auch das Herz der evangelischen Theologie erfasst, die Rechtfertigungslehre. Zum Beispiel Prof. E. Jüngel: In dem im Kapitel IV genannten Buch bescheinigt er auf Seite 228f dem Menschen „auch im schlimmsten Fall“ die „unzerstörbare Würde einer von Gott gerechtfertigten menschlichen Person“. Auf Seite 211 dagegen hieß es noch: „In diesem Sinne ist nun noch einmal einzuschärfen, daß es allein der Glaube ist, durch den der Mensch gerechtfertigt wird, daß der Mensch sola fide eine gerechtfertigte und also neue Person wird.“ Mal B), mal A) – immer wie man es gerade braucht?

Oder: 1999 wurde die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ verabschiedet: „Die Rechtfertigung wird uns zuteil durch Christus Jesus, ‚den Gott dazu bestimmt hat, Sühne zu leisten mit seinem Blut, wirksam durch Glauben‘ … Allein durch Christus werden wir gerechtfertig … die Lehre von der Rechtfertigung … ist ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will.“ Fast zeitgleich veröffentlichte die EKD ihre amtliche Studie „Christen und Juden III“: „… das apostolische Zeugnis von der bleibenden Erwählung Israels neu entdeckt. Aus ihm ergibt sich für uns die notwendige Folgerung, dass Juden keineswegs im Status der Heilsferne und Heillosigkeit stehen.“ Mit anderen Worten: Jahrelang feilschen Lutheraner und Katholiken, ob die Lehre von der Rechtfertigung  d a s  oder nur  e i n  Kriterium ist, an dem sich „die gesamte Lehre und Praxis der Kirche“ zu orientieren hat. Und parallel dazu erstellt die EKD eine Studie, wo genau diese Rechtfertigungslehre plötzlich  g a r   k e i n  Kriterium mehr ist?

Ãœber all diesen Eiertänzen liegt stets der gleiche Geruch: gegenüber den Katholiken will man sich behaupten; also gibt man sich stramm lutherisch und führt die A)-Theologie wie eine Kriegsfahne ins Feld. Im inner-evangelischen oder säkularen oder interreligiösen Bereich zeigt man seine wirklichen Ãœberzeugungen; da wird das B)-Fähnlein im Wind des Zeitgeistes geschwenkt. Satirisch zugespitzt: Gegenüber Katholiken gilt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“; in allen anderen Fällen heißt es: „Hier stehe ich, was wollt ihr hören?“

Zum Beweis: Als die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ verabschiedet wurde, protestierten 250 Theologieprofessoren, lautstark in aller Öffentlichkeit. Bei „Christen und Juden III“ war von Protesten nichts zu hören. Offenbar gilt im Umgang mit Katholiken: „Mücken seihen!“ und gegenüber Juden: „Kamele schlucken!“ (s. Mt 23,24).

Evangelische Theologie hat kaum noch eigene Substanz, sondern erschöpft sich weithin in opportunistische Taktiererei – hinter der sich aber oft genug knallharte B)-Interessen verstecken. Sprich: die Kirche wird scheibchenweise theologisch ausgehöhlt und umgepolt. (Dies läßt sich derzeit sehr gut beobachten an den Beispielen „Opfertod Jesu“ und „Homo-Ehe im evangelischen Pfarrhaus“.)

Das Ergebnis: Seit 1945 haben die ev. Kirchen in Deutschland mehr als 50 Prozent ihrer Mitglieder verloren; Kirchengebäude müssen aufgegeben werden; die EKD verliert ihren Einfluß in der Gesellschaft; das Impulspapier beschwört eine düstere Zukunft … Allerweltsweisheiten in religiöses Gehabe verpackt passen nicht mehr in die Zeit

Genug davon. Der tödliche Virus, der unsere Kirche langsam zerstört, heißt nicht Geldmangel oder Unglaube der modernen Umwelt oder was auch immer – sondern es ist der unüberwindliche Graben zwischen A) und B); die unselige Vermengung letztlich zweier, sich gegenseitig ausschließender Religionen; das ständige Hinken auf beiden Seiten (1Kö 18,21), das fortwährende Pendeln zwischen „Gott“ und „Mensch“ – und die daraus folgende „Glätte“; sprich: die unendlich-bodenlose Leere evangelischer Theologie.

Kurz; Off 3,15: „Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“

In Klammer: Bei der EKD hat man jetzt die Lösung gefunden: „Qualität“! Was wohl heißen soll: Jetzt krempelt B) die frommen Ärmel hoch und wird allen zeigen, wie erfolgreich Kirche gemacht wird? Na dann viel Glück, liebe EKD! Klammer zu.

VII. Kirchenpolitik: Ãœber die Gegensätze und Spannungen zwischen A) und B) deckt unsere Kirche einen dicken, schweren Mantel des Schweigens. Darüber spricht man nicht. Doch an einer Stelle kocht der Konflikt immer wieder hoch: dort wo Glaube konkret werden muß; wo Dogmatik zur Ethik, wo Theologie zur „Kirchenpolitik“ wird. Das begann wohl mit der Frauenordination, setzte sich fort über Abtreibung, Embryonen-Schutz … und entzündet sich heute an der Homosexualität.

Damit aber ist ein Punkt erreicht, wo es langsam kritisch wird. Mit den Anglikanern droht eine ganze Weltkirche an dieser Frage zu zerbrechen. Eben weil es dabei nicht nur um (relativ) ein paar wenige Homosexuelle geht, sondern weil hier theologische Welten im Streit liegen. Der Kampf der „religiösen Kulturen“, der zumeist im Verborgenen unter dem Teppich geführt wird, tritt bei diesem Problem offen ans Tageslicht. Es wird für jedermann sichtbar: zwischen A) und B) ist ein Kompromiss ausgeschlossen.

Sebastian Moll schreibt in seinem lesenswerten Buch „Jesus war kein Vegetarier“ auf Seite 61: „Hatte man bei der Rechtfertigung der Frauenordination noch versucht, einzelne Stellen der Schrift gegeneinander auszuspielen … so steht man nun vor dem Befund, dass die Heilige Schrift gleichgeschlechtliche Sexualität eindeutig verurteilt. Beabsichtigen diejenigen, die ein kirchliches Wohlwollen gegenüber der Homosexualität einfordern, also die Autorität der Bibel und damit die gesamte reformatorische Theologie in Frage zu stellen?“

Der Hamburger Propst Johann Hinrich Claussen erwiderte in „Christ & Welt“ 37/2011: „Leider geht Moll ein grundsätzliches Verständnis für die Dialektik des Protestantismus ab … das Wesen des Christentums … ist nicht einfach identisch mit dem Textbestand der Bibel … das eigentlich Entscheidende ist das freie Gespräch evangelischer Christen untereinander und die Art, wie sie ihr Zusammenleben gestalten.“

Das war und ist und bleibt der entscheidende Punkt: Gründet sich unser Glaube A) auf Offenbarung, sprich: auf ein Fundament, das uns von Gott ‚objektiv vorgegeben‘ ist? Oder ist er B) das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, letztlich von Verhandlungen? Zugespitzt: Wer hat die Macht? Wer ist die entscheidende Autorität? Die Heilige Schrift oder das freie Gespräch; der Wortlaut der Bibel oder die Interpretation, „sola scriptura“ oder „solo verbo“ („solus theologus“); Gott oder die Mücken?

Im Tiefsten rennen all die unzähligen Debatten sich fest an einer schlichten, einfachen Tatsache; Jh 15,18ff: „weil … ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasset euch die Welt … haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen … das alles werden sie euch tun um meines Namens willen“. Und Jak 4,4 „wisset ihr nicht, daß der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein“. Denn auch hier, und gerade hier, gilt Mt 6,24: „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen“ und „der Welt“ (dem Menschen).

An dieser Frage entscheidet sich auch, was Mission bedeutet. Denn die setzt voraus, daß Kirche und „Welt“ sich unterscheiden. Deshalb will A) die Ãœberzeugungen der Kirche in „die Welt“ tragen in der Hoffnung, daß die „Heiden“ dadurch besser werden. Bei B) dagegen will man die Ãœberzeugungen „der Welt“ in die Kirche tragen, damit die Christen besser werden. Der derzeitige Streit um die Homosexualität ist ja nicht aus Theologie oder Kirche heraus aufgebrochen, sondern „die Welt“ hat ihre Haltung bzw. ihre Maßstäbe verändert. Die drücken nun in unsere Kirche herein. Und prompt finden sich darin Kräfte, die tausend Gründe wissen, warum wir Christen uns „der Welt“ gleichstellen (Rö 12,2) und deren – sich immerzu wandelnden – Maßstäbe unbedingt übernehmen müssen.

Wohlgemerkt: Diese Gründe sind selbstverständlich hoch theologisch und tief fromm. In einem umstrittenen Beschluß der sächsischen Kirchenleitung vom 21. Januar 2012 heißt es: „In den verbleibenden unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf das Schriftverständnis und die theologische Bewertung der Homosexualität erkennt sie [die Kirchenleitung] jeweils eine geistlich und theologisch angemessen begründete Position.“ Der Bischof rechtfertigte die dort getroffene Entscheidung (Pastor@lbrief 2-12): Die Kirchenleitung wusste „sich dem Bemühen um die Wahrheit im Hören auf die Schrift verpflichtet; sie hat konzentriert und in einer geistlich geprägten Atmosphäre diskutiert.“ Wenn es brenzlig wird, neigen auch B)-Theologen zu besonders intensiver Frömmigkeit (s. a. im Kapitel V „Sprache“ das Stichwort „besoffen reden“).

Der missionarische Eifer von B) ist in der Tat beeindruckend. 1998 hatte die Bischofsversammlung der Anglikaner mit großer Mehrheit entschieden: gelebte Homosexualität sei „unvereinbar mit der Heiligen Schrift“. Dennoch wurde nur fünf Jahre später in New Hampshire, USA, ein Homosexueller demonstrativ zum Bischof geweiht und die anglikanische Kirche damit – sehenden Auges – an den Rand der Spaltung gebracht. Ebenso scheint beim Lutherischen Weltbund die Luft zu brennen und wird von der Gefahr einer Spaltung gesprochen. Bei den Katholiken streitet man über andere Themen, doch der Konflikt ist letztlich der gleiche. Nur läßt die katholische Kirche sich dank ihrer Strukturen so leicht nicht aushebeln.

Auch hierzulande sorgt der Missionseifer von B) für Aufregung. Die EKD-Synode hat – einstimmig! – ein neues Pfarrerdienstgesetz beschlossen. In einer beigefügten „Begründung“ wird „familiäres Zusammenleben“ definiert als „jede Form des rechtsverbindlich geordneten Zusammenlebens von mindestens zwei Menschen“. Damit wird der Homo-Ehe im evangelischen Pfarrhaus Tür und Tor geöffnet.

Dagegen protestierten acht ehemalige Bischöfe in einem offenen Brief an alle Mitglieder der Synoden der ev. Kirche in Deutschland: „es geht dabei im Grunde um nichts Geringeres als um die Frage, ob die evangelischen Kirchen darauf bestehen, dass die Heilige Schrift die alleinige Grundlage für den Glauben und das Leben ihrer Mitglieder und für den Dienst und die Lebensführung ihrer ordinierten Pfarrerinnen und Pfarrer bleibt, oder ob eine Landeskirche nach der anderen eine Angleichung an die in der Gesellschaft üblich gewordenen Lebensformen für so wichtig halten, das sie dafür die Orientierung an der Heiligen Schrift aufgeben bzw. aufweichen.“

Doch dieser und zahlreiche andere Proteste haben praktisch keine Wirkung. Die Leitungen der Landeskirchen schreiten zielstrebig voran und folgen den Vorgaben der EKD-Synode – die Mehrzahl forsch und mit Hurra, einige wenige diplomatisch zögernd. In Sachsen z. B. hatte die Kirchenleitung 2001 noch festgestellt, dass „eine homosexuelle Beziehung nicht im Pfarrhaus gelebt und nicht zum Inhalt der Verkündigung gemacht wird“. Keine 11 Jahre später öffnet genau diese Kirchenleitung auch die sächsischen Pfarrhäuser für die Homo-Ehe: im Einzelfall bei „einmütiger Zustimmung des jeweiligen Kirchenvorstandes“ – obwohl mehr als 120 Kirchgemeinden gefordert hatten, dies nicht zu tun. Das Beispiel Frauenordination war ihnen wohl eine Warnung: Einschränkungen werden über kurz oder lang aufgehoben …

In der EKD ist eine Spaltung nicht zu befürchten. Dafür ist das A)-Lager schon allein wegen seiner heillosen Zersplitterung zu schwach. Doch etwas anderes wird vermutlich geschehen: Die evangelischen Kirchen in Deutschland hatten nach dem 2. Weltkrieg noch um die 50 Millionen Mitglieder. Heute sind es weniger als 24 Millionen. Dies hat verschiedene Ursachen. Dennoch gibt es in zunehmenden Maße ein relativ neues Problem: Unsere Kirche zerbröselt von innen heraus; die geistliche und personelle Substanz der Gemeinden, ihr „harter Kern“, löst sich langsam aber sicher auf.

Z. B. werde es immer schwieriger, Älteste für die Gemeindeleitungen zu finden. Laut ideaSpektrum 7/2012 (S. 32) seien am 5. 2. 2012 die entsprechenden Wahlen „in 50% der rheinischen, in 77 % der westfälischen und 93% der lippischen Gemeinden“ ausgefallen. Grund: es gab nur so viele (bzw. weniger) Kandidaten wie Plätze in den Presbyterien.

Oder: immer wieder sind Klagen zu hören, wonach gerade engagierte Christen aus der evangelischen Kirche austreten und sich freien Gemeinden anschließen. IdeaSpektrum 44/2011 wußte zu vermelden, daß allein in Heidelberg seit 1989 zwanzig neue Gemeinden gegründet wurden. Deren Gottesdienste würden ca. 3000 Besucher zählen, die der ev. Landeskirche nur 2000. Von diesen Neugründungen seien zwar die Hälfte Migranten-Gemeinden, dennoch ist der Trend unübersehbar.

Die Situation ist regional sehr verschieden. Dennoch, dieser Trend dürfte sich weiter verstärken. Denn je intensiver B) den „Geist der Welt“ in die evangelische Kirche drückt, desto dringender wird für A) die Frage: „Warum soll ich in einer Kirche bleiben, deren Theologen meinen Glauben im Grunde ablehnen? Warum soll ich einen Beamtenapparat finanzieren, dessen Repräsentanten eine Religion vertreten, die nicht die meine ist?“ Die Homo-Ehe im Pfarrhaus wird vermutlich keine Austrittswelle zur Folge haben. Auch werden die distanzierten „Kartei-Leichen“ einer solchen Kirche weiterhin die Treue halten. Doch viele von denen, die mit ganzem Herzen in den Gemeinden aktiv sind, werden weiter verunsichert. Gerade bei den Engagierten wird die Offenheit für Alternativen wachsen.

In Klammer: Dies alles dürfte eine moderne Variante des protestantischen Geburtsfehlers sein: die Verbindung von Thron und Altar. Einst haben die jeweiligen Landesfürsten auch in ihren Kirchen geherrscht, seit 1918 tun das die jeweils regierenden Ideologien – unabhängig davon, ob die braun, schwarz, rot oder aktuell eher grün sind. Einst wurde in Eisenach ein Institut gegründet „zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ („Entjudungs-institut“). Heute schwenkt man die Regenbogenfähnlein. Und in 30 Jahren, wenn der Wind noch viel heftiger in Richtung Islam wehen dürfte …

Es ist immer nur eine Minderheit, die Widerstand leistet. Die Mehrheit – insbesondere „die Amtskirche“ –  treibt im Strom der öffentlichen Meinung. Auch heute ist möglich, je ein politisches und ein kirchliches Spitzenamt gleichzeitig auszuüben. Offenbar ist der Geist der evangelischen Kirche identisch mit dem der deutschen Politik. Klammer zu.

Nachtrag: Bei Hes 13, 2ff heißt es „Weissage gegen die Propheten Israels und sprich zu denen, die aus eigenen Antrieb heraus weissagen … die ihrem eigenen Geist folgen … Sie sind nicht in die Bresche getreten …“ Oder Hes 22,30 nach Luther 1912: „Ich suchte unter ihnen, ob jemand … wider den Riß stünde vor mir für das Land, daß ich’s nicht verderbte; aber ich fand keinen.“ Dies ist sicherlich etwas großzügig „interpretiert“; dennoch ist genau das das allergrößte Elend unserer Kirche: Es gibt niemanden mehr, der „in die Bresche tritt“ und „wider den Riß steht“ für unsere Kirche, daß sie nicht verderbe; niemanden, der mit Kraft und Vollmacht  die theologischen Probleme beim Namen nennt. Deshalb bleibt die Frage: Was können wir denn tun?

1) Nichts. Denn die Schlüsselpositionen – wo es um Macht und Einfluß geht, wo das Geld verteilt wird – sind fest in der Hand von B). Synoden, Kirchenleitungen, Verwaltungen, Bischofsämter und besonders ev. Akademien, kirchliche Ausbildungsstätten, die Lehrstühle an den Universitäten, die kirchliche Presse, der Kirchentag usw. usw. werden weithin von B) dominiert. In den Gemeinden sind vielerorts noch die von A) aktiv und suchen in mühseliger, treuer Kleinarbeit den Laden am Laufen zu halten. Aber die Machtpositionen wurden zielstrebig von B) besetzt. Das ist ein dichter, undurchdringlicher Filz; dagegen kann man praktisch nichts ausrichten.

2) Nochmals nichts. Die ev. Kirchen in Deutschland haben jährlich Einnahmen von etwa 8.000.000.000,- (in Worten: acht Milliarden) Euro. Dazu kommen noch die Einrichtungen der Diakonie und vom Staat be- zahlte Stellen (z. B. an den Universitäten). Das ist eine Menge Speck! In den Gemeinden – dort wo das Geld hereinkommt – wird immer mehr gespart; dennoch gibt es in der großen weiten EKD noch genug Pöstchen, wo sich gemütlich leben läßt – eben wie die Maden im Speck. Folglich haben die Maden keinerlei Interesse, diesen Zustand zu ändern. Sie werden sich niemals um Aufklärung bzw. Lösungen bemühen, die ihre Positionen in Frage stellen.

Außerdem haben zumindest einige Vertreter von B) inzwischen begriffen, daß ihre weltfremden Theorien kaum jemanden zu überzeugen vermögen und dadurch den Fortbestand unserer Kirche ernsthaft gefährden. Also sucht man deren Heil umso entschiedener in den Formen von A). In der Sache wird B) konsequent durchgezogen; in der Form aber will man wieder frömmer werden, um die Menschen mit religiös-kirchlichem Schein zu locken. Folglich dürften die theologischen Nebelschwaden in unserer Kirche immer dichter und undurchdringlicher werden. Auch dagegen kann man praktisch nichts ausrichten.

3) Noch einmal nichts. Denn „die evangelische Theologie“ gibt es gar nicht. Es gibt nur zahlreiche evangelische Theologen – vom Pfarrer bis zum Professor. Sie alle wurschteln vor sich hin und jeder macht, was ihm gefällt. Es gibt nichts, was sie miteinander verbindet (abgesehen vom Geld und der frommen Sprache). Es gibt nichts, was sie in der Sache zusammenhält. Synoden, Kirchenleitungen, der Rat der EKD leiten die Organisation Kirche, den Beamtenapparat. In den Fragen des Glaubens und der Theologie gibt es solche Leitung nicht. Wenn ein Pfarrer ordiniert ist und in seiner Pfarrstelle sitzt, kann er predigen, was er will – da fragt praktisch niemand nach. (Falls doch mal jemand aus der Gemeinde protestieren sollte, wird er ausgelacht.) Erst recht wer Professor an einer Universität ist, kann seinen Studenten erzählen, was er will, – das kontrolliert kein Mensch.

In einer „Kirche der Interpretationen“ gibt es keinen Ort, wo die Fragen des Glaubens zusammenlaufen; keine Stelle, die sich für das Ganze verantwortlich fühlt. Es gilt – frei übersetzt – Jesaja 53,6: „Sie alle laufen durcheinander wie Schafe, ein jeder sieht nur seinen eigenen Weg.“ Kurz: es herrscht theologische Anarchie. Oder wie Melanchthon klagte: die „rabies theologorum“, die Tollwut der Theologen. Und es ist niemand da, der daran etwas ändern könnte.

4) Ein weiters Mal nichts. Denn der „Zeitgeist“ oder der „Geist der Welt“ ist ja nicht nur eine bildliche Umschreibung für sich ständig wandelnde Ãœberzeugungen; sondern er ist eine ganz reale Kraft, die bestimmte Entwicklungen vorantreibt; eine Kraft, die nicht nur „die Welt“ sondern zunehmend auch unsere Kirche beherrscht (Eph 6,12): „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“

D. h., es gibt Ideen, geistige Prozesse, religiöse Entwicklungen, die letztlich nicht dem Gehirn einzelner Menschen entspringen. Dort reifen im Verborgenen Dinge heran, bei denen es buchstäblich nicht mit rechten Dingen zugeht. Hinter so manchem Geschehen der Geschichte standen bzw. stehen Kräfte, die mit dem menschlichen Verstand nicht zu erklären sind. Wenn, z. B., Gott eine Kirche, ein Volk oder einen ganzen Kontinent „dahingibt in ihrer Herzen Gelüste“ – wie sollten einzelne dem wehren?

5) Ein Mittel, das unsere sterbende Kirche heilen könnte, haben wir nicht. Vielleicht aber ein Salbe, die das Elend hier und da etwas lindert: Tränen. So wie Jesus über Jerusalem weinte, können wir über unsere Kirche weinen: „Gott … gedenke an deine Gemeinde … richte doch deine Schritte zu dem, was so lange wüst liegt. Der Feind hat alles verwüstet im Heiligtum. Deine Widersacher brüllen in deinem Hause und stellen ihre Zeichen darin auf … Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß. Ach Gott wie lange soll der Widersacher noch schmähen und der Feind deinen Namen immerfort lästern? Warum ziehst du deine Hand zurück?“ (Ps 74)

Das ist die große Frage, die A) sich gefallen lassen muß: Wissen wir noch, was beten heißt; können wir das wirklich? Und tun wir es auch so, wie es nötig wäre? Apg 4, 24ff: „Da sie das hörten erhoben sie ihre Stimme einmütig zu Gott und sprachen: Herr, der du Himmel und Erde … gemacht hast … gib deinen Knechten, mit allem Freimut zu reden dein Wort, und strecke deine Hand aus, daß Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus.“

Die „Hand Gottes“ ist unsere einzige Hoffnung! Wobei „Heilungen“ nicht unbedingt heißen muß, daß Krebskranke schlagartig gesund werden. Heilung heißt ja auch: daß Menschen, deren Glaube von der heutigen Theologie zerstört wurde, im Innersten wieder heil werden; daß sie wieder einen klaren Blick auf ihren großen Gott bekommen; daß sie wieder lernen, im Glauben aufrecht und gerade zu stehen. Und „Zeichen“ muß auch nicht unbedingt eine Totenauferweckung sein; sondern Zeichen sind auch Gemeinden oder Christen, deren Glaube weithin sichtbar ist und vielen Menschen Hoffnung und Orientierung bietet. Oder was sind denn „Wunder“? Das größte Wunder ist doch, daß ein Mensch von neuem geboren wird; daß ein großer, stolzer Mensch die Knie beugt und sein Leben in die Hände von Jesus Christus legt.

Darum wünschte ich mir, daß diejenigen in unserem Land, deren Leben Jesus Christus gehört, die an einen großen Gott glauben, etwas weniger reden – und stattdessen „einmütig ihre Stimme erheben“; daß sie tagtäglich aus tiefstem Herzen beten: „Herr, wir sind am Ende; wir können nichts mehr machen. Deshalb strecke Du, der Du Himmel und Erde gemacht hast, strecke Du Deine Hand aus, daß Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus.“

Amen.

Andreas Rau,  rau@Derlaie.com (www.DerLaie.com)

Diesen Beitrag können Sie in der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes  als Broschüre bestellen (Mühlenstr. 42, 29664 Walsrode, 05161/911330, info@gemeindehilfsbund.de). Die Kosten betragen 5,00 Euro zzgl. Versandkosten.

Dort sind außerdem erhältlich die Broschüren von Andreas Rau „Wie lange hinkt ihr auf beiden Seiten? Kritische Fragen eines Nichttheologen an die akademische Theologie“ (2,00 Euro zzgl. Versandkosten) und „Die Judenbrille – Die deutsche Meinungsindustrie und der Nahostkonflikt“ (5,00 Euro zzgl. Versandkosten).

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 12. Juni 2012 um 10:36 und abgelegt unter Kirche, Theologie.