Alterung und Pflege: Wer kümmert sich um Methusalem?
Freitag 25. Mai 2012 von Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Alterung und Pflege: Wer kümmert sich um Methusalem?
Zweckoptimismus gehört zum Geschäft. Politiker wollen Wahlen gewinnen – magere Zeiten anzukündigen empfiehlt sich dafür nicht. Von Gefahren, Problemen und Lasten reden sie daher nicht gerne, sondern lieber von „Chancen“, „Optionen“ und „Potentialen“, die es zu „nutzen“ gelte. Beispielhaft dafür ist der Diskurs über die Alterung der Gesellschaft. Aufgrund des Schwunds an jungen Arbeitskräften nun einen Verlust an Innovationsfähigkeit und wirtschaftlicher Dynamik zu erwarten sei ganz falsch: Schließlich blieben die Menschen dank des zivilisatorischen Fortschritts wesentlich länger leistungsfähig als früher (1). Statt den Defiziten des Alters müssten die Potentiale des Alters in den Vordergrund rücken; dies gelte besonders für die Arbeitswelt, in der sich auch mit älteren Belegschaften die Arbeitsproduktivität erhalten und sogar steigern ließe (2). Großzügig ausgestattet mit staatlichen Fördergeldern versucht auch die Hirnforschung zu beweisen, dass Ältere ebenso leistungsfähig sein können wie junge Arbeitnehmer. Gehirnjogging, lebenslanges Lernen, Gesundheitsvorsorge und modernste Medizintechnik sollen die Natur überlisten, damit die Alten künftig immer jünger werden.
Auch die besten Zeiten gehen aber einmal zu Ende: Auch die „jungen Alten“ des dritten Lebensalters werden alt. Vom propagierten Ideal des „aktiven, sozial integrierten, gesunden und selbstbestimmten“ Alters ist ihre Lebenswirklichkeit oft weit entfernt; jeder kennt die Beschwernisse mit denen sie alltäglich zu kämpfen haben. Selbst Anhänger des produktivistischen Alternsparadigmas geben zu, daß „gegen viele Krankheiten des vierten Lebensalters, das Mitte 70 beginnt und von körperlichem und geistigen Abbau geprägt ist, Wissenschaftler, Ärzte und Pharmaunternehmen keine Mittel finden“ (3). Trotz allen medizinischen Fortschritts nimmt jenseits des 80. Lebensjahres die Pflegebedürftigkeit sprunghaft zu: Im Alter von 85 Jahren benötigt schon jeder Dritte Pflege, jenseits des 90. Lebensjahres dann jeder Zweite und von den Hundertjährigen kommt kaum noch jemand ohne pflegerische Hilfe aus (4). Früher erreichten nur äußerst wenige Menschen ein solches Alter, von den heute geborenen Kindern wird dagegen mehr als die Hälfte das nächste Jahrhundert noch erleben (5).
Der Methusalem-Trend bewirkt die letzte Bevölkerungsexplosion in hochzivilisierten Gesellschaften: Die Zahl der über 80-Jährigen wird sich von etwa vier auf über 9 Millionen bis 2060 mehr als verdoppeln. Gleichzeitig wird die Zahl der „jungen Alten“ nur noch wenig steigen, während die der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter drastisch (um ca. ein Drittel) schrumpft (6). Angesichts des drohenden Fachkräftemangels will die Bundesregierung alle Potentiale für den Arbeitsmarkt mobilisieren: Vor allem Mütter sollen viel häufiger als bisher in Vollzeit erwerbstätig sein (7). Für die Kinder baut der Staat deshalb Ganztagsschulen und Kindertagesstätten – an die Stelle der Familie soll eine Institutionenkindheit treten (8). Ob den Kindern die Ganztagsbetreuung gefällt spielt keine Rolle – kein Politiker fragt sie danach. Im Unterschied zu Kindern haben Senioren das Wahlrecht – nicht zuletzt deshalb wagt es niemand ein „Institutionen- oder Heimalter“ zu propagieren. In ihrer Demografiestrategie fordert die Bundesregierung, dass sie „so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung und der vertrauten Wohnung“ bleiben, um ihre „Selbständigkeit“ zu erhalten (9). Zugleich erkennt sie an, dass künftig mit der Zahl der Hochbetagten auch die der Pflegefälle unvermeidlich steigt, selbst wenn die Hochbetagten im Durchschnitt weniger gebrechlich sein sollten als heute (10).
Wer soll sich nun um die (oft dementen) Pflegebedürftigen kümmern? Für eine menschenwürdige Pflege, so heißt es, „kommt auch zukünftig der Familie eine tragende Rolle zu, die die Bundesregierung stärken will“ (11). Wie soll das praktisch gehen, wenn gleichzeitig Frauen wie Männer möglichst vollzeitig erwerbstätig sein müssen? Versucht die Politik die Grenzen der Belastbarkeit von fürsorgebereiten Frauen (oder auch Männern) zu testen? Will sie deren Gutwilligkeit ausnutzen, während sich andere auf Geld und Karriere konzentrieren und die Pflegelasten von der Allgemeinheit zahlen lassen?
(1) Exemplarisch für diese Sicht: Christian Schwägerl: Eine Schicksalsfrage, aber kein Schicksal, S. 17-47, in: Bertelsmann Stiftung/Bundespräsidialamt (Hrsg.): Familie. Bildung. Vielfalt. Den demographischen Wandel gestalten, Gütersloh 2009, S. 24-25 und S. 41.
(2) Eben diese Perspektive prägt die Demografie-Strategie der Bundesregierung. Vgl. Bundesministerium des Innern: Jedes Alter zählt. Die Demografiestrategie der Bundesregierung, Berlin 2012, S. 24-25. Eine beachtenswerte Gegenposition dazu: Josef Reindl: Die Abschaffung des Alters. Eine Kritik des optimistischen Alternsparadigmas, in: Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 37. Jahrgang, 1/2009, S. 161-173.
(3) Christian Schwägerl: Eine Schicksalsfrage, aber kein Schicksal, a.a.O., S. 25.
(4) Vgl.: Frank Niehaus: Zukünftige Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung, WIP-Diskussionspapier 1/2010, Köln 2010, S. 9-10.
(5) Bundesministerium des Innern: Jedes Alter zählt, a.a.O., S. 27.
(6) Vgl.: Mehr Hochbetagte trotz Bevölkerungsschrumpfung (Abbildung unten).
(7) Bundesministerium des Innern: Jedes Alter zählt, a.a.O..
(8) Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/354-0-Wochen-49-50-2010.html.
(9) Bundesministerium des Innern: Jedes Alter zählt, a.a.O., S. 27.
(10) Vgl. ebd., S. 29.
(11) Ebd., S. 28.
IDAF, Nachricht der Wochen 20-21 / 2012 (http://www.i-daf.org)
Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 25. Mai 2012 um 13:21 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.