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Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Das Bundesverfassungsgericht hebt den besonderen Schutz der Ehe auf

Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Das Bundesverfassungsgericht hebt den besonderen Schutz der Ehe auf

Wer – wie ich es jüngst getan habe[1] [1] – die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ehe und zur Lebenspartnerschaft öffentlich kritisiert, sieht sich leicht dem Verdacht ausgesetzt, er diskriminiere homosexuelle Lebenspartnerschaften, um alleine schon mit dem Vorwurf zu versuchen, ihn in einer rechtspolitischen Debatte ins Unrecht zu setzen. Tatsächlich stellt sich sehr dringend die Frage, wie ernst das Bundesverfassungsgericht den in unserem Grundgesetz verankerten „besonderen Schutz der Ehe“ noch nimmt und wie weit wir uns vom Wortlaut unserer Verfassung schon entfernt haben. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind vor allem fünf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 Abs. 1 GG, die meines Erachtens erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Behandlung von Ehe und eheähnlichen Gemeinschaften hatten.

Opferentschädigung auch bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften

Nicht nur bei Entscheidungen zum Verhältnis von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, sondern bisweilen auch dann, wenn es um das Verhältnis von Ehen und eheähnlichen Lebensgemeinschaften geht, zeichnet sich eine politische oder auch bedarfsorientierte Argumentation der Verfassungsrichter ab. So hat es das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 2004 für verfassungswidrig gehalten, dass das Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten keine Versorgungsleistung für den Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vorsieht, der nach dem gewaltsamen Tod des anderen Partners unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt. Hier ging es darum, die Notwendigkeit einer Gleichstellung von Eheleuten mit den Partnern einer eheähnlichen Gemeinschaft zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht stützte sich hier auf das Gleichheitsgebot und verwies dazu unter anderem auf die gestiegene Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die sich nach außen von Ehen nicht unterschieden. Es ging also davon aus, dass sich das Bestehen einer solchen eheähnlichen Lebensgemeinschaft auch noch retrospektiv – nach dem gewaltsamen Tod des einen Partners – für den Rechtsverkehr hinreichend zuverlässig feststellen lasse. Hier wurde der besondere Schutz der Ehe als Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung offensichtlich zugunsten einer bedarfsorientierten Rechtsprechung ausgeblendet.

Hinterbliebenenrente für eingetragene Lebenspartner

Im dem Urteil vom 7. Juli 2009 erklärte der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Nichtgewährung von Hinterbliebenenrente an das überlebende Mitglied einer eingetragenen Lebenspartnerschaft in der Satzung der Versicherungsanstalt des Bundes und der Länder wegen des Gleichheitsgebotes für verfassungswidrig. Darin behauptete das Gericht ohne verfassungsdogmatische Herleitung ein Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG bezüglich des Geschlechts und schloss dabei Art. 6 Abs. 1 GG als speziellere Vorschrift hinsichtlich der Einordnung beider Lebensformen in eine gleiche Vergleichsgruppe und als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung einfach aus. Bis dahin hatte das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes nicht an das Geschlecht einer Person geknüpft, sondern an die Geschlechterkombination einer Personenverbindung. Nun vollzogen die Richter eine Kehrtwende und argumentierten, so der Bonner Staatsrechtslehrers Christian Hillgruber, geradezu gegenteilig und objektiv willkürlich. Das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft richte sich nach der Intention des Gesetzgebers an homosexuell orientierte Menschen, auch wenn heterosexuell orientierte Menschen dieses Institut ebenso nutzen könnten. Daher käme es nicht auf die Geschlechterkombination und den Wunsch zur Familie an, sondern lediglich auf die Verbindung zweier Menschen. Deswegen würden homosexuell orientierte Menschen in ihrer Lebenspartnerschaft wegen ihres Geschlechts ungleich behandelt. Wurde also anfangs noch die Verfassungsmäßigkeit der Lebenspartnerschaftsentscheidung mit der Andersartigkeit gegenüber der Ehe begründet, wurden durch diese Entscheidung die verbleibenden Unterschiede gerade mit Verweis auf die Ähnlichkeiten der beiden Institute für verfassungswidrig erklärt. Ein Meisterstück der Sophistik.

Gleichstellung im Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuerrecht

Auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2010 zur Gleichbehandlung von Hinterbliebenen einer Ehe und denen einer Lebenspartnerschaft im Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuerrecht wurde der besondere Schutz der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 für obsolet erklärt – jetzt auch explizit. Ungleichbehandlungen sind danach nur zwischen kinderlosen Ehen und Ehen mit Kindern verfassungsrechtlich zulässig. Der besondere Schutz der Ehe wird dadurch unter den Vorbehalt der Kinder gestellt, die Würdigung und Unterstützung der Ehe gerade aufgrund der Potentialität für Kinder wird durch dieses Urteil negiert. Auch wenn in „zahlreichen eingetragenen Lebenspartnerschaften“ Kinder leben, so verkennen die Verfassungsrichter in ihrem Urteil den nicht zu verleugnenden Unterschied zwischen einer Ehe und einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft. Denn auch nach der Vorstellung der Verfassung ist die Ehe im Gegensatz zu einer Lebenspartnerschaft typischerweise auf Kinder ausgerichtet. Deswegen steht sie auch unter dem besonderen Schutz der Verfassung, auch dann wenn (noch) keine Kinder vorhanden sind. Die Richter negieren diesen Unterschied und argumentieren an dieser Stelle sozialpolitisch, aber nicht verfassungsrechtlich. Wie könnten sie sonst die Augen davor verschließen, dass aus eingetragenen Lebenspartnerschaften auf natürliche Weise eben keine Kinder hervorgehen können. Letztendlich hat das Verfassungsgericht damit den besonderen Schutz der Ehe abgeschafft und Ehe und Lebenspartnerschaft endgültig gleichgestellt.

Letztendlich bedeutet die Privilegierung einer bestimmten Lebensform, hier der Ehe, natürlich immer auch eine Benachteiligung anderer Lebensformen. Lehnt das Gericht also die Ehe als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ab, so verweigert es damit der Ehe auch den verfassungsrechtlich festgeschriebenen besonderen Schutz. Dies ist nun wirklich keine Fortführung der bisherigen Verfassungsrechtsprechung, sondern eine echte Revolution. Bisher galt der Satz des Bundesverfassungsgerichts, dass wegen des besonderen Schutzes der Ehe andere Lebensgemeinschaften (eingetragene und auch eheähnliche Lebenspartnerschaften) im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind. Durch die beiden Entscheidungen wird gerade jenes Abstandsgebot jedoch verkehrt in ein Abstandsverbot. Sie heben damit nicht nur den besonderen Schutz der Ehe auf, sondern lehnen in letzter Konsequenz jeden Unterschied zwischen der Ehe und einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft ab. Aus dem Urteil lässt sich nicht nachvollziehen, wie die Richter zu diesem Sinneswandel gekommen sind, der bisherigen Rechtsprechung so deutlich zu widersprechen.

Transsexuellenentscheid

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum besonderen Schutz der Ehe hat das Gericht diese Widersprüche sogar noch übertroffen und die Rechtsprechung geradezu karikiert. In der Transsexuellenentscheidung vom 11. Januar 2011 erlaubten die Richter einem biologischen Mann, der sich als Frau betrachtete, eine Lebenspartnerschaft mit einer Frau zu schließen – auch ohne operative Geschlechtsumwandlung. Ein Mann kann damit also grundsätzlich frei wählen, ob er mit einer Frau die Ehe oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen will. In der früheren Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der eingetragenen Lebenspartnerschaft wurde jedoch noch argumentiert, der besondere Schutz der Ehe werde dadurch nicht eingeschränkt, weil sich die Lebenspartnerschaft nur an gleichgeschlechtliche Menschen richte. Damit hat sich das Gericht also wiederum eindeutig widersprochen.

Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung

Am 14. Juni 2011 hat das Gericht über die Möglichkeit einer Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung auch für eheähnliche Lebensgemeinschaften entscheiden und festgestellt, dass es für Behörden nicht zumutbar sei, das Zustandekommen bzw. Bestehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu prüfen, weil die eheähnliche Lebensgemeinschaft ohne formale Hürden und Dokumentation jederzeit aufgelöst werden könnte. Hier ging es freilich nicht darum, eine ehebegünstigende Regelung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften zu erstrecken, sondern es ging darum, § 10 Abs. 3 SGB V, der im Kontext der Familienversicherung eine punktuelle ehebenachteiligende Wirkung hat, gegenüber dem Angriff der Beschwerdeführer, das Ehen gegenüber eheähnlichem Gemeinschaften benachteiligt würden, zu verteidigen.

Betrachtet man die beiden vorstehenden Entscheidungen nebeneinander, drängt sich der Eindruck auf, dass das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft nur dann feststellbar und rechtlich relevant sei, wenn es darum geht, Regelungen zugunsten solcher Gemeinschaften zu forcieren. Wenn aber es um Benachteiligungen von Eheleuten gegenüber eheähnlichen Gemeinschaften geht, werden eben nicht die gleichen Pflichten auferlegt. Die eheähnlichen Lebensgemeinschaften werden dadurch faktisch gegenüber der Ehe privilegiert. Der besondere Schutz der Ehe verkehrt sich dadurch schon fast zu einer besonderen Benachteiligung.

Besonderer Schutz der Ehe

In der Geschichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist keine andere Verfassungsnorm erkennbar, die das Gericht hat so obsolet werden lassen wie jetzt Art. 6 Abs. 1 GG. Die Richter merken lediglich an, dass es jenseits „der bloßen Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG“ eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung bedürfe. Diese Anmerkung wirkt jedoch mehr als fraglich angesichts des expliziten Wortlauts der Verfassung: Welchen gewichtigen und nicht zuletzt auch dem politischen Zeitgeist entzogenen und daher auch authentischeren Sachgrund kann es geben als die Entscheidung der Verfassung selbst?

Damit stellen die Richter eine der deutlichsten und unmissverständlichsten Wertentscheidung unserer Verfassungsväter und –mütter auf eine Stufe mit so unbestimmten und nachträglich eingeführten Staatszielen wie dem Sozialstaatsgebot oder dem Umwelt- und Tierschutz. Solche Staatsziele reichen dem Verfassungsgericht in der Regel für einen Eingriff in die Freiheitsrechte oder als Rechtsfertigung für eine Ungleichbehandlung. Der ungewöhnlich klare Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 hingegen soll nicht ausreichen. Dies stellt Prinzipien der Verfassungsinterpretation auf den Kopf.

Die Verfassung schützt auch weder nach dem Wortlaut noch nach der ursprünglichen Intention jede auf Dauer angelegte Partnerschaft. Es ist nach wie vor die bewusste Entscheidung der Verfassung eine bestimmte Lebensform – die Ehe – unter ihren Schutz zu stellen. Die Verfassung lässt hier auch keinen Interpretationsspielraum und politische Ziele und Wünsche können deswegen auch nicht hineininterpretiert werden. Nicht die Entscheidung der Verfassung für den besonderen Schutz der Ehe muss sich vor den politischen Begehrlichkeiten rechtfertigen, sondern der Gesetzgeber muss sich vor der Verfassung rechtfertigen. Die Entscheidungen der Verfassung müssen respektiert werden – ansonsten droht die Erosion unseres Grundgesetzes.

Natürlich kann die Verfassung nicht alle Lebenswirklichkeiten abbilden und daher nicht für alle Lebensformen das passende Rechtsinstitut bereitstellen. Die Verfassung hat aber auch nicht die Aufgabe, die bürgerliche Rechtsordnung überflüssig zu machen, sondern um abstrakte Wertentscheidungen. Daher sind gewisse Brüche und Differenzen zwischen der Verfassung und den gesellschaftlichen Entwicklungen hinzunehmen. Diese Probleme müssen vom Gesetzgeber und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit geklärt werden – allerdings ohne die Verfassung ad absurdum zu führen. Letztendlich kann eine gesellschaftliche Entwicklung sogar dazu führen, den Schutz für gewisse Schutzbereich zu erhöhen. Zumindest bei anderen defizitär verwirklichten Verfassungsnormen gibt das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber regelmäßig eine solche die Verbesserung des Schutzes auf.

Vom Abstandsgebot zum Abstandsverbot

Die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat letztendlich zu einer völligen Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft geführt, die den „besonderen“ Schutz der Ehe negiert und ihn als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung leerlaufen lässt. Die meisten Privilegien der Ehe sind schon jetzt  gefallen und die Rechtsprechung wird ohne jeden Zweifel in der näheren Zukunft auch andere Privilegien beseitigen wie z.B. das Ehegattensplitting. Faktisch werden durch diese Entscheidungen inzwischen auch die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 gestellt, weil auch ihnen die Privilegien der Ehe dadurch zugesprochen wurden. Aus dem Abstandsgebot von Ehe und Lebenspartnerschaft ist durch diese Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ein Abstandsverbot geworden.

Damit wurde innerhalb von zehn Jahren eine wichtige Wertentscheidung des Grundgesetzes nicht nur relativiert, sondern ausgehöhlt. Das Verfassungsgericht hat den „besonderen Schutz“ der Ehe aufgehoben.

Fazit

Die hier dargestellten Entscheidungen lassen ein wenig an das bekannte Bonmot von Johann Wolfgang von Goethe erinnern: „Im Auslegen seid frisch und munter – legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!“ Richtig ist zweifellos: Unsere Verfassung ist als Ganzes grundsätzlich offen für einen sozialen Wandel, auf den der Gesetzgeber reagieren kann. Er ist in seinem Gestaltungsspielraum aber eben auch beschränkt durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die nicht nur eine unverbindliche Erinnerung an frühere gesellschaftliche Überzeugungen sind. Gerade der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG ist als Institutsgarantie und als objektive Wertentscheidung von besonderer Bedeutung. Offenheit der Verfassung darf aber nicht verwechselt werden mit Beliebigkeit. Wer stets aus der Verfassung das herauslesen will, was gegenwärtig opportun erscheint, benötigt keine Verfassung und führt die Institution eines die Staatsgewalten am Maßstab der Verfassung kontrollierenden Verfassungsgerichts ad absurdum. Er könnte es durch einen Ausschuss zur demoskopischen Messung und Feststellung des jeweils aktuellen Zeitgeistes ersetzen. Eine Verfassung hingegen will Stabilität und ist ihrer Natur nach von bewahrendem Charakter. Soweit der Zeitgeist mit dem Verfassungsrecht in Konflikt gerät, muss die Verfassung die Oberhand behalten, solange keine verfassungsändernden parlamentarischen Mehrheiten zu erlangen sind. Diesem verfassungsstaatlichen Grundkonsens bleiben in der Bundesrepublik Deutschland alle staatlichen Organe und in besonderer Weise die Judikative und das Bundesverfassungsgericht verpflichtet. Nicht nur die vollziehende Gewalt, sondern auch die Rechtsprechung ist an das Gesetz und das Recht gebunden.


[1] [2] Dieser Beitrag ist eine Verkürzung eines Beitrags in der Festgabe für Karl Heinrich Friauf, Kommentierte Verfassungsrechtsdogmatik, erschienen 2011 im Carl Heymanns Verlag.

Erschienen in leicht veränderter Fassung in „Evangelische Verantwortung“, Das Magazin des Evangelischen Arbeitskreises der CDU / CSU, Ausgabe 11-12/2011, S. 7-9. (www.eak-cducsu.de [3])

Hier veröfentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Dr. Günter Krings ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit dem Jahr 2009 Vorsitzender des Bundesarbeitskreises Christlich Demokratischer Juristen (BACDJ).