Die Bedeutung historisch-kritischer Arbeit im Rahmen biblischer Hermeneutik
Montag 20. Juli 2009 von Prof. Dr. Rainer Mayer
Die Bedeutung historisch-kritischer Arbeit im Rahmen biblischer Hermeneutik
Stellungnahme zur historisch-kritischen Methode, ihrem begrenzten Recht und ihrer notwendigen Grenze
Die historisch-kritische Arbeit an biblischen Texten hat eine Berechtigung insofern, als sie die historische Fragestellung (was wurde damals von wem zu wem in welcher Situation gesagt?) wach hält. Denn die Bibel gibt Zeugnis von der Gottesoffenbarung in der Geschichte. Die historisch-kritische Exegese ist jedoch von historischer Exegese zu unterscheiden. – Warum?
Die in dankenswerter Klarheit von Ernst Troeltsch herausgestellten drei Leitprinzipien der historisch-kritischen Forschung „Kritik“, „Analogie“, „Korrelation“ (vgl. E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, 1898) sollen als hermeneutische Leitprinzipien die Wissenschaftlichkeit der Theologie, speziell der Bibelexegese, sichern. Diese Prinzipien übertragen dabei das Wissenschaftsparadigma der klassischen, vormodernen Physik auf die Geschichtswissenschaft. Wissenschaft wird ausschließlich auf das empirisch Feststellbare begrenzt.
Im einzelnen bedeuten: „Kritik“: bezüglich historischer Aussagen sind nur Wahrscheinlichkeitsurteile möglich. „Analogie“: Allem geschichtlichen Geschehen liegt ein Kern von Gleichartigkeit zugrunde. „Korrelation“: Die Kette von Ursache und Wirkung ist undurchbrechbar.
Zu den drei von Troeltsch genannten Grundsätzen ist wissenschaftstheoretisch zu sagen: Das Prinzip „Kritik“ ist ehrenwert, sofern es wirklich beachtet wird und den Historiker zur Bescheidenheit im Blick auf die Gültigkeit seiner Urteile anleitet.
Das Prinzip „Analogie“ hingegen beruht auf der Vorstellung von der Ewigkeit und Stetigkeit der Naturgesetze. Die moderne Physik (speziell: Atomphysik) und mit ihr die Grundlagenforschung in der Naturwissenschaft hat dieses Prinzip als Kriterium für Wissenschaftlichkeit längst aufgegeben. Im Gegenteil: Das starre Festhalten an der Vorstellung von der ewigen Gleichheit der Naturgesetze ohne Anfang und Ende behindert den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. (Vgl. dazu das Beispiel des Konflikts zwischen C. F. von Weizsäcker und dem Physiko-Chemiker Walter Nernst, in: Walter Hägele / Rainer Mayer, Warum glauben, wenn Wissenschaft doch Wissen schafft?, Gießen 2003, S. 30 f.)
Ähnliches gilt für das Prinzip „Korrelation“ Auch dies geht von der Undurchbrechbarkeit und Stetigkeit der Naturgesetze aus und behauptet, dass Kausalitätsketten in Richtung auf Vergangenheit und in Richtung auf Zukunft, wenn alle Einwirkungen bekannt sind, lückenlos berechnet werden können („Laplace’scher Dämon“, vgl. Hägele / Mayer, a.a.O., S. 17). Auch diese These ist falsch und entspricht nicht den Erkenntnissen moderner Physik.
Zu den drei von Troeltsch genannten Grundsätzen ist theologisch zu sagen: Prinzipiell ist fraglich, ob naturwissenschaftliche Paradigmen als Wissenschaftskriterien auf Geschichtswissenschaft übertragbar sind; denn in der Wissenschaft müssen Forschungsmethode und Forschungsgegenstand zu einander passen. Außerdem sollte sich Theologie, um ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen, nicht an ein Wissenschaftsparadigma hängen, das heutzutage längst veraltet ist! Schließlich muss man sehen, dass die drei von Troeltsch genannten Grundsätze im Rahmen der Theologie jeweils eine antidogmatische Spitze haben:
„Kritik“ soll heißen: Es gibt keine Offenbarungswahrheit in der Geschichte, deshalb auch keine Glaubensgewissheit im Blick auf die Gottesoffenbarung in der Geschichte. Glaube und Geschichte fallen auseinander. „Analogie“ soll heißen: Analogielose Ereignisse gibt es nicht, und wenn davon berichtet wird, sind sie ungeschichtlich. Demnach sind z.B. die Wundergeschichten des NT, vor allem aber die Auferweckung Jesu Christi (per Definitionem – keineswegs als Ergebnis geschichtlicher Forschung!) keine historischen Ereignisse. „Korrelation“ soll heißen, dass das Christentum nur im Zusammenhang aller anderen religiösen Erscheinungen auf der Welt richtig verstanden werden kann. Es ist also nicht von der Offenbarung Gottes her, die in der Bibel bezeugt wird, zu verstehen, sondern generell aus religionsgeschichtlichen Entwicklungen. Daher ist z.B. die Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi zwar religionsgeschichtlich zu erklären, jedoch handelt es sich um keine in der Geschichte geschehende Möglichkeit, also um eine Illusion, da sie außerhalb der wissenschaftlich erklärbaren Kausalzusammenhänge liegt.
Zusammenfassend ist zu den drei von Troeltsch genannten Kriterien zu sagen, dass es sich um den Versuch handelt, ein rein innerweltliches, mithin atheistisches Wissenschaftsverständnis für die Theologie verbindlich zu machen. Ende des 19. Jahrhunderts konnte das als notwendig erscheinen, um das Postulat der Wissenschaftlichkeit der Theologie aufrecht zu erhalten. Doch heute besteht diese Notwendigkeit nicht mehr (s.o. der Wandel von der klassischen zur modernen Physik). Heute gilt auch für Naturwissenschaftler, dass sie nicht notwendigerweise ein atheistisches Weltbild haben müssen, um Naturwissenschaft zu betreiben. Für die Geschichtswissenschaft heißt das, dass empirische historische Forschung möglich ist, ohne die drei von Troeltsch genannten ideologischen Prinzipien zu übernehmen. Ganz im Gegenteil: Diese Prinzipien behindern unvoreingenommene historische Untersuchung, weil sie aller Erkenntnis ein „Filter“ vorschalten, das von vornherein alles das als „unhistorisch“ aussondert, was nicht in das vorgefasste Wissenschaftsparadigma passt. – Fazit: Es ist notwendig und richtig, historische Bibelforschung zu betreiben. Diese ist jedoch von der veralteten und teilweise ideologischen und atheistischen historisch-kritischen Exegese zu unterscheiden.
Nach Adolf Schlatter (1852 – 1938) gibt es sechs verschiedene Zugänge zur Bibel, nämlich die Bibel als:
• Historisches Dokument
• Wort Gottes
• Zeugnis glaubender Menschen
• Dogmatische Darlegung von Wahrheit
• Verehrungswürdiges Mysterium
• Dialogisches Buch, das zur Glaubensantwort herausfordert.
(Vgl. A. Schlatter, Wer liest die Bibel richtig?, in: Ders., Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hg. von Werner Neuer, Gießen 2002, S. 36 – 38.) Diese Wege zum Verstehen der Bibel dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sie ergänzen sich gegenseitig.
P. S.: Die exegetischen Methoden: „Textkritik“, „Literarkritik“, „Formgeschichte“, „Überlieferungsgeschichte“, „Traditionsgeschichte“, „Redaktionsgeschichte“ bilden ein eigenes Thema. Sie sind nicht notwendig mit historisch-kritischer Arbeit verknüpft, obwohl sie z.T. in diesem Rahmen entwickelt wurden. Die Textkritik z.B. ist sehr viel älter als die historisch-kritische Methode.
November 2007
Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 20. Juli 2009 um 13:17 und abgelegt unter Theologie.