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Die Aufgaben und das Versagen der Christen in unserer Zeit

Die Aufgaben und das Versagen der Christen in unserer Zeit

Zu dem Thema, „Aufgabe und Versagen der Christen“ habe ich bereits in vielen meiner Bücher und in öffentlichen Vorträgen Stellung genommen. Als erstes möchte ich ausführen, wie ich zu der Überzeugung kam, daß wir dringend einer geistigen Wende bedürfen. Danach wäre die Frage zu stellen, warum dieses Ansinnen, die Menschen für eine geistige Wende zu gewinnen, sich als unausweichlich notwendig darstellt. Auch werden wir die Frage klären müssen, ob die Christen in unserem Land überhaupt ein geeigneter Adressat einer solchen Erwartung sind. Und wenn sie es sind, ob sie dann im Hinblick auf diese Zielsetzung einen wirksamen Beitrag zu leisten in der Lage wären. Als dritten Punkt bedarf es noch einmal eines kurzen Ausblickes über die Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden und welche weiteren Entwicklungen sich abzeichnen.

Wenn ich autobiographisch beginnen darf, dann gehen eigentlich die Überlegungen über die Notwendigkeit einer geistigen Wende auf die 80er Jahre zurück. Ich möchte noch einmal daran erinnern, weil ein solches Programm zunächst nur wenigen und den meisten eigentlich erst sehr viel später eingeleuchtet hat, und daß diese Überzeugung nur wächst in dem Maße, wie sich die geschichtlichen Abläufe dramatisch beschleunigen. D.h. ohne diese Lehren, die uns die Geschichte erteilt, konkret die gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung in der Bundesrepublik, würde keiner glauben, daß es Sinn macht, von der Notwendigkeit einer geistigen Wende in Deutschland zu sprechen.

Der Ausgangspunkt war eine Vorlesung, die ich kurz nach dem Aufbruch der studentischen Revolution Mitte der 60er Jahre in Köln als junger Privatdozent zu halten hatte, ich hatte mir damals das Thema gewählt: „Die negative Dialektik Adornos“. Die Lektüre dieses zentralen philosophischen Grundwerkes, über die gesamten kulturrevolutionären Strömungen und Bewegungen bis zum heutigen Tag erscheint mir unerläßlich, wenn man diese verstehen will. Wenn man dann auch noch ihre philosophischen Ermöglichungen und Grundlegungen nachvollziehen will, kommt man eigentlich an der schwierigen Lektüre dieses Buches von Adorno nicht vorbei und wir können leider nicht davon ausgehen, daß dieses Buch heute mehr Leser finden wird, als es damals der Fall war. Die erste der Kernthesen dieses Buches stellt fest, daß nicht nur die Entwicklung der Neuzeit seit der Aufklärung, und auch keineswegs nur die Entwicklungen unseres Jahrhunderts unter das Zeichen des Verfalls gestellt sind, sondern die gesamte europäisch-abendländische Geschichte, im Grunde genommen die Weltgeschichte, soweit sie durch Europa mitbestimmt war, mit eingeschlossen ist. Dies ist die bis heute eigentlich radikalste Absage an alle Formen des Glaubens, daß es in der Geschichte einen Fortschritt gegeben hätte, und auch des Glaubens, daß unter den bisher eingetretenen Bedingungen der Geschichte, Fortschritt überhaupt möglich sei. Das erstaunlichste ist, daß diese Verfallsthese, dieses dann später immer mehr dem Marxismus zuzuordnenden Denkers eigentlich die radikalste konservative Position darstellte, die nicht auf Karl Marx, sondern vielmehr auf Friedrich Nietzsche zurückgeht.

Die zweite These war die Aussage über unsere Gegenwart, die die damaligen Systeme in Ost und West betraf und die behauptete, daß die herrschenden Systembedingungen totalitär seien. Der Totalitarismus wurde also nicht einer bestimmten ideologischen oder politischen Bewegung, sei es dem Nationalsozialismus oder dem Stalinismus zugeordnet, sondern als ein die Gegenwart als Ganzes bestimmendes Phänomen beschrieben.

Die dritte These, die mit der zweiten aufs engste zusammenhängt, geht davon aus, daß dieser gesamte totalitäre Charakter, der alle politischen und gesellschaftlichen Systeme in Ost und West überspannt, nicht zurückgeführt werden kann auf irgend ein weltanschauliches System, sondern die Ursache wurde dem technischen Fortschritt zugeschrieben, in dem Maße wie dadurch die Lebensformen und Lebensbedingungen der Menschen unter die Herrschaft der Technologien und des technischen Denkens geraten sind. Wir denken alle mehr oder weniger technisch und das eigentlich wichtigste Zeichen dieses technologischen Zeitalters ist, daß wir die Wahrheitsfrage abgeschafft haben, also keinen Begriff mehr für das Absolute haben, sondern als Wahrheit das verstehen, was funktioniert. Indem wir sagen, wahr ist alles, was funktioniert, setzen wir voraus, daß wir alles für machbar und alles für veränderbar halten. Dadurch gibt es aber keinen kulturellen, keinen menschlichen und auch keinen kirchlich-religiösen Sachverhalt mehr, der nicht unter diesen Aspekt der Machbarkeit und der Veränderbarkeit gerät und sich damit von einem Wahrheitsverständnis leiten läßt, das vereinfacht ausgedrückt lautet: Wenn etwas klappt, wenn es funktioniert, dann haben wir nicht nur technisch richtig gedacht, sondern dann ist es auch wahr.

Der vierte und entscheidende Punkt dieser negativen Dialektik ist folgender: Wenn man eine geistige Bewegung für diesen Verfall und das Ende der europäisch-christlichen Geschichte unter der Herrschaft eines in der Technologie seinen Ausdruck findenden Bann verantwortlich machen könne und müsse, dann sei das die Bewegung der Aufklärung. Bei dieser Sichtweise beginnt die Aufklärung dann eigentlich nicht erst im 18. Jahrhundert, sondern bereits in den frühesten Mythen bei Odysseus und Homer.

Das fünfte ist, daß Adorno, und alle die ihm bis zum heutigen Tag, sei es auch zum Teil unbewußt gefolgt sind, keine Antwort gefunden haben, wie dieser uns beherrschende und unterdrückende, den Menschen in seiner Natur zerstörende Bann, überwunden werden kann. Es ist wichtig sich klarzumachen, daß für diese Dinge, die heute in verschiedenen Formen des Zeitgeistes da sind und in denen viele Menschen, wenn nicht denken aber doch fühlen, bisher noch kein konstruktiver Ausweg gefunden wurde. Dennoch sind verschiedene Wege versucht worden, die auch letztenendes das demokratisch-politische, aber auch das ökonomische Schicksal der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag bestimmen. Es ist charakteristisch für die politische Klasse der Bundesrepublik und die geistigen Kräfte, aus denen diese Parteien heraus leben, daß sie die ganze Radikalität, die in einer solchen situationsgeschichtlichen Analyse liegt, bis zum heutigen Tage nicht begriffen und sie zum größten Teil nicht einmal zur Kenntnis genommen haben und daher auch gar nicht um die Frage bemüht sein konnten, was denn eine konstruktive Antwort sein könnte.

Es gibt eigentlich drei große kulturrevolutionäre Strömungen, die mehr oder weniger inspiriert durch eine solche düstere ins gnostisch-apokalyptische sich ausweitende Geschichts- und Situationsanalyse eine Antwort versucht haben. Zunächst ist die schon genannte, von den Studenten an den deutschen Universitäten ihren Ausgang nehmende kulturrevolutionäre Bewegung zu nennen. Wir dürfen dieses Phänomen, mit dem wir es zu tun haben, keineswegs unterschätzen, nämlich daß die eigentliche, fundierende Grundbewegung unserer Zeit, nicht nur im politischen, gesellschaftlich-kulturellen Raum, sondern auch im kirchlichen, zum Teil sogar im theologischen Bereich, von der Art einer Kulturrevolution ist. Es handelt sich um eine Kulturrevolution, die sich an die progressiven Bewegungen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, den Marxismus des 19. Jahrhunderts und die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts anschloß. Dabei ist die Psychoanalyse in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule noch eine Symbiose mit einem einseitig interpretierten und verfälschten Hegel-Marxismus eingegangen. Dieses Konglomerat von aufklärerischen Ideen ist die Herausforderung dieser Kulturrevolution. Wenn nun jemand, ganz gleich von welchem Ansatz aus und mit welcher Zielsetzung eine Antwort finden will, muß er sich dieser Kulturrevolution als der eigentlichen Herausforderung stellen. Den ersten Niederschlag fand diese kulturrevolutionäre Bewegung in der Studentenrevolte, die erfolgreicher war als sie selbst glaubt es gewesen zu sein. Kulturrevolution heißt eine nicht primär politische, ökonomische oder nur eine industriell-wissenschaftliche, sondern eine die ganze Gesellschaft auch im Innern umwälzende Veränderung.

Nun hat einer der führenden Theoretiker des damaligen SDS, Prof. Rabehl, vor einigen Tagen in der F AZ eine Bilanz gezogen, ob diese, wesentlich von den Studenten initiierte und vorangetriebene spät-sozialistische Kulturrevolution ihre Ziele erreicht habe. Dieser Cheftheoretiker stellt fest, daß diese Bewegung an ihren eigenen Widersprüchen zugrundegegangen sei. Sie sei mit ihren Widersprüchen, die sie eigentlich selbst produziert habe, nicht fertig geworden. D.h. diese Bewegung ist nicht gescheitert am Widerstand der um ihrer Freiheit und Substanz bemühten Gesellschaft, sondern sie ist an sich selbst gescheitert. Im Kontrast dazu kann man jedoch feststellen, daß gleichzeitig der ehemalige engste Mitarbeiter von Herrn Geißler, Herr Radunski erklärt, daß die Bundesrepublik dieser Bewegung große und starke Impulse zu verdanken habe und daß sie sich außerordentlich heilsam auf die CDU ausgewirkt habe. Das also sagt der frühere Geschäftsführer der CDU, jetzt Kultursenator in Berlin, nachdem der Cheftheoretiker des SDS die Auffassung vertritt, diese Bewegung sei an ihren eigenen Widersprüchen gescheitert. Das zweite, was Prof. Rabehl feststellt ist, daß sie durch ihr Scheitern nicht nur keines ihrer Ziele erreicht hätte, sondern sogar das Gegenteil, denn sie hätte negativ gewirkt, indem sie die ganzen noch vorhanden Bestände an Kultur aufgelöst und beseitigt habe. Nicht zuletzt hätte sie als Folge dieser Kulturzerstörung den Kapitalismus erst richtig entfesselt. Also sei nicht die Überwindung des Kapitalismus, sondern seine totale Freisetzung und Entfesselung die Konsequenz dieser Kulturrevolution gewesen, von der heute noch ein großer Teil des deutschen Establishments auch in der Wirtschaft und in der Politik voller Stolz bekennt, daß sie 68er seien. Diese blicken mit vor Erinnerung verklärtem Blick auf ihre eigene heroische Frühzeit und Epoche zurück, die aber leider die erstrebenswerten Ziele nicht erreicht habe.

Wir dürfen auch nicht vergessen, daß dieser kulturrevolutionäre Impetus mit manchen Abschwächungen und neu hinzugekommenen Motiven sich fortgesetzt hat in der Friedensbewegung und in der Ökologiebewegung. Der geistige Grund aus dem die Grüne Bewegung in Deutschland hervorgegangen ist, ist nicht das kulturkonservative Motiv der Erhaltung und der Rettung der Natur, sondern die kulturzerstörerische Bewegung der 60er Jahre.

Nun müssen wir uns die Frage stellen, was die Reaktion der Kirchen, des kirchlich verfaßten Christentums in Deutschland auf diese, in ihrem Kern teilweise nihilistische, aber politisch durchwegs anarchistisch konzipierte Bewegung gewesen ist. Man kann leider nur vom großen Versagen unserer Kirchen sprechen. Das Versagen des kirchlich verfaßten Christentums besteht darin, daß es auf diese Herausforderung nicht nur keine Antwort gegeben hat, sondern daß diese kulturrevolutionäre Bewegung in vielfältiger Weise tief in unsere Kirche eingedrungen ist. Mindestens das öffentliche Erscheinungsbild, die öffentliche Rolle, des kirchlich verfaßten Christentums in Deutschland läßt heute erkennen, daß man von einer essentiellen Übereinstimmung mit dieser Bewegung ausgehen muß. Ich will dazu nur drei beliebige Beispiele aus einer Vielzahl weiterer, die ich anführen könnte, herausgreifen. Das für mich eindrucksvollste Beispiel war die Bischöfin Jepsen, die auf dem Höhepunkt der Debatte über das Kruzifix-Urteil im Deutschen Fernsehen ein Bild herauszog, auf dem in Kreuzform schöne, gelbe Sonnenblumen, grünes Gras und andere bunte Blumen abgebildet waren. Dieses Bild bot sie dem deutschen Fernsehpublikum als eine humanere und menschenfreundlichere, weil fröhliche Version des Kruzifixes an. Sie wollte also nachweisen, daß derjenige, der psychisch belastende Folgen für sein Kind durch den Anblick des Schmerzensmanns befürchtete, durchaus begründbare Motive hatte und daß man deshalb dieses Kruzifix auch so darstellen kann, daß von ihm fröhliche, muntere und menschenfreundliche Gedanken ausgehen können. Wenn man über solche Vorstellungen einer Bischöfin nachdenkt, dann wird das ganze Ausmaß der Einwirkung dieser kulturrevolutionären Bewegung auch auf unsere Kirchen klar. Man muß an Solowjew denken, der ein großartiges Traktat über den Antichristen geschrieben hat. Diesen Antichristen beschrieb er als einen Mann, der nicht wie ein schreckenerregendes Monster daher kommt, sondern der ein junger, edler Jüngling ist, der in einem weißen Gewande mit segnender Menschenfreundlichkeit, irdische Wohltaten versprechend durch das Land ziehe. Ich bin überzeugt, daß der Antichrist dort auftritt, wo man ihn am wenigsten sieht und vermutet.

Ein weiteres Beispiel: Diese Kirche richtet ein Institut für Frauen ein und beruft an die Spitze zwei feministische Theologinnen, die das Kreuz als einen Ausdruck quasi inhumanen Terrors abgeschafft sehen wollen und die das Menstruationsblut für die Sakramente als das nun allein Heilversprechende in ihren Schriften verbreiten. Sicher darf man solche Vorgänge nicht verallgemeinern, aber sie haben dennoch eine enorme Aussagekraft und einen beachtlichen symbolischen Wert.

Mein drittes Beispiel ist ein Bischof, der sich mit einem Iman, also einem islamischen Geistlichen, hinstellt und mit ihm Koran und Bibel austauscht. Wenn Bibel und Koran austauschbar sind, bedeutet dies, daß es gleichgültig ist, ob ich Mohammedaner oder Christ bin. Man kann vielleicht sogar so weit gehen und vermuten, daß die ursprünglichen Impulse dieser kulturrevolutionären Bewegung in die Kirchen, vor allem in die evangelischen, stärker eingedrungen sind als in andere Institutionen unserer Gesellschaft.

Eine der erstaunlichsten Stimmen nun ist die der Mitherausgeberin der „Zeit“, Gräfin Dönhoff, die in einem Aufsatz geschrieben hat, daß das eigentliche Problem, von dem mehr als von jedem anderen die Überlebenschance der Bundesrepublik abhängig sein wird, das metaphysische Vakuum sei. Vergessen wir nicht, dies schreibt kein Bischof, kein Theologe, sondern eine der ausgewiesensten Liberalen in unserem Land. Das metaphysische Vakuum schließt natürlich das religiöse mit ein. Man kann sich vorstellen, daß an der unsäglichen Banalisierung des Lebens, die aus diesem metaphysischen Vakuum folgt, sich eines Tages Entwicklungen ergeben könnten, an deren Ende man diese Bundesrepublik und mit ihr auch ihre Parteien nicht wiedererkennen wird. Wenn heute Bedenken geäußert werden, die über die Analyse der ökonomischen und sozialen Daten hinausgehen, kommen sie eher von der liberalen und zum Teil ehemals progressiven Seite, als von denen, die man für konservativ hält, oder die sich selber dafür halten. Soweit zunächst zum Versagen der Christen in unserem Land.

Wir erleben darüber hinaus noch etwas sehr Merkwürdiges, was mit dem Phänomen der sogenannten Vergangenheitsbewältigung zu tun hat. Die evangelische Kirche hat sich seit 1945 schuldbewußt an die Brust geschlagen und sie hatte auch Grund dazu, dies zu tun. Ob allerdings die Stuttgarter Erklärung das wirklich Richtige war, wollen wir dahingestellt sein lassen, aber daß sie geforscht und geprüft hat, welchen Anteil sie an dieser Katastrophe der nationalsozialistischen Geschichte gehabt haben könnte, war sicher wichtig. Argumentativ ist die evangelische Kirche geneigt zu glauben, daß ihr Schuldanteil sehr hoch war, und bei genauerem Hinsehen sogar auf Martin Luther und die Reformation zurückgeführt werden.

Dabei wird die Auffassung vertreten, die Reformation hätte die Deutschen untüchtig zur Revolution gemacht, und sie damit gegenüber den weltlichen Traditionen, die demokratiestiftend waren, entfremdet und ihnen einen apolitischen Pietismus, eine Untertanengesinnung und eine Obrigkeitshörigkeit anerzogen. Daher war man entschlossen, es besser zu machen, um eine Wiederholung zu vermeiden. Die Schlußfolgerung, die gezogen wurde – wenn man es auf einen einfachen Nenner bringt -lautet, daß es jetzt vor allem darum geht, das Gegenteil von dem zu tun, was uns in die Katastrophe geführt habe, in der Gewißheit, daß dies dann apriori das Richtige sei. Dies sei der Sozialismus und die christliche Emanzipation, also die Umdeutung des Christentums von einer Erlösungsreligion in eine sozial-emanzipatorische Befreiungsreligion, auf jeden Fall wäre auch eine umfassende Politisierung der Kirche wünschenswert.

Die machtvollsten und eindrucksvollsten Massenkundgebungen, in denen bis vor einigen Jahren dieser emanzipatorische, neo-sozialistische Zeitgeist seinen Ausdruck fand, waren nicht zuletzt die evangelischen Kirchentage. Was von ihnen dort an Staatsverachtung, an Haß gegen alles, was mit Militär und Polizei zusammenhängt, an Auflösung jeder Autorität und an Aufwiegelung zu anarchistischen Unruhen ausging, darin ließen sich die Protestanten von keiner anderen Gruppe der Gesellschaft übertreffen, und das aus innerer Gewissensüberzeugung, denn das Gewissen steht immer über allen Argumenten. Das ist diese rigide, entleerte, abstrakte und pseudochristliche Gewissensmoral der Protestanten, die sie in der jetzigen Epoche der deutschen Geschichte genauso unfähig werden ließ, die Realitäten dieser Welt noch wahrzunehmen, wie auch zur Zeit der völkisch-nationalen Revolution von 1933. Von einer Überwindung oder auch gar nur von neuen Ansätzen, von denen man sagen könnte, man habe aus dieser furchtbaren, geschichtlichen Erfahrung gelernt, kann strukturell gesehen gar keine Rede sein. Es haben sich die Vorzeichen geändert, aber die absolute Hörigkeit und Blindheit gegenüber dem herrschenden Zeitgeist ist identisch und ihre Verfallenheit an ihn unterscheidet sich in keiner Weise gegenüber derjenigen ihrer Väter, die sie angeklagt haben. Die totale Durchmischung der beiden Reiche, von denen Luther spricht, ist das eigentlich Erschreckende. Die Politisierung der christlichen Verkündigung führt zu einer so starken gegenseitigen Durchdringung der beiden Reiche, daß diese Vermischung nach Luthers Urteil nur als satanisch bezeichnet werden kann.

Die Vielzahl kulturrevolutionärer Bewegungen haben sich auch durchgesetzt in Form einer Entchristlichung unseres Landes, die geschichtlich wohl fast ohne Beispiel ist. Ich habe noch während des dritten Reiches einen Religionsunterricht genossen, in dem weder von Antisemitismus noch von Rassismus, sondern eigentlich nur von der Bibel und von Luther die Rede war und in dem die herrlichen Gesänge der christlichen Tradition gepflegt wurden. Heute jedoch wird in Brandenburg der Religionsunterricht durch einen konfessionell neutralen Weltanschauungskundeunterricht ersetzt. Hitler hätte nie gewagt, den Religionsunterricht in dieser Form aus der Schule zu vertreiben. Nicht weil er nicht entschlossen war, mit den Christen genauso zu verfahren wie mit den Juden, aber er wußte, daß er das erst nach einem erfolgreichen Abschluß des Krieges tun konnte und das Christentum in den Menschen noch so tief verankert war, daß er meinte, das nicht riskieren zu können. Man könnte dies auch an seinem Verhalten gegenüber dem Bischof von Galen in Münster darstellen. Während heute die Verankerung inzwischen so gelockert ist, daß das Christentum ununterscheidbar von Zeitgeistströmungen so privatisiert worden ist, daß es aufgehört hat eine wirkliche, für das öffentliche Bewußtsein bestimmende und bildende kulturelle Macht zu sein. Das bedeutet nicht, daß es heute und in der Zukunft keine Christen mehr gibt, auch nicht das Ende der christlichen Kirche, denn wir wissen, daß die Pforten der Hölle die Kirche Jesu Christi nicht überwinden werden. Also das ist und braucht nicht unsere erste Sorge sein. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob angesichts dieses Kulturzerfalls, der inneren und moralischen Auflösungserscheinungen, die unsere Gegenwart und unsere Gesellschaft bestimmen, es noch eine geistig kulturelle Kraft gibt, der man eine Wende oder auch nur einen Widerstand gegen diese Prozesse zutrauen kann. Gäbe es noch eine solche Kraft, würde man vielleicht sagen, die Christen sollten sich zunächst um sich selbst und um ihre Verhältnisse in den Gemeinden und Kirchen kümmern, dort hätten sie genug zu tun. Aber leider ist die geschichtliche Lage nicht so, denn es gibt keine geistig-kulturelle Kraft oder Organisation, die imstande wäre das von der Gräfin Dönhoff beklagte Vakuum auszufüllen. Die auf dem Boden der Aufklärung gewachsenen Ideologien gehen an ihrer Unglaubwürdigkeit zugrunde. Die Gewerkschaftsführer können zwar jetzt durch die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall behaupten, daß der „Kapitalismus pur“ ausgebrochen ist, und führen damit die Sprache des alten sozialistischen Klassenkampfes, wenigstens zum Teil wieder ein. Nur nützt das nichts, weil dies keiner mehr glaubt. Es gibt auch keine nachvollziehbare sozialistische Lösung für die Probleme. Die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen wir den Aufbau, den äußeren wie den inneren, der Bundesrepublik in den letzten 50 Jahren gestaltet haben, brechen vor unseren Augen weg. Der Staat ist nicht mehr bezahlbar, er kann seinen bisherigen Sozialleistungen nicht mehr nachkommen, die gesamte soziale Ordnung wird nicht mehr zu halten sein, weil sie an die Grenzen der Finanzierbarkeit stößt.

Die Mittel, die einem souveränen Staat wie Deutschland zur Verfügung stehen, um gegen diese Prozesse anzugehen, sind äußerst gering. Die Globalisierung der Weltwirtschaft bedeutet nicht nur, daß der Kapitalaustausch weltweit geworden ist, sondern daß es auch keine Kontrolle der Kapitalbewegungen mehr gibt. Solange die Kosten für eine Arbeitsstunde in den nahegelegenen östlichen Ländern wesentlich geringer sind und es gleichzeitig keine Verhinderung von Arbeitskräftewanderungen gibt, zerfällt der gesamte institutionelle Rahmen, unter dessen Bedingungen wir die Bundesrepublik zu einer der erfolgreichsten Demokratien in der ganzen Welt aufgebaut haben. Ein führender deutscher Historiker, Christian Meier, befürchtet, daß wenn das Maastricht Europa vollendet wird, und damit die Möglichkeiten des Staates noch weiter beschränkt werden und der Austausch innerhalb Europas noch intensiver und quantitativ größere Ausmaße annehmen wird, die Frage gestellt werden müsse, ob die Demokratie in Europa überhaupt eine Überlebenschance hat.

Außerhalb von Deutschland stellen wir fest, daß die politische Antwort auf diese Prozesse, von denen ich jetzt nur einige angesprochen habe, im rechten politischen Spektrum und nicht mehr links gesucht werden. Im amerikanischen Wahlkampf ist gegenwärtig das Wort liberal ein so belastendes Wort, daß der amtierende Präsident Clinton sich ständig dagegen wehren muß, weil er als ein Liberaler gilt. In Frankreich gibt es Städte, die zum Teil 40 % Le Pen Anhänger haben. In Italien ist die Mitte-Rechts Formierung nicht schwächer als die Mitte-Links Bewegung. Die Labour- Party in Großbritannien ist so konservativ wie die Konservativen, die derzeit die Regierung stellen. Osteuropa brauchen wir gar nicht anzusprechen, dort gibt es nur noch Nationalisten, die anderen Gruppierungen hat die geschichtliche Bewegung aufgelöst.

Wenn wir überhaupt eine geistige Tradition haben, wenn auch vielleicht noch so verdünnt und geschwächt, dem wir vertrauen könnten, dieses Vakuumproblem zu lösen, dann ist dies unser christliches Erbe. Dieses Christentum, das sich selbst in der Deformation und Negation befindet, ist die geistige Grundlage von all dem, was den Staat der Bundesrepublik bisher ausgemacht hat. Der Rechtsstaat wie der Sozialstaat lebt von den Resten des zwischenzeitlich privatisierten Christentums. Alle Werte, auf die sich dieser Staat beruft, sind nicht allein, aber entscheidend christlicher Herkunft und Substanz. Der große Ruf nach einer solidarischen Gesellschaft hat, wenn wir das christliche Bewußtsein weiter auslöschen, überhaupt keine Evidenz mehr. Die Klage, daß zunehmend in dieser Gesellschaft nur noch jeder an sich selber denkt und versucht, den größtmöglichen Vorteil für sich herauszuholen, ist das Ergebnis einer 40jährigen Orientierung in der Bundesrepublik. Woher soll die Forderung, daß der Starke mit dem Schwachen und der Reiche mit dem Armen teilen soll, ihre Evidenz erhalten, wenn das christliche Ethos für unverbindlich erklärt wurde? Wenn die Christen nicht bereit sind, die Verantwortung für die Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, zu deren Zustandekommen sie selber beigetragen haben, zu übernehmen, dann werden wir in der Barbarei enden. Wenn man die öffentlichen Erscheinungen dieser Gesellschaft, vor allem im Fernsehen beobachtet, dann ist dies teilweise die nackte, brutale Barbarei, die dort aus ökonomischen Zwecken durch die einträglichste Industrie in Deutschland, die Unterhaltungsindustrie, zelebriert wird. Es gibt keine Schweinerei, keinen Tabubruch, keinen Unsinn, kein Verbrechen, mit denen die Seelen der heranwachsenden Generationen nicht schon gefüllt werden. Und dann wundern wir uns, wenn morgen Kinder geschändet werden. Da kann keine Politik mehr wirksam eingreifen, da genügt es nicht, nach der Polizei zu rufen, da kann auch keine der modernen, am allerwenigsten eine liberale Ideologie etwas dagegen machen. Nachdem die Liberalen in der Bundesrepublik das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung durchgesetzt haben, ist schwer zu begründen, warum einer von diesem, ihm zuerkannten sexuellen Selbstbestimmungsrecht nicht dahingehend Gebrauch machen soll, indem er Kinder hierfür benutzt.

Hier stellen sich die Aufgaben. Ob sie mehr als ein Versuch sein können, hängt letzten Endes von drei Bedingungen ab. Die erste Bedingung wird sein, ob die Christen die Zeichen der Zeit erkennen, denn Sie wissen, daß Paulus den Christen unter anderen als eine sie auszeichnende Gabe die Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister zugesprochen hat und damit die Erkenntnis der Zeichen der Zeit. Zum Christsein gehört das aufmerksame Beobachten der Zeit. Paulus kann das ungeheuere Wort formulieren, „Der Christ ist jemand, der alle erkennt, selber aber von niemand erkannt wird“. Wenn wir an dieses Verhältnis des Christen zur Zeit erinnern, muß man sich wundern, wieso es unter gläubigen Christen Zweifel daran geben kann, daß auch sie ihrer eigenen Zeit eine Erkenntnis schuldig sind. Denn sie können erkennen, was andere nicht erkennen. Sie können sehen, daß z. B. die Verschuldung der öffentlichen Hände und die totale Unordnung der Staatsfinanzen nicht eine Frage der Steuerreform und der Finanzpolitik ist, sondern daß dieser Zustand ein Indikator für den inneren geistigen und moralischen Zustand der Nation ist. Auch daß keine noch so subtile und perfekte Finanzpolitik daran etwas ändern wird, wenn nicht der moralische und geistige Zustand der Nation verändert wird. Und so trifft das auch für den Gesamtbereich des Politischen zu. Es hat noch nie eine Generation von Christen gegeben, vielleicht vom allerfrühsten Christentum abgesehen, die nicht Verantwortung empfunden hat für den sittlichen Zustand des Gemeinwesens, in dem sie leben. „Suchet der Stadt Bestes“ heißt es. Ein Christ, der nicht das Beste der Stadt sucht, der damit modern gesprochen nicht auch um willen des Gemeinwesens bereit ist, sich politisch im weitesten Sinne zu engagieren, kann sein Verhalten nicht rechtfertigen.

Es ist zwar eine traditionell im Pietismus verankerte Skepsis bis Abneigung gegen alles Politische da, und man konnte sich dieses apolitische Verhalten auch leisten, solange wir mit halbwegs stabilen Formen öffentlicher Ordnung rechnen konnten. Aber ob man angesichts der Entwicklung, von der ich gerade gesprochen habe, auch dann noch für sich in kleinen Kreisen bleiben kann, ohne bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen, ist doch sehr zweifelhaft.

Und das zweite, was bei einem solchen Engagement der Christen sehr wichtig ist, ist der für die gesamte Moderne hohe Wert der Freiheit. Man hat den Eindruck, daß nach 50 Jahren die Leute an allem interessiert sind, nur nicht mehr an der Freiheit. Wenn der Mensch vor die Alternative Sicherheit oder Freiheit gestellt wird, wählen die meisten Menschen in der Regel die Sicherheit. Nur man muß wissen, daß man diese Moderne, die man über mehrere Jahrhunderte hervorgebracht hat, nun auch verantworten muß. Verantwortung heißt zu erkennen, daß diese Moderne in totalitär versklavende entmenschlichende Bedingungen umschlagen muß und in letzter Konsequenz sich auch selbst vernichtet, wenn diese Moderne nicht Freiheit gewährt, Freiheit ermöglicht und Institutionen der Freiheit bewahren kann. Die dramatische Herausforderung dieser Welt an die Christen besteht darin, daß diese moderne Welt diesem Freiheitspostulat gefolgt ist, die Freiheit fast totalitär durchgesetzt hat, mindestens für den moralischen und kulturellen Bereich, gleichzeitig aber auch neue Formen der Knechtschaft hervorgebracht hat, die ohne geschichtliche Analogie sind. Denn die Freiheit, die nun da ist, ist leer. Wenn wir fragen, warum die Menschen an den Sozialismus, an den Kommunismus und den Nationalsozialismus geglaubt haben, und zwar nicht die sogenannten einfachen Christen, sondern die Intellektuellen und die Eliten der Völker, dann doch deshalb, weil sie es bei der Leerheit ihrer eigenen Freiheit nicht mehr aushielten. Die Freiheit hat keinen Inhalt und keine Substanz mehr. Wir sind jetzt vielleicht zum ersten Mal am Ende der Neuzeit imstande zu verstehen und zu begreifen, was Luther eigentlich mit der Freiheit gemeint hat, nämlich daß sie selber der Befreiung bedarf. Sie muß befreit werden, denn sie verfällt dem mächtigsten Dämon, der diese Welt beherrscht, nämlich dem Ego des Menschen, dem Selbst, dem auf seine Selbstbefriedigung, seine Selbstverwirklichung, auf seine Selbstdurchsetzung gerichteten Willen des Menschen. Vielleicht ist dies die wichtigste Erkenntnis der reformatorischen Tradition, die wir Luther verdanken, daß diese Form des auf den Thron erhobenen Selbst des Menschen die tiefste Form seiner Versklavung ist. Der eigene Wille ist der an das Ich versklavte.

Ein weiterer wichtiger Gedanke ist ebenfalls eine Einsicht der reformatorischen Tradition, daß der Mensch auch vor sich selbst geschützt werden muß. Modern ausgedrückt kann die Freiheit nur überleben, wenn sie Institutionen findet, die sie einbindet, begrenzt, ermöglicht und schützt. Und damit stehen wir vor der letzten und wichtigsten christlichen Einsicht, der nicht nur die Deutschen so viel, sondern eigentlich das ganze europäische Abendland, wenn man genauer hinsieht, alles zu verdanken hat, bei dem, was mit den zwei Reichen gemeint ist. Das Reich Gottes zur rechten und das Reich Gottes zur linken darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem christlichen Heilsreich und mit dem Reich der Welt. Das ist der fundamentale Irrtum der sich aus der Politik heraushaltenden Christen, die meinen, sie dürften sich auf das eine Reich nicht einlassen, weil es das Reich der Welt ist, sie müßten sich nur um das Heil der Seele kümmern und auf die Wiederkehr des Herrn harren, von dem, Gott sei Dank, keiner weiß, wann er kommen wird. Sondern das Reich zur linken ist genauso Reich Gottes wie das Reich zur rechten. Das Reich, in dem das Evangelium regiert, ist eine bestimmte Weise, in der Gott seine Ziele durchsetzt und das Reich, durch das Gott mit dem Gesetz regiert, ist nur eine andere Weise wie Gott wirkt. Wenn wir uns in den Bereich der Politik und Gesellschaft begeben, begeben wir uns nicht in das Reich des Satans oder in einen religiös-christlich indifferenten Bereich, den wir den Kindern dieser Welt überlassen dürfen und der nichts mit Gott zu tun hat. Dies bedeutet, Ungehorsam gegen Gottes Willen. Wir haben es in allen Belangen, Ordnungen und Institutionen der Welt genauso mit dem Willen Gottes zu tun. Daher sagt Luther, daß wenn alle Christen sind, wir keinen Staat mehr brauchen, keinen Richter, keinen Henker, sondern der Christ wird der beste Bürger sein, und wenn alle Christen sind, werden auch so großartige Werte und Ideale der Aufklärung, einschließlich des Sozialismus erfüllt. Das ist sicherlich wahr. Nur, wir sind nicht alle Christen.

Luther ist daher noch einen Schritt weiter gegangen und hat gesagt, es ist zwar das beste für ein Gemeinwesen, wenn die Herrschenden Christen sind, aber es müsse nicht sein, denn diese Welt muß durch die Vernunft geleitet und regiert werden. Dieser Satz ist die eigentliche Ermöglichung der Aufklärung und aller Errungenschaften der Moderne. Es ist nicht Descartes und der Französischen Revolution zu verdanken, sondern dieser entscheidenden Einsicht Luthers, daß der Christ befreit ist zur Gestaltung der Welt unter dem Gesetz Gottes nach den Einsichten und Prinzipien der Vernunft. Es kann also aus diesem Grunde nicht sein, daß wir aus dem Christentum eine Art Ajatolla-System machen und daß christliche Fundamentalisten die Macht erringen und dem Rest der Gesellschaft ihre Glaubensüberzeugungen oder Moralvorstellung aufzwingen. Nein, sondern die Christen tragen die Verantwortung dafür, daß es in dem Gemeinwesen vernünftig zugeht. Sie müssen vernünftiger sein als die anderen. Und was die Vernunft angeht, sagt Luther, sind die Heiden in der Regel vernünftiger gewesen als die Christen, hier lohne es sich, in die Schule des Aristoteles und des Cicero zu gehen. Hier hatte Luther keine Hemmungen zu sagen, daß die antiken Heiden, was die Einsicht in die Vernunft und die vernünftige Verwaltung der irdischen Dinge angeht, den Christen in der Regel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weit überlegen sind.

Das bedeutet, daß wenn diese so durch sich selbst bedrohte moderne Welt das Beste, was sie in den letzten 200 Jahren hervorgebracht hat, bewahren und retten will, muß sie sich zu den christlichen Grundlagen und Einsichten bekennen. Aber auch, daß das bewahrenswerte der Moderne eine Sache und zur Verantwortung der Christen werden muß. Es gibt gerade bei Konservativen und Fundamentalisten, wie man sie nennt, die Meinung, daß seit der Französischen Revolution Europa von Gott abgefallen sei, und daß alle Katastrophen der Moderne das Resultat dieses Abfalls von Gott gewesen sind. Sie stellen es so dar, als seien die letzten 200 Jahre eine Geschichte gewesen, die die Menschen alleine gegen und ohne Gott gemacht haben. Das ist nichts anderes als partieller Atheismus, denn entweder ist Gott der Herr der Geschichte, dann ist er auch der Herr der modernen Geschichte, dann kann man nicht einfach sagen, diese Moderne ist gottlos oder wir sind alle, insofern wir modern sind, zum Atheismus verurteilt, sondern in dieser Welt ist Gott genauso anwesend wie im Mittelalter und in anderen scheinbar oder wirklich dem Christentum näherstehenden Abschnitten der Geschichte, und dann unterliegt auch diese Geschichte, mit allem was sie ist, der Herrschaft Gottes.

Der Zusammenbruch der modernen Ideologien, nicht nur des Sozialismus, bedeutet die offensichtliche Widerlegung des von den Menschen in Anspruch genommenen Rechtes, die Geschichte selber zu machen. Es ist die Folge der Selbstherrlichkeit des Menschen. Das ist die große Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Daher ist nicht der Anfang des Glaubens aber der Anfang aller Weisheit die Furcht des Herrn. Unsere Welt braucht Vernunft und Weisheit. Denn ohne Weisheit werden wir die ungeheueren Potentiale der Macht, die wir uns verschafft haben, nur zur Selbstzerstörung gebrauchen. Was uns vor dieser Selbstzerstörung schützen kann, ist allein die Weisheit, deren Anfang die Furcht des Herrn ist. Wenn die Deutschen eine Lektion aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus gelernt hätten, dann hätten sie dies in ihren Herzen verankert. Durch das Vergessen dieser Erfahrung sind wir in der Gefahr, eine dritte deutsche Katastrophe vorzubereiten.

Mit freundlicher Genehmigung der Gesellschaft für Kulturwissenschaft e. V. (www.gfk-web.de [1])

Der vorstehende Text ist abgedruckt in: Günter Rohrmoser, Christliche Dekadenz in unserer Zeit – Plädoyer für die christliche Vernunft, ISBN-10: 3930218283, Oktober 1996, 240 S., gebunden, 17,75 €. Das Buch kann unter www.gfk-web.de [1] bezogen werden.