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Beziehungskrisen und ihre Ãœberwindung

Freitag 22. Juli 2011 von Pfr. Bernhard Ritter


Pfr. Bernhard Ritter

Beziehungskrisen und ihre Ãœberwindung

I. Zur Entstehung von Neurosen

Wir können von Beziehung nicht reden, ohne von Identität zu reden. Identität und Beziehung sind eigentlich zwei Dinge, die zusammengehören. Das eine wirkt auf das andere, das eine bedingt das andere. Identitätskrisen sind immer auch Beziehungskrisen und umgekehrt. Wenn verheiratete Menschen kommen und Probleme haben, dann haben sie auch Eheprobleme. Das ist ein Thema, das uns seit 25 Jahren, seitdem ich diese Arbeit betreibe, begleitet. Das hat dazu geführt, dass wir uns immer mehr dem Thema Ehe zuwenden, weil das eine Katastrophe ist, was wir in Deutschland heute erleben.

Wir wollen damit einsteigen, dass wir etwas sagen zur Entstehung von Neurosen.

Zunächst zur Definition:

Neurosen sind zwanghaft gewordene Störungen im Denken, Fühlen und Verhalten eines Menschen. Gleichwohl behält er die Möglichkeit, über sich nachzudenken. Er kann sich auch in seiner Störung reflektieren, unter Anleitung zum Beispiel. Deswegen ist es auch möglich, diese Neurosen zu behandeln. Allerdings ist das ein sehr langwieriger und schwieriger Weg.

Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den Psychosen, die mehr organischen Ursprungs sind oder zumindest in ihrem psychotischen Zustand organische Wurzeln haben, die sich entwickelt haben. Diese müssen medizinisch behandelt werden, um überhaupt beeindruckt werden zu können.

Wir beschränken uns ausschließlich auf das Thema Neurosen, da wir keine Mediziner sind. Mein Stellvertreter ist Facharzt für Allgemeinmedizin, psychosomatische Krankheiten und für Psychotherapie. Insofern deckt er diese Dinge alle ab. Aber wir arbeiten bei der „Gesellschaft für Lebensorientierung“ (LEO e.V.) offiziell nicht so.

Die Neurosen haben im Wesentlichen in Kindheit und Jugend eines Menschen ihre Wurzeln, also in seiner Entwicklungszeit; ich kenne fast kein anderes Beispiel. Es können aber auch bestimmte prägende traumatische Situationen, die ein Mensch erlebt hat, zur Entstehung von Neurosen führen. Diese Erlebnisse können ihn dann psychisch so sehr beeindrucken, dass entsprechende Probleme entstanden sind. Aber unsere Erfahrung ist, dass fast alle Dinge in Kindheit und Jugend ihre Wurzeln haben. Deshalb bedenken wir diese Seite sehr intensiv.

Psychologisch gesehen ist das bedeutsamste Element der Neurosen eine unverarbeitete Kindheitstrauer. Der amerikanische Psychiater Charles Socarides hat zu diesem Thema besonders gearbeitet. Wir nennen es in unserem Sprachgebrauch und auch in unseren Papieren ein „chronifiziertes infantiles Selbstmitleid“. Das heißt: Kinder haben irgendwelche Probleme nicht bewältigt und haben durch Gewöhnung und Prägung eine Sicht von der Welt und sich selbst gewonnen, die nicht realistisch ist. Mit dieser unverarbeiteten Problemlage verbunden bleibt eine gewisse Neigung zur Traurigkeit, die sie nicht ablegen konnten und die in chronifizierter Form schicksalhaft für das Kind und später für den erwachsenen Menschen wird.

Solch eine fixierte Form des Selbstmitleides hat keine Chance, dass sie von allein wieder aufhört. Es ist nicht wie ein Schnupfen oder eine andere Krankheit, die kommt oder geht. Sondern wenn sie fixiert ist im Bewusstsein eines Menschen, wird sie dort erhalten bleiben, solange bis der Mensch aktiv dagegen arbeitet. Er muß aktiv etwas dagegen tun. Das war die Illusion der Psychoanalyse: Sie hat geglaubt, das mit dem Bewusstmachen die Dinge verarbeitet werden können. Das ist nicht richtig, denn es gibt keine Belege dafür.

Nach unserer Erfahrung ist also das bedeutsamste Element für eine Neurose ein chronifiziertes infantiles Selbstmitleid, eine Traurigkeit über sich selbst: „Ach ich Armer! Wie geht’s mir schlimm!“

Dazu kommen die von dem Individualpsychologen Alfred Adler zum ersten Mal in dieser Weise beschriebenen Minderwertigkeitskomplexe, die ein Mensch auf Grund seiner biographischen Entwicklung herausbilden kann. Dadurch, dass jeder eine eigene Biographie hat, können gegebenenfalls je eigene Minderwertigkeitsgefühle entstehen. Es lassen sich solche Gefühle also auch nicht kategorisieren im Sinne einer Phänomenologie. Jeder hat sein eigenes Problem seiner Geschichte entwickelt. Insofern ist die Behandlung von Neurosen auch immer eine Sache ganz origineller und originärer Personen, die sich der Behandlung unterziehen wollen. Das lässt sich wenig generalisieren, bis auf die Gesetzmäßigkeiten der Psyche, die man allgemein beschreiben kann.

Minderwertigkeitskomplexe und Selbstmitleid verbinden sich zu einem gewissen Mechanismus. In unseren Papieren und Arbeitstiteln sprechen wir von einem „inneren Kind“. Damit meinen wir nicht ein Kind, sondern eine Reststruktur aus der Kindheit, die wir als Kinder nicht abgelegt haben oder abarbeiten konnten. Diese hat sich dann verselbständigt und bleibt auch im Leben eines Menschen erhalten, der durchaus in der Lage ist, ein sehr intelligentes Leben zu führen. Aber er wird mit zunehmendem Alter merken, dass es in ihm auch noch einen anderen Mechanismus gibt, der ihn, gelinde gesagt, manchmal festhält und manchmal Dinge tun lässt, die er eigentlich gar nicht will und nach seinem Verstand ganz anders sieht. Aber er merkt, dass er mit seinen Gefühlsstrukturen im Clinch liegt. Das ist übrigens auch biblisch: Paulus ist einer der besten Psychologen gewesen, die wir in der Schrift finden können.

Selbstmitleid und Minderwertigkeitskomplex werden durch Gewöhnung im Gehirn fixiert. Das ist schwer verständlich. Es gibt einen Zeitraum, in dem der Mensch sich in seiner Entwicklung in diesen Gedankengängen und Gefühlen bewegt. Das ist etwa so wie bei einem Alkoholiker. Er hat lange Zeit Alkohol getrunken und war nicht abhängig. Den Tag, an dem er abhängig wurde, weiß er nicht. Das merkt er auch nicht. Irgendwann kommt der Punkt, an dem er nicht ohne weiteres mehr zurück kann, an dem er tatsächlich abhängig wurde. Genau so ist das mit solchen Mechanismen. Man lebt in solchen Gedanken, und irgendwann sind sie auch zum eigenen Wesen geworden und gehören in dieses Mit-Denken hinein. Damit haben sie die seltsame Eigenschaft, dass sie uns mitbestimmen in dem Leben, das vor uns liegt.

Dieses Selbstmitleid und der Minderwertigkeitskomplex sind der grundlegende Neurosemechanismus, von dem wir reden. Natürlich kommen noch viele weitere Details dazu, aber das finden wir in allen wieder: In der Psyche von Homosexuellen genauso wie von Depressiven, von Angstneurosen, von Zwängen, von Zwangsgedanken und allen möglichen anderen. Immer wieder finden wir diesen Mechanismus vor. Wir sprechen von einem „inneren Kind“ aus der Vergangenheit, das damals geklagt hat, heute aber zu Unrecht sich bemitleidet und beklagt, weil es ja nicht mehr Kind ist. Eigentlich hätte man es abarbeiten müssen. Man ist es aber aus den verschiedensten Gründen nicht losgeworden. Es gibt sehr vielfältige Ursachen, warum das damals nicht gegangen ist. Indem es aber zwanghaft in uns weiter existiert, wird es unser Schicksal zwanghaft mit bestimmen. Hans Bürki, der Transaktionsanalytiker aus der Schweiz, spricht von dem „Skript“, das sich immer wieder reproduziert, wenn man es einmal in sich hat, obwohl man es gar nicht möchte, das gleichsam automatisch mit mir mitlebt.

Neurosen äußern sich in der Neigung zu egozentrischen Klagen. Daran erkennt man sie. Ein ganz wesentliches Element ist es, dass es sich immer um das eigene Ich dreht: Meine Leiden, meine Probleme, meine Schwierigkeiten, meine Ängste und so weiter. Es geht immer ums Ego. Der Mensch kommt von sich nicht los. Er ist in dem Maße, wie sein „inneres Kind“ stark ist, an sich selbst gekettet und bleibt auch in seinem Denken egozentrisch bestimmt. Je stärker das „innere Kind“ ist, desto egozentrischer sind auch die Klagen des klagenden Menschen. Und je stärker die Klagen, desto mehr ist auch seine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt. Er kann nur noch weniger wahrnehmen, je mehr er mit sich selbst beschäftigt ist. Wir haben nur einen bestimmten Bereich oder eine bestimmte Möglichkeit der Wahrnehmung überhaupt, und wenn wir zur Hälfte mit uns selbst beschäftigt sind, bleibt nur noch die Hälfte für andere Wahrnehmungen übrig. Das geht bis hin zu Konzentrationsstörungen. Das sind alles Folgen des Mechanismus, der aus Selbstmitleid besteht, aber keine originären Ursachen.

Je stärker das „innere Kind“ ist, desto stärker sind auch die Beziehungen gestört. Jede sexuelle Gemeinschaft ist gestört. Ein „inneres Kind“ wird sich immer auch auf die Sexualität niederschlagen. Das ist der intimste Bereich des Menschen, in dem er am meisten von sich selbst erkennen lässt. Desto stärker ist dann aber auch seine Lebensqualität gestört. Sehr viele Menschen, die bei uns ankommen, leben mit dem Gedanken an Suizid. Früher oder später ist das ein Thema. Die Sinnfrage wirft sich auf. Das haben wir bei dem Wiener Psychiater Viktor Frankl und seiner Logotherapie gelernt.

Identität ist also ein mentales Problem, aber es ist auch ein natürliches Problem. Wir haben durch die Schöpfung eine Natur empfangen. Die Gaben, die uns Gott gegeben hat, können wir nicht ändern. Das ist eine irreversible Struktur. Das ist auch die Struktur, in der wir unser Leben entwickeln und entfalten können. Wir können uns auch keine andere Identität anerziehen. Das geht nicht. Wir können wohl unsere Identität zerstören, aber wir können sie nicht verändern.

Natürliche Identität und Beziehungsfähigkeit ist bei uns immer wieder eine ganze Woche ein eigenes Seminarthema. Darüber lässt sich unendlich viel reden, und man muss auch darüber reden, um sich selber näher zu kommen. Die natürliche Identität ist ein unglaublich weites Feld und wichtig, um mit uns in Übereinstimmung leben zu können. Ich muss Ja sagen können zu mir und zu dem, was mir Gott gegeben hat, und auch Ja sagen zu dem, was mir Gott nicht gegeben hat an Stärken, Begabungen und Defiziten.

Dazu gehört auch dies, dass Gott den einen Menschen (Singular!) als Mann und Frau geschaffen hat. Das macht deutlich, dass sie beide Teile dieses Einen sind. Sie gehören zusammen und brauchen einander und nur miteinander können sie vollkommen werden. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist, weil er nur Teil ist und weil er zu seinem Eigenen das Andere braucht. Das ist das Eigentümliche im Leben: Wir leben alle von Gemeinschaft. Der Mensch ist a priori ein Gemeinschaftswesen. Die Geschlechter beziehen sich aufeinander. Aber wir alle sind auch zugleich untereinander Originale. Es gibt keine zwei gleichen Menschen, es gibt keine zwei gleichen Bäume, es gibt keine zwei gleichen Pflanzen, es gibt nicht einmal zwei gleiche Schneeflocken. Es gibt nur Originale. Das ist eines der genialen Geheimnisse der Schöpfung an sich.

Wenig oder keine Verwendung sehen wir in den klassischen Freud-Thesen. Siegmund Freud hat von dem Verdrängungsmodell gesprochen. Es wird immer leiser davon geredet. Nachdem drei Generationen von Psychiatern darin erzogen worden sind, wissen alle, dass es das so nicht gibt. Auch das Freudsche Unterbewusstsein ist eine reine Definition ohne realistische Grundlage. Es ist bis zum heutigen Tag nicht nachgewiesen, dass es ein solches Unterbewusstsein gäbe. Deswegen sind wir auch kritisch gegenüber der Psychoanalyse. Ich habe mehrere Leute getroffen: Manche davon waren bis zu sechzehn Jahren in regelmäßiger psychoanalytischer Behandlung und wussten nach sechzehn Jahren noch nicht, was hinten und vorne und was oben und unten in ihrem Leben ist. Da gibt es in der Psychologie eine ganze Reihe Schulen in Deutschland und in der Welt, die Neurosen fördern und nicht Neurosen abbauen. Das ist unterdessen aber auch allen bewusst. Das macht die Sache aber so schwierig und hat inzwischen auch den kirchlichen Raum erreicht.

I.a. Zur Therapieform bei LEO e.V.

Ich komme nun kurz zur Therapieform bei LEO e.V. Wie machen wir das praktisch?

Wir vermitteln Methoden, wie man zu einer objektiveren Selbsterkenntnis kommt, denn es geht immer um Erkenntnisfragen. Da kein Mensch Gedanken und Gefühle eines anderen lesen kann, kann nur der betroffene Mensch selbst durch Anleitung sich selbst durchschauen lernen. Er ist der einzige, der seine Gefühle kennt, der seine Gefühle analysieren kann. Es ist glatter Humbug, dass einer von außen wirklich die Gefühle eines anderen Menschen analysiert. Da hört der Spaß auf bei den ganzen Beratungen und therapeutischen Versuchen. Wenn mir jemand etwas von Trauer erzählt, dann habe ich eine Vorstellung, was das sein könnte, was er gerade fühlt. Aber es gibt so viele verschiedene Formen von Trauer, und es gibt so viele verschiedene Formen von Ängsten. Wenn jemand von Angst redet, heißt das noch lange nicht, dass ich weiß, von welcher Angst dieser Mensch redet. Nur der Mensch, der betroffen ist, kann, wenn ich ihn gewinne, seine Gefühle mit der Zeit durchschauen lernen, denn er hat sie ja faktisch. Er weiß auch, wo sie herkommen. Er kennt auch die Wurzeln, wenn er Anschauung und Hilfe bekommt. Erst dann, wenn er sie durchschaut, kann er etwas dagegen tun. Erst dann kann er diese Zwänge, unter denen er leidet, auch auflösen, bis hin zu gravierendsten Problemen.

Wir vermitteln also Methoden zur objektiven Selbsterkenntnis und Methoden zur Behandlung des chronischen Selbstmitleides und der Minderwertigkeitskomplexe. Ziel ist die Selbstbehandlung der zwanghaften Gefühlsstrukturen. Dabei gibt es zwei kritische Punkte:

1.) Die meisten Menschen leiden an einem Mangel an Willen zur Veränderung. Darunter leiden Christen mehr als Nicht-Christen. Es gibt ein unglaublich großes Potenzial frommer Sentimentalität in unserer Kirche, das mich bis an die Decke treibt. Mit Augenaufschlag und frommsten Gerede werden übelste Gefühlsstrukturen gerechtfertigt und noch in irgendeiner Form mit dem heiligen Geist in Verbindung gebracht. Das ist eine böse Lüge: Wo der Geist des HERRN ist, da ist Freiheit und kein Zwang. Das ist einer der ganz entscheidenden Sätze, mit denen man zeigen kann, was sich in Gefühlslagen überhaupt natürlicherweise oder unnatürlicherweise entwickelt hat. Aber es gibt viele Menschen, die sagen: „Ach, ich habe so ein Gefühl, das ist nicht richtig, was Sie sagen!“ Damit ist man wieder bei seinem Gefühl; und das Gefühl wird mich immer am Nasenring dahin ziehen, wo das Gefühl hin will, nicht der Verstand. Und das ist eine andere Richtung! Bis in des Teufels Küche werden wir am Nasenring der Gefühle geführt. Wir leben in einer gefühlssüchtigen Welt, in der der Verstand Stück für Stück auf der Strecke bleibt. Dann wird das alles noch rationalisiert mit Selbstrechtfertigung. Das „innere Kind“ hat eine wunderbare Möglichkeit, Gründe zu finden, warum es richtig denkt. Man braucht einen nüchternen Willen zur Änderung und eine glasklare, geradezu kriminalistische Neigung, um seinem eigenen negativen Mechanismus auf die Sprünge zu kommen.

Nun will ich Ihnen noch etwas Unangenehmes sagen: Ich persönlich bin der Meinung, dass man nicht unbedingt von Krankheit und von großen Problemen reden muß. Aber ich glaube, dass jeder Mensch in dieser Welt seine eigene kleine Neurose hat. Wir sind alle aufgewachsen und haben Wunden und Narben in unserer Entwicklungszeit hinter uns; und nicht alle diese Dinge haben wir so 100-prozentig gut verarbeitet, dass wir sie abgelegt hätten.

2.) Der zweite kritische Punkt ist die neurotische Weigerung gegen Selbsthumor. Die wirksamste Waffe gegen Selbstmitleid ist Selbsthumor. Wir haben richtige Methoden dazu, die wir „Hypertraumatisierung“ nennen. Das werde ich jetzt nicht erklären, weil das zu weit führen würde. Der Mensch möchte gerne in seiner traurigen Welt leben und bleiben und die Dinge so ernst und verbissen sehen, wie er sie sieht. Es gibt niemanden, der mit einem starken inneren Kind zu tun hat, der mit Begeisterung sich selbst auf die Schippe nimmt. Das ist übrigens ein Kriterium der Neurosen: Die Unfähigkeit über sich selbst zu lachen. Man kann herzlich über andere lachen, aber nicht über sich selber. Das ist ein ganz großes Problem. Übrigens ist das deshalb ein so schönes Thema, weil man Selbsthumor richtig trainieren kann. Das hat auch keine unerwünschte Nebenwirkungen Da können Sie jeden Arzt oder Apotheker fragen. Auch in meiner Bibel steht geschrieben: „Seid allezeit fröhlich!“ (1.Thess. 5,16). Und nun gehen Sie einmal in die Kirchengemeinden im Lande: Dort sitzt die „evangelische Klagegesellschaft“ – EKG hieß früher unser Gesangbuch. Da ist immer vom Jammertal die Rede. Da kriegt man schon aus dem Grunde ernsthafte Probleme damit, in welcher Veranstaltung wir hier sitzen.

Heil und volle Heilung kann es aber nur durch Gott selbst geben. Heil kann nur Gott wirken. Wir können Heil nicht machen. Wir können sagen, was verkehrt ist an unserem Leben, an unserer Haltung, an unserem Verhalten. Das kann man mit klaren Kriterien auch beschreiben. Das Negative und seine Folgen kann man beschreiben, wobei wir bei LEO e.V. das Wort „negativ“ niemals moralisch verwenden. Bei uns hat der Begriff eine psychologische Bedeutung. Negativ ist, was uns kaputt macht, was destruktiv wirkt. Man kann die Neurose in ihrer destruktiven Wirkung deutlich machen. Wir vergleichen das „innere Kind“ mit einem Krebsgeschwür, das sich in unserem Leben, in unserer Psyche, in unseren mentalen Verhältnissen ausbreitet und immer stärker wird. Dummerweise wird es von alleine nicht schwächer – im Gegenteil: Es wird immer stärker. Das große Los haben wir schon dann gezogen, wenn es nicht schlimmer wird. Aber in der Regel wird es schlimmer. Deswegen brechen die Depressionen in der Mitte des Lebens auf, scheinbar wie aus heiterem Himmel. Das stimmt aber nie, weil Depressionen immer eine Vorgeschichte haben. „Wie aus heiterem Himmel hat mich jetzt eine Depression erwischt!“ oder: „Bin ich jetzt ,burned-out’?“ und so weiter. Das sind alles neu erfundene Krankheitsbilder, damit die Ärzte etwas auf die Papiere schreiben können.

Aber nichts daran ist neu. Das sind alles alte Geschichten. Auch „Burn-out“ ist ein Beziehungsproblem, und nicht ein Überarbeitungsproblem. Wer das näher kennt und sich näher damit beschäftigt, der weiß, dass es in vielfältiger Weise die gestörten Beziehungen sind, die einen Menschen am Schluss krank machen. Dann kommt er sich wie im Hamsterrad vor, weil er ohne Sinn und Verstand und ohne Beziehungen lebt. Das ist dabei ein ganz entscheidender Punkt.

II. Zur Überwindung von Beziehungsstörungen in der Ehe

Die Beziehungsstörung in der Ehe ist das psychosoziale Hauptproblem der gesamten Gegenwart. Ich halte es für das wichtigste psychosoziale Thema. Doch leider ist die Zeit längst vorbei, in der man in Deutschland auf Beziehung gesetzt hat. Wir sind kein Land mehr, in dem Ehe und Familie eine Mehrheit hat. Es wackelt alles: Wo die Ehen und Familien wackeln, da wackeln die Gemeinden. Das ist eine Einheit. Die kleinste Zelle der Kirche ist die Ehe, nicht der Hauskreis und nicht die Familie. Ehekrisen sind nur ein Spezialfall des allgemeinen Beziehungsverfalls. Wer die Ehe zur Disposition stellt, der leistet einen Beitrag zum gesellschaftlichen Selbstmord. Gesetzt den Fall, dass die momentane Entwicklung so fortschreitet, dann wird sich die deutsche Bevölkerung in Deutschland in dieser Generation halbieren, in der nächsten wird sie sich vierteln und dann achteln. Wir haben in drei Generationen spätestens einen islamischen Staat.

Weil es eine enge Beziehung zum Glauben gibt, kommen alle Lösungen von Gott her. Es gibt keine psychologischen Spezialgeheimnisse, die man hier nur einsetzen könnte. Letztendlich heilt Gott einen Menschen oder er wird nicht heil. Entweder heilt Gott eine Beziehung, oder sie wird nicht heil. Wir können lernen, wie wir manche Dinge besser machen können oder was wir falsch machen. Das kann man sich aus der Erfahrung sagen lassen. Dabei können die Wissenschaften wie die Psychologie und gelegentlich auch die Theologie helfen.

III. Zum Inhalt des Eheseminars

An dieser Stelle möchte ich Ihnen einen Überblick über unsere einwöchigen Eheseminare geben:

Wir reden am Montag über unser Selbstbewusstsein in drei großen Vorträgen. Wir sind von Gott zu einem erfüllten Leben geschaffen und bestimmt. Das muß man glaubwürdig auch erklären können. Das zweite Thema ist es, das Humanum zu klären. Das ist uns ebenfalls wichtig. Wie sieht Gott unser menschliches Verhalten? Dabei ist uns Micha 6,8 wichtig geworden: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nämlich Gottes Wort halten“. Hier finden wir den zentralen Hinweis auf das Wort Gottes. Der Angriff auf das Wort ist der Anfang vom Ende des Glaubens. „Liebe üben“: Das ist ein Dauerbrenner. Was heißt es zu lieben? Damit ist nicht eine emotionale Sentimentalität, die man in der Regel damit verbindet oder die „Halbkrankheit“ Verliebtheit, die manche so erstreben, gemeint. Diese Menschen sind noch nicht auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Sie wissen noch nicht, um was es geht. Jesus sagt: „Du sollst lieben“. Das heißt, man muß eine Haltung des Liebens entwickeln. Man muß erst einmal begreifen, was dazu gehört. Was heißt es zu lieben? Dann müssen wir es üben, wie es bei Micha 6,8 heißt. Ich bin sehr glücklich, dass es so bei Micha steht. Es kommt ja keine Schicksalsmacht durch die Luft geflogen, die den einen erwischt und den anderen nicht. Es ist schön, dass Gefühl der Liebe zu einem anderen Menschen zu erleben. Das ist aber eine Wirkung, die durch eine Haltung entsteht. So entsteht ein dauerhaftes Gefühl. Positive und aufbauende Gefühle sind immer das Ergebnis einer bestimmten geistigen Haltung. Zwanghafte Gefühle haben andere Gründe. Man kann diesen Vorgang gut an einer Neurose beschreiben. Wenn jemand unter Ängsten leidet, steht dieser Mensch frühmorgens auf und hat schon Angst. Er weiß nicht, warum er Angst hat. Angst begleitet ihn früh, tagsüber, abends und nachts – einfach immer. Er hat in sich eine Art Selbstbild, das dieses auslöst. Dazu braucht man eine Haltung, in der man sich klein und schwach fühlt: „Ich kann mich nicht wehren“. Und nur ein Mensch, der dieses Selbstbewusstsein besitzt, wird Ängste entwickeln. Aber das hat sich in dem betroffenen Menschen verselbständigt. Das müssen wir nun finden und bekämpfen im Sinne von korrigieren. Erst dann kann man das ändern. So ist auch die Liebe etwas, das in uns hineingelegt worden ist. Paulus sagt Röm.5,5: „Durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist, ist die Liebe in uns“. Sie wird Wirklichkeit, indem wir ablegen, was kindisch und albern, was einfach sentimental ist. Paulus schreibt 1.Kor.13,11 – ich liebe Paulus! -: „Als ich ein Kind war, da dachte ich wie ein Kind und redete wie ein Kind. Aber als ich Mann wurde, legte ich ab, was kindlich war“. Das muß man ablegen! Erwachsen werden heißt, dass man sich dem anderen zuwenden kann, dass man über sein Ego hinauswächst, dass man sich selber loslassen lernt. Lieben setzt voraus, dass man sich loslassen kann.

Am Abend reden wir darüber, dass Liebe und Einheit die beiden Kräfte sind, die in der Ehe entscheidend zu Wachstum und Reife führen. Diese werden durch Hingabe und Annahme vermittelt. Sie werden Wirklichkeit in unseren Herzen, indem wir uns hingeben und annehmen lernen.

Am Dienstag geht es um Wahrnehmung und Anteilnahme. Dabei geht es einmal um die Frage: „Wer bin ich?“ Das ist eine ernste Frage, denn in diesen Spiegel sehen wenige Menschen gerne. In der Regel leben wir mit den Illusionen von uns, die wir gerne verkaufen und als Masken in der Welt lieben. Diese Illusionen spielen wir auch gerne als Rolle. Wie wenig das gelingt, können Sie alle im Altersheim studieren. Es heißt gelegentlich, dass die Menschen im Alter wieder wie Kinder werden. Das ist ein platter Satz, aber er ist falsch. Sie sind immer noch wie die Kinder, wie sie eben als Kinder waren. Allerdings verliert man in der zweiten Lebenshälfte die Kraft, die Rolle aufrecht zu erhalten, mit der man das Eigentliche im Untergrund immer zugedeckelt hat. Dann kommt das hervor, was dort im Untergrund immer lebte. „Wer bin ich? Wer bist du, mein Ehepartner?“ Das ist eine ernste Frage. Wir müssen einander wahrnehmen, wer und wie wir sind. Wir brauchen Zeit zu zweit in einer Ehe. Ich plädiere sehr kräftig für diese Zeiten zu zweit. Ich habe das am Anfang meiner Ehe mit meiner Frau viel zu selten gemacht. Aber heute leben wir sehr intensiv gemeinsam.

Am Mittwoch geht es um die Mühen um die innere Einheit in der Ehe. Das bezieht sich vor allem auf das Üben einer offenen und ehrlichen Kommunikation. Beziehung geht nicht ohne Kommunikation. Das Zweite ist genauso wichtig: Nämlich die anfallenden Konflikte zu bewältigen. Durch unsere Originalität werden wir immer wieder in Missverständnisse und Erklärungsnöte kommen. Auch die Konflikte mit unserer Vergangenheit müssen bewältigt werden. Wir werden nur Frieden in uns selber haben, wenn wir Frieden mit unserer Geschichte haben. Dazu schreibt Paulus: „So weit es an euch liegt, habt Frieden mit allen Menschen“ (Röm.12,18). Mit allen Menschen heißt, mit meinen Eltern, mit meinen Kindern und gegebenenfalls auch mit früheren Ehepartnern. Das Kerngebot heißt: „Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist ein einziger Gott. Und du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele“. Das ist das Kerngebot. Wer dies lernt, nämlich Gott zu lieben aus ganzem Herzen, der wird heil. Das geht nicht aus einem verworrenen Gefühl heraus. Hier müssen wir uns um große Klarheit und Erkenntnis bemühen und immer wieder in Zucht nehmen. Aber das können wir nur selbst. Jesus zitiert das nicht umsonst als das größte Gebot. Ein Mensch, der fröhlich lebt, kann kein „inneres Kind“ entwickeln. Ein Mensch, der aktiv lebt, wird nicht der Passivität verfallen, jedenfalls solange es sich um Neurosen handelt. Es gibt noch andere Krankheiten, über die wir hier aber nicht reden.

Abends geht es noch einmal um die Vergebung und Versöhnung. Dann beten wir auch miteinander in der Kirche, und das berührt die Menschen jedes Mal in besonderer Weise. Es geht in dieser Woche um praktisches Einüben bestimmter Schritte, wie man in seiner Ehe ein erfülltes Leben gestalten und heil werden kann.

Am Donnerstag geht es um das Thema „erfüllte Sexualität“. Zunächst geht es um die Frage „Bedeutung und Sinn.“ Wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Sexualität reden? Nachmittags geht es um die Eigenschaften liebender Ehepartner. Am Abend bedenken wir die Tatsache, dass auch die sexuelle Gemeinschaft innerhalb der Ehe ein Arbeitsthema ist, das man lebendig erhalten muss, oder die Ehe wird kalt werden und sterben. Die Sexualität ist ein Charisma und ein Auftrag Gottes an die Ehepartner. Ich habe lange gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen und noch länger, um das öffentlich zu sagen. Aber genau so ist das. 40 % unserer Lebensenergie lebt in dieser Kraft. Und es ist unsere Aufgabe, eine gute Ordnung zu finden, in dieser Kraft in unserem Alltag leben zu können. Das ist kein Randthema der Ehe, sondern eine der zentralen Fragen, dass Ehe nach Gottes Willen überhaupt funktionieren kann. Was die Menschen daraus machen, davon wollen wir hier nicht reden. Wir haben aber einen Maßstab, der in der Heiligen Schrift zu finden ist. Es ist Gottes Wille, dass dies so ist. Das hat kein anderer erfunden. Einer meiner großen Schmerzen, die ich im Herzen trage, ist die Sünde der Kirche gegenüber der Sexualität der Menschen. Das hat im Wesentlichen dazu geführt, dass wir das Thema in den Satanismus geschoben haben. Hier wird das Thema okkupiert und in einer Weise gelebt, dass es mich ekelt. Dass wir diese Gabe in die Gottlosigkeit verschoben haben, ist eine Schuld der Kirche. Die Theologen unter uns studieren den Neuplatonismus und seinen Einfluss auf die Alte Kirche. Dort finden wir unglaublich viel Unsinn. Die Pfarrer haben damals gepredigt, wenn die Eheleute miteinander schlafen, zieht der Heilige Geist aus dem Schlafzimmer aus. Das waren öffentliche Verkündigungsinhalte! Das ist eine Lüge.

„Unser Leben als Eheleute in der Welt“ – das ist das große Thema am Freitag. Wir sind ja nicht für uns selber da, und es geht in der Ehe nicht um einen Egoismus zu zweit, sondern es geht um eine Sendung. Wir sind von Gott in die Welt gesetzt, damit wir die Schöpfung bebauen und bewahren. Das ist der erste Auftrag, der uns gegeben ist, der nie außer Kraft gesetzt wurde und der immer bleiben wird, bis Christus wiederkommt. Und zur Schöpfung gehört die Ehe dazu. Die Ehe ist mit dem Geschlecht von Gott geschaffen, gestiftet, sagen manche. Das gilt für die Zusammengehörigkeit und Verbindlichkeit in der Ehe, so verschieden sie in der Welt gelebt wird. Es geht also insgesamt um das gemeinsame Leben für Gott in der Welt. Wir haben mit Eltern und Schwiegereltern zu tun. Das behandeln wir in einem intensiven Vortrag.

Ebenso geht es um Kinder und Enkelkinder. Das ist ebenfalls eine wunderschöne Aufgabe, die wir haben, aber wie alle schönen Aufgaben eine schwere. Die Dünnbrettbohrer haben es in dieser Welt nicht leicht. Gott will, dass wir dicke Bretter bohren und dass wir uns die Aufgaben vornehmen, die andere nicht wollen.

Anschließend geht es am Sonnabend darum, den Bund zu erneuern. In dieser Woche reden wir vertiefend darüber, dass der Bund mit Gott und der Bund in der Ehe für uns eine Einheit ist. Bis jetzt haben sich alle Paare am Schluss dieser Woche segnen lassen wollen, unabhängig davon, welche Voraussetzungen sie hatten und wie sie gekommen waren.

Zum Schluss muss man sehen, dass man sich nach einer solchen Woche möglichst realistisch der Welt wieder zuwendet. Darum geht es am Sonntag.

Soweit die Struktur eines Eheseminars.

Nach jedem der zwanzig Vorträge folgt eine intensive Dialogzeit der Ehepartner miteinander. Sie erhalten vorbereitete Fragen, die sie miteinander besprechen und schriftlich beantworten können. Sinn und Zweck dieser Übung ist, dass die Ehepartner lernen, miteinander über reale Gefühle zu reden. So kann Nähe und Einheit geschaffen werden, die in den Alltag mitgenommen werden kann. Was daraus Wirklichkeit wird, das entscheidet jedes Ehepaar für sich selber. Die Eheleute können in dieser einen Woche lernen, dass man näher zusammenrücken kann, wenn man das Herz auftut. Wer seine Ideologien festhält, der hält sie fest.

Die Hauptfeinde der Ehe sind mangelndes Wissen über die aufbauenden Kräfte einer Ehe und mangelnde Kommunikation in der Ehe. Die Menschen gehen zehn bis zwanzig Jahre in die Ausbildung, um einen Beruf zu erlernen. Das ist nichts anderes als eine technische Funktion, mit der wir bestenfalls unser Geld verdienen. In diesen ganzen zwanzig Jahren kommt nahezu nichts davon vor, wie man in einer Ehe lebt. Noch immer glaubt man, Ehe und Familie oder Identität ist etwas, das man hat oder eben nicht hat. Dann leben die Menschen eben so, und sie werden ihre chaotischen Entwicklungen nehmen, der eine mehr, der andere weniger, je nachdem, ob man sich selbstständig damit beschäftigt.

Mangelndes Wissen halte ich also für eines der gravierendsten Probleme. Aber die Gesellschaft ist daran nicht interessiert und will davon nichts mehr wissen. Denn meisten Menschen gehen Sie damit auf die Nerven, wenn Sie davon reden. Die Menschen sagen: „Lasst mich damit in Ruhe!“ Der ehemalige Kanzler Schröder nannte das Thema „Ehe und Familie“ Gedöns: „Darüber können sich die Frauen unterhalten – wir haben damit nichts tun.“ Nun hatte Kanzler Schröder ja schon eine ganze Sammlung von Frauen. Sicher – das ist die Seite, mit der man wenig Geld verdient, aber in der das ganze Leben liegt.

IV. Zum Kern der Identitäts- und Beziehungsstörungen

Wir sind zur Gemeinschaft mit Gott geschaffen. Derselbe Augustin, der sich im Alter leider dem Neuplatonismus etwas ergeben hat, schreibt richtigerweise: „Von dir her sind wir geschaffen, und unruhig ist unsere Seele, bis sie ruht in Dir.“ Das ist die Erfahrung von jedem Menschen, der sich auf den Weg macht. Ich gehöre auch zu denen. Ich bin Christ geworden, als ich schon verheiratet war und zwei Kinder hatte. Der, der mir das Evangelium erklärt hat, war ein Physiker, ein Dozent an der Universität Leipzig. Einen Pfarrer hätte ich nie ernst genommen. Das waren alles ganz schlappe Ideologen. So kannten wir Parteisekretäre und andere: Die müssen davon reden, weil sie dafür bezahlt werden. Die braucht man nicht ernst zu nehmen. Aber die Menschen, die davon nicht lebten und die sich sogar noch Ärger einhandelten, weil sie öffentlich dafür gerade standen und das Evangelium trotzdem verkündigten, die waren für mich ernst zu nehmen. Denen habe ich damals glauben können. Ich bin dann selber Pfarrer geworden und weiß deshalb, was ich damit sage.

Der Kern alles Unheils ist unser Getrenntsein von Gott. Das gilt auch im Blick auf Identitäts- und Beziehungsstörungen. Gottlose Menschen leben gott-los. Auch viele Fromme leben absolut gott-los. Sie haben sich selber ein Gottesbild geschaffen und glauben an dieses von ihnen selbst geschaffene Gottesbild. Das ist ihre Frömmigkeit. Die Pharisäer konnten das noch viel besser. Sie haben dafür sehr viel Kraft eingesetzt und am Schluss Christus gekreuzigt. Auch in frommen Kreisen ist gelegentlich verbreitet, dass wir an falsche Gottesbilder glauben. Das Ergebnis ist immer ein Glaube an sich selber, an seine eigenen Überzeugungen.

Ich bin so kritisch, weil ich hier unter Christen sitze und weiß, dass wir alle um dieses Problem wissen. Wir müssen immer wieder unsere eigenen Gottesbilder überprüfen, ob wir uns noch mit dem lebendigen Gott auseinandersetzen oder mit Götzen, die wir selbst geschaffen haben. Und es gibt mehrere Möglichkeiten, Götzen zu entwickeln.

Das Ego wird bei einem Menschen, der ohne Gott lebt, automatisch zum Maßstab der Bewertung des Handelns: „Ich mache das, was ich für richtig halte“ – und was soll er auch sonst anderes sagen? Ein Blick auf die Welt lehrt ihn: „Jeder spinnt für sich, und ich mache es eben so, wie ich denke!“ Dieses Ego wird überbewertet. Aber vom Ursprung her sind wir so nicht gedacht. Wir haben ein Korrektiv, nämlich Gott selbst. Nur in diesem Leben in der Auseinandersetzung mit Gott werden wir in unserem Ego auch die entsprechenden Strukturen lernen und annehmen können. Jeder, der später zum Glauben findet – und jetzt rede ich wieder von mir -, hat dieses Problem, dass er sein Ego beschneiden muss. Er muß lernen, sich in diese Beziehung zu Gott hinein zu entwickeln. Stück für Stück wird er merken, wo er arrogant und gottlos dahinexistiert, obwohl er es eigentlich gar nicht will. Er muß Stück für Stück sein Leben korrigieren. Das ist eigentlich normal, dass wir auf dem Weg zur Gotteserkenntnis immer wieder auch uns selbst überprüfen müssen: Wer sind wir? Was denken wir? Was bilde ich mir ein?

Die Überbewertung des Egos ist eine Folge, die Überbewertung der Gefühle ist eine andere Folge der Gottlosigkeit. Das Programm des Glaubens heißt: „Du sollst lieben!“ Das Programm des Egos heißt: „Ich will haben!“ Das sind die Grundauseinandersetzungen aller Psychotherapien. Wir sollen lieben, wie Christus uns geliebt hat. Die Folge der Gottlosigkeit aber ist Selbstherrlichkeit: „Ich will haben! Ich will demonstrieren. Ich muß mich produzieren. Die Welt muß mich sehen, wie toll ich bin.“ Natürlich ist dies die Voraussetzung für ein völlig schräges Denken. Solange ich mich zum Maßstab mache, ist der Mitmensch nicht sicher vor mir. Ich bin zu jeder Sünde fähig. Wir müssen klar wissen, wo unsere Maßstäbe beginnen und woran wir messen. Christus ist der Maßstab. Dem habe ich mich zu unterwerfen und jeder andere auch. Gestörte Identität aber bedeutet auch gestörte Beziehung zu Gott und zur Schöpfung. Die Welt ist eben für solche Menschen ein Steinbruch für ihre persönlichen Interessen und nicht mehr Gottes Schöpfung, die sie als solche nicht mehr interessiert. Eine verbreitete Einstellung lautet: „Heute will ich leben! Ich lebe ein paar Jahre und nach mir die Sintflut. Ich will, was ich kann, mitnehmen!“ Das ist die Philosophie des marktwirtschaftlich denkenden Menschen.

In Wahrheit sind gute Entscheidungen solche, die für unsere Kinder gut sind. Das ist eine völlig andere Perspektive. Darüber hinaus sind solche Entscheidungen gut, die Gott ehren und auf Erden Frieden schaffen. Das sind Bewertungskriterien für das heutige Handeln, wenn man überhaupt nach Wahrheit suchen will.

Gestörte Identität bewirkt auch eine Störung zur Schöpfung, zur Umwelt, zu den Mitmenschen, in der Ehe. Der Feminismus ist auch nichts anderes als eine Kollektivneurose. Heilwerden gibt es nur in der Einheit mit Gott. Und die Liebe zu Gott ist der Weg zur Heilung. Wenn wir Gott lieben lernen, dann lernen wir seine Ordnungen lieben. Dann lernen wir auch die Bedeutung von Glaube, Liebe, Demut und Hoffnung. Das sind die Kernfragen, die den Menschen aufrichten. Dann lernen wir die Notwendigkeit der Gemeinschaft. Gott ist ein Gemeinschaftswesen, und genau das ist das Geheimnis. Die gesamte Schöpfung ist ein Gemeinschaftsunternehmen. Keiner kann ohne den anderen existieren. Es ist eine dumme Idee, dass angebliche Christen ohne die Gemeinde leben können. Ich stelle mir vor, dass der große Zeh sagt: „Ich und das Haupt sind genug. Den Rest brauchen wir nicht.“ Das ist eine Missgeburt, die nicht lebensfähig ist. Der große Zeh braucht den Gesamtorganismus. Darum reden wir in den Seminaren auch von Integration in den christlichen Glauben, von der Hingabe an Gott, und von der Integration in die Gemeinde. Menschen, die in der Gemeinde nicht ankommen, werden auf ihrem Weg geistlich sterben. Das ist die zweite Bekehrung, von der wir sprechen.

Hier geht es also um die Notwendigkeit der Gemeinschaft und um die Notwendigkeit, den guten Kampf des Glaubens anzunehmen, der das Negative bekämpft: „Jage nach dem Guten!“

Pfr. Bernhard Ritter, Vortrag in Kassel beim Seminartag des Gemeindenetzwerkes am 18. Juni 2011. Die Form der mündlichen Rede ist weitgehend beibehalten.

Pfr. Bernhard Ritter ist Leiter der Gesellschaft für Lebensorientierung LEO e.V. mit Sitz in Bennungen. Der Verein fördert Lebensorientierung und Unterstützung aus christlicher Verantwortung in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens. Ziel ist die Stabilisierung orientierungs- und hilfesuchender Menschen zur aktiven Bewältigung ihres persönlichen Lebens, zur aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben; insbesondere die Überwindung von Identitäts- und Beziehungsstörungen und die Förderung von Ehe, Familie und Jugend. Schwerpunkt der Tätigkeit des Vereins liegt in der pastoralpsychologischen Seminar- und Beratungsarbeit.

LEO e.V.
Breite Straße 72
06536 Südharz – OT Bennungen
Telefon: 034651 / 32768 oder 32776
E-Mail: Bernhard-Ritter@gmx.de

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Freitag 22. Juli 2011 um 9:00 und abgelegt unter Ehe u. Familie, Gesellschaft / Politik.