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Fukushima – das Ende der Kernenergie?

[1]Wüsste man nicht, wo Fukushima liegt, so könnte man meinen, die Katastrophe hätte sich mitten in Europa ereignet: 80 Prozent der Berichte in Europa stammen aus Deutschland. Nach ihrer journalistischen Gewichtung müssten die mehr als 15.000 Toten in Japan eher dem Reaktorunfall zuzuschreiben sein als dem Tsunami. So kann der unbefangene Bürger hierzulande nur zu dem Schluss kommen: Wir sind offenbar an der Grenze des technisch Be- herrschbaren angelangt und sollten diese Sackgasse schnellstens verlassen. Also nichts wie raus aus der Atomenergie! Das scheint die einzige ethisch vertretbare und auch aus christlicher Sicht verantwortbare Position zu sein! Und so sind sich inzwischen auch CDU und EKD einig: «Energiewende bitte bald!». Müssten also nicht alle Länder jetzt ganz schnell aus der Kernenergie aussteigen?

Dabei ist offenbar niemandem aufgefallen, dass diese Forderung nicht einmal in Japan von einer Mehrheit aufgestellt wird, obwohl das Land ja mit zwei Atombomben wahrhaft vorgeschädigt ist. Wenn man vorsichtig darauf aufmerksam macht, dass der Reaktorunfall in Fukushima bisher nur ein einziges Opfer mit unklarer Todesursache gefordert hat und das Krebsrisiko der dort beschäftigten Arbeiter lediglich von 25 auf 27 Prozent gestiegen ist, dann klingt das in deutschen Ohren schon fast zynisch. Würde man noch daran erinnern, dass es in den mittlerweile mehr als 11.000 Betriebsjahren westlicher Atomkraftwerke keinen einzigen Strahlen-Toten gegeben hat und das doch auf einen hohen Sicherheitsstandard schließen lässt, dann würde man wohl als Atomlobbyist eingestuft.

Zunächst zeugt es von beachtlichen Sicherheitsreserven im Design der Reaktoren, wenn alle 54 japanischen Anlagen ein Erdbeben der Stärke 9 überstanden haben, obwohl sie nur für eine maximale Stärke von 8,2 ausgelegt waren. Dabei ist ein Beben der Stärke 9 auf der logarithmischen Richterskala 32 Mal stärker als ein Beben der Stärke 8! Auch alle Reaktorblöcke in Fukushima schalteten bei Beginn des Bebens vorschriftsmäßig ab. Die Kettenreaktion war gestoppt, ein Gau wie in Tschernobyl damit ausgeschlossen. Nur die Restwärme von drei Prozent der Nennleistung in den Brennstäben infolge von Zwischenreaktionen beim Zerfall von Uran musste noch eine zeitlang abgeführt werden. Dies war dann allerdings wegen der Zerstörung der Kühlsysteme durch den Tsunami nicht möglich, obwohl man auch dafür Vorkehrungen getroffen hatte.  Inzwischen ist bekannt geworden, dass sich Japan dennoch nicht ausreichend um die Risikominimierung gekümmert hat. Man wusste, dass an der Küste durchschnittlich alle 36 Jahre eine Tsunamiwelle aufläuft, die höher als zehn Meter ist. Dennoch ist der Anlagenschutz nur auf zehn Meter ausgelegt worden. Ein solches Vorgehen wäre nach deutschen Sicherheitsstandards undenkbar, weil hier zu Recht eine weitergehende Sicherheitsreserve für eine Betriebsgenehmigung entscheidend ist.

Ganz sicher sollte man Atomkraftwerke stilllegen, die an einer Küste liegen, wo zwei Kontinentalschollen aneinander stoßen und daher schwerste Erdbeben einschließlich Tsunamis zu erwarten sind. Das wäre aber noch keine wirklich sichere Lösung. Man sollte mittelfristig nur Reaktoren einsetzen, bei denen eine Kernschmelze mit ihren schlimmen Konsequenzen physikalisch ausgeschlossen ist. Ein solcher Reaktor wurde bereits 1986 in Hamm-Uentrop in Betrieb genommen und erfolgreich getestet. Er wurde nach der Tschernobyl-Katastrophe aus politischen Gründen stillgelegt. Heute wird er in China weiterentwickelt und wohl bald eingesetzt. Dieser «Kugelhaufen»-Reaktor wird mit Thorium betrieben. Das hat viele Vorteile: Die Vorräte reichen für Jahrhunderte, und aus Thorium können keine Kernwaffen hergestellt werden. Er ist sogar sicher gegen Raketen- und Bombenangriffe und würde das Problem der Endlagerung gleich mit lösen.

Die hier als «unlösbar» geltende Endlagerung hat zum Beispiel die Schweiz dicht an der deutschen Grenze ohne großes Aufheben gelöst. Es gäbe genügend sichere Methoden auch für eine dezentrale Endlagerung, wenn man sie denn wollte. Zudem haben deutsche Physiker die Transmutationstechnik entwickelt, bei der die abgebrannten Brennstäbe durch Neutronenbeschuss künstlich gealtert werden und die Endlagerzeiten bis in den Bereich von Jahrzehnten verkürzt werden können. Von einem weltweiten Ende der Kernenergie kann also keine Rede sein. Sie wird auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zu einer kohlendioxidfreien kostengünstigen Energieversorgung leisten.

Dem überstürzten deutschen Ausstieg aus der Kernenergie wird wohl kein anderes Land folgen. Denn abgesehen von den gewaltigen Kosten für den Aufbau einer völlig neuen Energieversorgung gibt es für die Speicherung der Wind- und Sonnenenergie in Zeiten ohne Sonne und Wind nicht einmal ansatzweise wirtschaftlich vertretbare Lösungen. So müssen die stillgelegten Atomkraftwerke durch fossile Kraftwerke ersetzt werden mit allen negativen Auswirkungen auf die Kohlendioxid-Emissionen.

Wenn Deutschland diesen Weg trotzdem geht, dann muss das offenbar andere als rationale Gründe haben. In der Tat hat in den letzten 50 Jahren in Deutschland eine Entwicklung stattgefunden, die es in dieser extremen Form nirgendwo anders gab. Seit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich eine «Fortschrittsreligion» ausgebreitet, die den Menschen suggerierte, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Mit den «Grenzen des Wachstums» im Bericht des «Club of Rome» 1972 wurde deutlich, dass das naturwissenschaftlich-technische Können des Menschen seine Lebensgrundlagen bedrohte. Um also den Menschen vor sich selbst zu schützen, vollführten neomarxistische Vordenker eine radikale Abkehr von diesem Fortschrittsdenken und sahen die Lösung in einer Kultur der Angst vor der Technik und ihren Folgen. Hans Jonas rief die Natur als das «Heilige» aus, das um jeden Preis zu schützen sei. So erlebte der Sozialismus, der in den 70er Jahren eigentlich am Ende war, eine Auferstehung als ökosozialistische Bewegung, in der sich Kommunisten, Atheisten, Feministinnen, Animisten und Naturfreunde wiederfinden konnten.

Dass man Furcht politisch hervorragend instrumentalisieren kann, zeigte dann die Kampagne «Atomkraft? Nein danke!» Mit ihr hatte die «grüne» Bewegung ihren ersten großen politischen Sieg errungen. Seitdem steht der Kampf gegen die Atomkraft in der Geburtsurkunde der Grünen und ist, wie Renate Künast jüngst klarstellte, «nicht verhandelbar». Fukushima verhalf dem Ökosozialismus zur unumstrittenen politischen und medialen Meinungsführerschaft in Deutschland. Nirgends trat das offener zutage als in der nachfolgenden Berichterstattung. So kamen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zwar Vertreter von Greenpeace zu Wort, aber «keine wirklichen Experten, die den Unfall sachlich kommentieren könnten», wie der Gießener Strahlenschutzexperte Professor Joachim Breckow kritisierte. Eine solche einseitige Bewertung und Kommentierung der Ereignisse spottet journalistischen Grundsätzen, verfehlte seine Wirkung in der deutschen Öffentlichkeit aber nicht.

Die durch Atomkraft verursachten Probleme werden völlig verzerrt dargestellt. Ja, es gibt Risiken, und es ist sehr bedauerlich, dass Menschen durch das Unglück von Fukushima zu Schaden gekommen sind. Doch wie viele Menschen kommen durch andere Techniken zu Tode? Schaffen wir Kohlekraftwerke ab, weil jährlich weltweit Tausende Arbeiter bei Unfällen in den Minen sterben? Die Herausforderung, Technik sicherer und menschenfreundlicher zu machen, stellt sich keineswegs nur bei der Atomkraft.

Fassen wir zusammen: Die sinnlose Stilllegung des einzigen eigensicheren Reaktors in Hamm-Uentrop wegen eines Unfalls an einem völlig anderen Reaktortyp in Tschernobyl war nur der erste Schritt in eine angstgetriebene irrationale Energiepolitik. Heute erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt mit der Entscheidung einer christlich-liberalen Regierung, wegen eines Reaktorunfalls in Japan, dessen Umstände mit der Situation in Deutschland in keiner Weise vergleichbar sind, die derzeit sichersten Atomkraftwerke der Welt schnellstens abzuschalten.

Professor Wolfgang Leisenberg (69) ist promovierter Ingenieur und war von 2001 bis 2006 an der Fachhochschule Gießen-Friedberg Dekan für den Bereich Informationstechnik-Elektrotechnik-Mechatronik. Als Unternehmer hat er 2008 den «Hessischen Innovationspreis» erhalten. Er gehört zur Leitung einer freien Gemeinde in Gießen und hat sich in zahlreichen christlichen Initiativen engagiert, die sich für Führungskräfte in Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Wissenschaft einsetzen.

Quelle: Faktor C II/2011
Zeitschrift der „Christen in der Wirtschaft e.V.“