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Die Bewertung der Homosexualität aus der Sicht des Pietismus

Montag 27. Juni 2011 von Pfr. Dr. Rolf Sons


Pfr. Dr. Rolf Sons

Die Bewertung der Homosexualität aus der Sicht des Pietismus

Ist in unserer Fragestellung nicht schon alles gesagt? Ist nicht längst alles entschieden? Wozu braucht es noch eine Stimme des Pietismus in der Frage der Homosexualität? Die Fronten sind doch längst geklärt. Und: kommt eine solche Stimme nicht viel zu spät, nachdem Homosexualität in unserer Gesellschaft und immer mehr auch in der Kirche, wie zuletzt im revidierten Pfarrerdienstgesetz festgestellt,  Anerkennung findet? Nachdem die gesetzlichen Grundlagen geschaffen sind, dass homosexuelle empfindende Menschen in Partnerschaften zusammen leben, Kinder adoptieren und auch Eigentum an ihre Lebenspartner vererben können? Wirkt da nicht jede Stimme des Pietismus wie ein Nachhutgefecht? Ich fragte mich bei der Vorbereitung, was soll angesichts dieser Faktenlage überhaupt noch die Stimme des Pietismus austragen? Sollten wir nicht lieber schweigen? Zumal das Thema hochbrisant, emotionalisiert und kontrovers besetzt ist. Zumal die Argumente auf beiden Seiten längst vielfach ausgetauscht sind und auch in der heutigen Debatte vermutlich wenig Neues auf den Tisch kommen wird. Wäre es nicht besser, zu schweigen?

Wenn ich mich dennoch auf die Anfrage der Veranstalter positiv reagieren ließ, ist die Tatsache, dass der Pietismus zu unserem Thema eine Position vertritt, die es wert ist unabhängig davon, ob sie gesellschaftlichen Beifall bekommt, gehört zu werden. Drei Gründe sind es, die aus meiner Sicht dafür sprechen, die Position des Pietismus zur Homosexualität zu hören.

A)     Die Haltung des Pietismus ist mit guten Argumenten versehen:  Innerhalb des Pietismus fand in den letzten 20 Jahren eine intensive Beschäftigung mit der Homosexualitätsfrage statt. Dabei wurden nicht nur theologischen und ethischen, sondern auch die humanwissenschaftlichen und gesellschaftlich relevanten Argumente mit bedacht. Wer sich in die Literatur einarbeitet, wird merken, dass an dieser Stelle nicht leichtfertig, oberflächlich oder gar polemisch, sondern im Gegenteil sehr tiefschürfend und ernsthaft nachgedacht wurde. Ich meine, diese Argumente sind es wert, auch heute noch gehört zu werden. Vertreter einer pietistischen Ethik, welche homosexuelles Verhalten ablehnen sind in jüngerer Zeit Helmut Burkhardt[1] und Klaus Bockmühl.[2] Weitere Protagonisten des Pietismus, die sich zur Fragestellung deutlich geäußert haben, sind Christel Vonholdt,, Leiterin des Institutes für Jugend und Bildung in Bensheim, Markus Hofmann von Wüstenstrom und Roland Werner. Sämtliche Vertreter des Pietismus haben ein gemeinsames Interesse: Es geht ihnen nicht um Diskriminierung homosexuell empfindender Menschen. Vielmehr fragen sie nach dem Willen Gottes.

B)    Die Stimme des Pietismus ist im ökumenischen Horizont bedeutsam. Zusammen mit der orthodoxen Kirche, der Römisch-katholischen und den vielen Kirchen der Zweidrittel Welt ist sich der Pietismus in der Ablehnung homosexueller Praxis einig. Der Pietismus vertritt also nicht nur eine Sonderposition innerhalb der deutschen Kirchen, sondern eine Position, die seit der alten Kirchen bis heute von nahezu allen Kirchen vertreten wird. Es geht mir also auch um eine gesamtkirchliche, ökumenische Sichtweise.

C)    Schließlich leitet mich ein seelsorgerliches Anliegen. Es ist keineswegs so, dass alle homosexuell empfindenden Menschen mit ihrer sexuellen Orientierung glücklich sind. Zu verschweigen, dass Veränderung und auch Hilfe möglich sind, wäre meines Erachtens nicht rechtens.

Alle drei Perspektiven, die fachliche, die biblisch-theologische und auch die seelsorgerliche sollen in dem folgenden Beitrag zur Geltung kommen. Mit der theologischen Perspektive will ich beginnen:  

1.      Die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift

Im Alten Testament wird nur wenig auf homosexuelle Praxis Bezug genommen. Zu den bekanntesten Textpassagen, die eindeutig homosexuelle Vergehen apostrophieren, zählen Lev 18,22 und 20,13. Sie befinden sich im sog. „Heiligkeitsgesetz“ (Lev 17-26), einem zentralen Text der alttestamentlichen Überlieferung:

Lev 18,22f: „Bei einem Mann sollst du nicht liegen (mit einem Mann sollst du nicht schlafen), wie man bei einer Frau liegt. Ein Gräuel ist es. Und bei keinem Vieh sollst du liegen, so dass du dich an ihm unrein machst. Und eine Frau soll sich nicht vor ein Vieh hinstellen, damit es sie begatte. Es ist eine schändliche Befleckung.“

Lev 20, 13: „Und wenn ein Mann bei einem Manne liegt, wie man bei einer Frau liegt, dann haben beide ein Gräuel verübt. Sie müssen getötet werden; ihr Blut ist auf ihnen.“

Im Mittelpunkt des Heiligkeitsgesetzes steht die Selbstoffenbarung des heiligen Gottes. Gott ist heilig und Israel soll dem entsprechen.

Wir schauen uns die Worte genauer an:

„zakar“: Ludwig Köhler übersetzt: ein Mensch männlichen Geschlechts.

„schakab“: Beiwohnen, wird in Gen 19,32 für den Geschlechtsverkehr verwendet (vgl. Num 31,17).

Wir können Lev 18,22 wie folgt wieder geben: „Keine sexuelle Verbindung mit einem Menschen männlichen Geschlechts, als wäre er eine Frau, sollst du eingehen.“ Der homosexuelle Verkehr unter Männer wird damit strikt untersagt.  Dieser ist nach Sichtweise des Buches Leviticus etwas absolut Untragbares. An beiden Stellen wird dabei die Vokabel „to’ebah“ verwendet. In der Lutherbibel mit „Gräuel“ übersetzt, spricht das Wort eine absolute Tabuisierung aus. Das Wort will Abscheu erwecken. Gerhard von Rad sagt: „To’ ebah bezeichnet alles, was gegen den Willen Jahwes geschieht; jeder Verstoß gegen das Gesetz Jahwes ist ihm „deinem Gott“, ein Greuel (Dtn 17,1; 22,5; 23,19; 22,16).“[3]

Wie erklärt sich nun diese scharfe Ablehnung? Nach Karl Barth rüttle die Homosexualität  an der Gott gegebenen sexuellen Orientierung innerhalb der Ein-Fleisch-Ehe. Er sagt, dass die Homosexualität im Licht der Schöpfungslehre eine Perversion sei.[4] Tatsächlich geht es an dieser Stelle um die Perversion einer von Gott gegebenen Ordnung, nach welcher innerhalb der Ehe von Mann und Frau Sexualität ihren Platz besitzt.

Der häufig vorgebrachte Einwand, dass es sich dabei lediglich um die Ablehnung von kultischer Homosexualität, also um die Ablehnung von Kultprostitution, wie sie in Kanaan üblich war, handelt, trifft den Sachverhalt allerdings nicht. Das Verbot gilt grundsätzlich.  Es wäre für den Glauben Israels, indem Alltag und Kultus immer streng aufeinander bezogen waren,  undenkbar, nur kultische Prostitution bzw. Homosexualität abzulehnen und daneben eine „profane Homosexualität“ zu erlauben.  Auch geht es nicht um eine Weisung ausschließlich für Priester. Das ganze Volk ist angesprochen. Es soll der Heiligkeit Gottes entsprechen und dies geschieht eben auch hinsichtlich der Sexualpraxis. Israel sollte durch die göttliche Erwählung, durch den Bund und die Befolgung der Gebote Gottes der heidnischen Unreinheit entrissen werden. Es sollte ein heiliges Volk sein.[5]

Dass Israel den Unterschied machen sollte, scheint mir zentral zu sein: Innerhalb einer von Sexualität beherrschten Umwelt, in welcher der Sex Gesellschaft und Religion in hohem Maß beherrschte, sollte nach jüdischem Verständnis die Sexualität geheiligt werden, was im Hebräischen so viel heißt wie „ausgesondert aus der Welt“.[6]  „Sexualität“, so schreibt der Jude Dennis Prager, „wurde in das eheliche Bett von Mann und Frau verlagert“.[7] Das war für die Zeit des AT ebenso revolutionär wie für die Zeit des Neuen Testaments. Die jüdische, genauso wie 1000 Jahre später die christliche Zivilisation wollte sich auf diesem Wege ganz bewusst – genauso wie beim Götzendienst – von anderen Völkern unterscheiden. Dies tat es in der stärksten und eindeutigsten Sprache, die ihm möglich war. Würde man auf diesem Hintergrund die Homosexualität als eine gleichwertige, moralische oder religiöse Alternative zur Heterosexualität akzeptieren, so wäre dieses ein Angriff auf eine  jahrtausendealte Kultur.

Angesichts einer solch eindeutigen Zurückweisung homosexuellen Verhaltens lässt sich diese nur schwer, wie häufig bemerkt wird, als zeitbedingt erkennen. Tatsächlich finden sich in der Heiligen Schrift nicht nur zeitbezogene, sondern auch zeitbedingte Aussagen wie etwa, dass eine Frau lange Haare tragen soll oder dass man keine Blutwurst essen darf. Unter zeitbedingten Aussagen verstehen wir Aussagen, die in einem gewissen zeitlich begrenzten Kontext ihre Geltung besitzen. Jedoch keine generell gültige Vorschrift für alle Zeiten darstellen. Um ein solches Urteil jedoch handelt es sich bei der Homosexualität nicht. Die Verwerfung homosexueller Praxis im AT besitzt einen viel tieferen Grund. So hat schon der Alttestamentler Walther Eichrodt in den 60er Jahren geschrieben: „Die Bedeutung der alttestamentlichen Stellungnahme zur Homosexualität erschöpft sich aber nicht in einer vereinzelten Verurteilung aus einem uns nicht mehr fassbaren Empfinden antiker Sittlichkeit heraus, sondern steht mit dem alttestamentlichen Gottesbild im engsten Zusammenhang und  bekommt von daher seine tiefe Bedeutung. Denn jedem Einzelverbot entspricht ein Wissen um Gottes ursprünglichen Schöpferwillen, durch den das Verhältnis der Geschlechter seine Ordnung empfängt. Im priesterlichen Schöpfungsbericht von 1. Mose 1 erscheint die gegenseitige Ergänzung und Zusammengehörigkeit des männlichen und weiblichen Geschlechts durch die ganze Schöpfung hindurch als eine gottgewollte Grundanlage, die beim Menschen durch die Verleihung der Gottebenbildlichkeit an Mann und Weib und durch den ihnen erteilten Schöpfungssegen zur bleibenden Bestimmung des Menschen erhoben wird.“[8]

Lapidar heißt es in dem Standardwerk zur alttestamentlichen Anthropologie von Hans-Walter Wolff, das inzwischen in der 7. Auflage erschienen ist: „Die Priesterschrift bestimmt das Bild Gottes in der Welt als die des zweigeschlechtlichen Menschen…. Auch vor abnormen geschlechtlichen Verhaltensweisen wird als vor Zerspaltung des ganzen Menschen gewarnt…Die Geschlechtsdifferenzierung wird verkannt und damit die Grundweise, in Ãœberwindung der Selbstliebe zum fruchtbaren Leben zu kommen.“[9]

Beide Alttestamentler sehen die Frage der Homosexualität in unauflöslichem Zusammenhang mit dem biblischen Gottesbild. Der Mensch, geschaffen als Mann und Frau, soll das Wesen Gottes widerspiegeln. Dabei gilt, dass nicht nur der einzelne Mann oder die einzelne Frau jeweils in ihrer gesonderten Leiblichkeit zum Bilde Gottes geschaffen ist, sondern dass beide Mann und Frau gemeinsam, in ihrer Unterschiedlichkeit das Wesen Gottes repräsentieren. Hier liegt m. E. der eigentliche Kern für die Zurückweisung der Homosexualität in der Bibel. Der Mensch in seiner Polarität verweist auf das göttliche Urbild hin. Jean Vanier, der Begründer der internationalen Arche-Arbeit hat deshalb auch die Ehe von Mann und Frau als „Ikone Gottes“ bezeichnet.[10]

Vor diesem eindeutigen Hintergrund der alttestamentlichen Aussagen im Heiligkeitsgesetz und in der Schöpfungserzählung brauchte Jesus nicht zu einem gesonderten Urteil zur Homosexualität kommen. Sie war ausgeschlossen, wenn er die lebenslange Ehe als allein dem Schöpfungswillen Gottes gemäß bekräftigte (Mk 10,1-2). Darauf hat Professor Wolfhart Pannenberg in einem mutigen Artikel hingewiesen:

„Es gab lange Zeit in der evangelischen Theologie keinen schmutzigeren Begriff als die Schöpfungsordnung. Es war interessant zu beobachten, wann er wieder zu Ehren kam, nämlich bei der Diskussion um die Sonntagsarbeit. Wir können aber nicht dann schöpfungstheologisch reden, wenn sich die Interessen von Protestantismus und Gewerkschaften einmal decken, und gleichzeitig auf dem Gebiet der Sexualität eine solche Argumentationsweise als römisch-katholisch brandmarken.“[11] Diese in der Schöpfung begründete Polarität von Mann und Frau findet ihren sichtbaren Ausdruck im Leib des Menschen. Der überwiegende Teil unserer Physiologie von Eizelle und Spermien bis hin zu den Gehirnstrukturen ist komplementär zum anderen Geschlecht hin angelegt. Diese Komplementarität ist eine Grundstruktur der ganzen Schöpfung. Der Gedanke, dass auch unter Tieren Homosexualität „normal“ sei, kann demgegenüber kaum geltend gemacht werden. Er stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Fortpflanzung und Arterhaltung als absolut kontraproduktiv dar und eliminiert sich daher von selbst.[12]

Gehen wir nun innerhalb unserer biblischen Betrachtung einen Schritt weiter, so sehen wir, dass die Situation des Paulus anders war als die Situation von Jesus. Der Apostel musste seinen vorwiegend heidenchristlichen Gemeinden den alttestamentlich-jüdischen Ethos nahebringen und einschärfen. Deshalb kommt er auf die Homosexualität zu sprechen. Die drei ausschlaggebenden Schriftstellen seien im folgenden zitiert:

1Kor 6,9f: „Wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Wollüstige (malakoi: Weichlinge, die die passive Rolle beim analen Koitus einnehmen), noch Knabenschänder (asenokoitai: Männer, die mit Männern schlafen, also die aktive Rolle übernehmen), noch Diebe, noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes ererben.“

1Tim 1,9: „Das Gesetz ist bestimmt für „Gesetzlose, und Widerspenstige, für Gottlose und Sünde, für Heillose und Unheilige, Vatermörder und Muttermörder, Mörder, Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner Meineidige, und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegen steht, nach dem Evangelium….“

Röm 1,26: „Deswegen hat Gott sie dahingegeben in schändlicher Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr in den widernatürlichen Verkehr verwandelt, und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen, sind in ihrer Wollust zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen, den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst.“

Bevor wir uns den Stellen im Einzelnen zuwenden, gilt es sich einige Tatsachen zu vergegenwärtigen. Hermann Hartfeld schreibt in seiner Monografie zum Thema: „Die Evidenz homosexueller Beziehungen in der griechischen Antike wie zur Zeit des Paulus ist so überwältigend, dass er wohl unweigerlich in Korinth und anderswo mit diesem Phänomen konfrontiert wurde.“[13] Hartfeld führt eine Fülle von Belegen homosexueller Praktiken in der griechischen wie römischen Antike an. Speziell in Korinth waren der Apollo- und Aphroditekult dafür verantwortlich, das Sexualpraktiken der verschiedensten Art Gang und Gäbe waren. „Gerade weil die autoerotischen und homosexuellen Abenteuer der Götter nichts anderes als das Produkt der libidinösen Phantasie waren, ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Griechen ihre Götter im Bereich der Erotik imitierten.“[14] Darauf weißt unter anderem der in der damaligen Zeit gängige griechische Begriff „korinthiazomai“ hin, der so viel bedeutete, „leben wie die Korinther hinsichtlich sexueller Perversität.“  

Auf einem solchen Hintergrund sind nun auch die Aussagen wie in 1Kor 6 und 1Tim 1, und sicher ganz ähnlich in Rö 1, zu verstehen.

Homosexualität wird in 1Kor 6 und 1Tim 1 – übrigens genauso wie Habsucht und Dieberei –  als mit dem Reich Gottes, seinem Willen und dem Evangelium nicht vereinbar erklärt. –In der gegenwärtigen wie zukünftigen Gottesherrschaft haben Verhaltensweisen wie Unzucht, Götzendienst, Ehebruch, passive und aktive Homosexualität usw. keinen Raum, sondern allein „Gerechtigkeit und Freude und Friede im Heiligen Geist“. (Rö 14,17).

Dass es sich bei den in 1.Kor geschilderten Verhaltensweisen eindeutig um homosexuelle Verhaltensweisen handelt, hat Hartfeld in seiner Monografie überzeugend nachgewiesen. Es handelt sich demnach um Männer), die in aktive homosexuelle (arsenokoitai) und passive homosexuelle (malakoi) Verhaltensweisen verwickelt sind. Es gibt sich damit ein Bild, ganz ähnlich wie im Kontext des Alten Testament. Die junge, christliche Gemeinde lebte in einer Umwelt, welche die sakrale homosexuelle Prostitution wie auch sonstige sexuelle Perversion kannte. Eine solche sexuelle Präferenz wird als heidnisch eingestuft, von Menschen praktiziert, die den lebendigen Gott Israels und der Christen nicht kennen. Solange aber ein Mensch darin lebt, kann er das Reich Gottes nicht erlangen. Die christliche Gemeinde stellt demgegenüber eine neue Schöpfung dar. Homosexuelle, die bekehrt wurden, erfuhren mehr als Sublimation. Durch die Wirkung des Heiligen Geistes wurde ihr ganzes Leben, einschließlich der im Heidentum verhafteten Sexualität geändert.

Bei der Abwehr homosexuellen Verhaltens geht es also um mehr also nur um die Kritik an heidnischer Kultprostituion. Vielmehr um eine Lebensweise, die dem Reich und damit dem Willen Gottes entsprechen soll.

Ähnlich grundsätzlich denkt Paulus in den ersten Versen des Römerbriefes.  Gleich zu Beginn seines für die evangelische Kirche wichtigste Schreiben des Apostels,  interpretiert Paulus Homosexualität als Folge des Zornes Gottes und als Perversion, die aus der Dahingebe des Menschen resultiert. – Auch hier ist die Kritik grundsätzlich gemeint und bezieht sich nicht nur auf gelegentliches Fehlverhalten etwa im Zusammenhang des Kultus. Wie Jesus denkt auch Paulus schöpfungstheologisch. Von entscheidendem theologischem Gewicht ist dabei die Aussage „tän physiken kresin eis ten para physiken“ (vom natürlichen zum unnatürlichen, wörtlichen einem neben der Natur liegenden Gebrauch). Nach Klaus Haacker handelt es sich dabei um eine Lust, die der Menschenwürde nicht entspricht. In der homosexuellen Praxis verkehrt sich  die Geschlechtlichkeit als schöpfungsmäßig gute Gabe Gottes in deren Gegenteil und das nicht in vermeintlicher Freiheit eines starken und positiven Lebensgestaltungswillens, sondern als Verhängnis der Sünde, der Abkehr von der Heiligkeit Gottes. Somit erklärt der Apostel Homosexualität keinesfalls etwa als eine (bessere oder schlechtere) Variante, sondern – im exakten Wortsinn! – als eine „Per-Version“ von Geschlechtlichkeit.[15]

Fassen wir die Aussagen zusammen, so sollte deutlich geworden sein, dass die biblischen Stellungnahmen zur Homosexualität keine zeitbedingten Aussagen darstellen, sondern daran interessiert sind, den ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes gegenüber dem Heidentum zur Geltung zu bringen. Es greift daher m. E. zu kurz, wenn man die betreffenden Stellen mit dem Hinweis als überholt abtut, dass Paulus noch nichts von einer anlagebedingten Homosexualität wissen konnte und daher seine Aussagen zumindest zu differenzieren seien.

Diesem immer wieder vorgetragene Einwand  ist insofern zuzustimmen als Paulus von der medizinischen Forschung unserer Zeit nichts wusste. Dennoch lassen sich mit diesem Einwand seine Aussagen auch nicht einfach entkräften. Denn selbst wenn Paulus und die anderen Verfasser der biblischen Schriften von einer konstitutionellen Homosexualität, die übrigens bisher nirgends nachgewiesen wurde,  nichts wussten, so lassen deren Aussagen doch eine grundsätzlich negative Deutung erkennen. Sie beschreiben eine tiefgreifende Beziehungsstörung des Menschen zu Gott. Heinzpeter Hempelmann schreibt dazu: „Die Tatsache, dass etwas als vorfindliche, vielleicht sogar genetisch bedingte und tatsächlich unabänderliche Gegebenheit da ist, besagt nicht, dass es von Gott als eine Struktur des Lebens bejaht und gewollt ist. Die homosexuelle Lebensform ist für Paulus unabhängig von ihrer Genese und ihrer möglichen oder unmöglichen Unveränderbarkeit „widernatürlich“, steht im Widerspruch zur geschöpflichen Bestimmung des Menschen.“[16] Ulrich Eibach sagt daher meiner Meinung nach völlig zu Recht: „Das Natürliche ist keineswegs immer das Gott – Gewollte. So sind z. B. manche Krankheiten genetisch bedingt – damit aber kann man nach lange nicht sagen, dass alle erblichen Krankheiten von Gott gewollt sind. So sei etwa eine Behinderung die von Gott einem Mensch zugedachte Daseinsform. Eine solche Gleichsetzung der Natur mit  dem Werk Gottes ist theologisch illegitim, denn sie leugnet, dass uns in der Natur nicht nur die von Gott gewollte Schöpfung, sondern auch das die Schöpfung zerrüttende Übel begegnet, die Natur also gefallene Schöpfung ist. – Die mögliche Anlagebedingtheit von Homosexualität sagt mithin nichts darüber aus, ob Homosexualität nach Gottes Willen auch sein soll und wie sie ethisch und theologisch zu beurteilen ist.[17]

In all den Fragen der Bewertung von Schriftaussagen zur Homosexualität geht es letztlich um die Frage nach der Verbindlichkeit der Heiligen Schrift und der Anerkennung ihrer Autorität. In dieser Frage aber sind Pietisten in ihrem Gewissen gefangen. Es findet sich m. W. kein positiver Hinweis der Schrift im Blick auf die Homosexualität. Das Gegenteil ist der Fall. Wie aber können wir auf solchem Hintergrund zu einer positiven Bewertung kommen? Ich tue mich sehr schwer damit. Mein Gewissen ist an dieser Stellung in Gottes Wort gefangen. Ich kann die eindeutigen Aussagen nicht übersehen. Denn wer die Autorität der Bibel für sich annimmt, dem steht es nicht mehr frei, eine Auswahl aus der Bibel zu treffen und nur das als verbindlich anzunehmen, was ihm gut scheint, was die Mehrheit fordert oder der Zeitgeist wünscht. Ich möchte mich an dieser Stelle den Worten des jedes Fundamentalismus unverdächtigen Peter Stuhlmacher anschließen: „Die Bibel ist mehr als eine historische Quellensammlung; sie ist der Kanon, den sich die Kirche aus Gehorsam gegenüber dem Evangelium gegeben hat und aus dem sie heraus bis heute die Stimme Gottes und seines Christus vernimmt. Die gesamtkirchliche und individuelle Glaubenserfahrung, dass sich Gott in eigener Autorität durch das biblische Zeugnis vernehmen lässt, gibt der Bibel ihre alle wissenschaftlichen Exegese vorausliegende und transzendierende kirchliche Autorität. Biblische Schriftauslegung hat der Bibel in diesem Wahrheitsvorsprung zu dienen.“ [18] 

2. Die Aussagen der Humanwissenschaften zur Homosexualität  

Die Pioniere der Psychotherapie – Sigmund Freud, C.G. Jung und Alfred Adler – sahen alle Homosexualität als Neurose an, also als Ausdruck eines unbewussten, ungelösten Kindheitskonfliktes. C.G. Jung sagte: Homosexualität hat damit zu tun, dass der Mann seine Männlichkeit nicht aus den Tiefen seiner Psyche entwickelt hat, deshalb sucht er die Männlichkeit auf der biologischen Ebene durch sexuelle Verbindung mit einem anderen Mann.[19]

Anna Freud fand ein wichtiges Motiv für die homosexuelle Neigung beim Mann: Der homosexuelle Akt soll die in der Entwicklung des Jungen nicht gelungene Identifizierung mit der Männlichkeit herstellen. Sie entwickelte den Begriff der Homosexualität als „reparativer“ Antrieb, ein Konzept auf dem heute die reparativen Therapien beruhen. Diese Sicht, dass die Homosexualität ein Identitätskonflikt darstellt war bis in die 70er Jahre hinein allgemein gültige Lehrmeinung unter amerikanischen Psychologen. Noch 1973 war deshalb Homosexualität als emotionale Störung in der Diagnoseliste der Amerikanischen Psychiater Vereinigung zu finden.[20]

Die Tatsache, dass diese Sicht inzwischen geändert hat, sieht Christel Vonholdt vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft  weniger neuen Forschungsergebnissen als vielmehr in einem veränderten gesellschaftlichen Klima begründet.

Hat die psychologische Ursachenforschung an Gewicht in den letzten Jahrzehnten verloren, so wurde die biologische Forschung auf diesem Gebiet inzwischen stark gefördert. Dennoch hat auch diese Art der Forschung keine Klärung gebracht. Insbesondere die in den 90er Jahren verbreitete Behauptung, man habe ein sog. „Schwulen-Gen“ entdeckt, hat sich inzwischen als Fehlmeldung herausgestellt. Im Gegenteil: Martin Dannecker, bis 2006 Professor am Institut für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt/Main und Protagonist der Homesexuellenbewegung, fasst den Stand der Forschung folgendermaßen zusammen:

„Alle in der Vergangenheit angestellten Versuche, die Homosexualität biologisch zu verankern, müssen als gescheitert angesehen werden. Auch in allerjüngster Zeit wurden einmal mehr beträchtliche Forschungsanstrengungen unternommen, das ausschließliche sexuelle und erotische Interesse am eigenen Geschlecht als biologisch determiniert nachzuweisen… Bei diesen Forschungen handelt es sich sowohl um psychoendokrinologische und genetische Forschungen als auch um Hirnforschung sowie um Forschungen an monozygoten und heterozygoten Zwillingen… Diese Forschungen haben bislang nicht zu tragfähigen und konsistenten Resultaten geführt. (…) Diese immanente Kritik an der biologisch orientierten Homosexualitätsforschung bedarf jedoch einer Ergänzung. Ihr, die das Ziel hat, die sexuelle Orientierung als ein primär biologisches Phänomen zu verankern, liegt ein völlig reduktionistisches Verständnis von sexueller Orientierung zugrunde. (..) Eine sexuelle Orientierung ist aber ein hochkomplexe Angelegenheit, die angemessen nur verstanden werden kann, wenn sie biologisch, entwicklungspsychologisch, interpersonell, auf lebensgeschichtlicher Erfahrung basierend und als sozial konstruiert begriffen wird.“[21]

Eine aktuelle, im März 2002 veröffentlichte Studie, in der das gesamte menschliche Erbgut untersucht wurde, konnte keine statistisch signifikante Verbindung zwischen DNS-Strukturen und Homosexualität nachweisen.[22]

Der biologischen Forschung ist es bisher nicht gelungen eine genetisch bedingte Homosexualität zu beweisen. Auch die Ergebnisse der Zwillingsforschung sind nicht eindeutig. Untersuchungen, nach denen bei eineiigen Zwillingen bis zu 50 % beide eine homosexuelle Orientierung entwickeln, wird durch andere Studien widersprochen, die zu wesentlich geringeren Zahlen kommen. Solange wir aber statt eindeutige Beweise zu haben, nur auf Vermutungen angewiesen sind, ist es m. E. unzulässig, von einer Anlagebedingtheit der homosexuellen Orientierung zu sprechen.

Viel wahrscheinlicher als die These von der angeborenen Homosexualität glauben machen will, ist die Annahme, dass homosexuelle Gefühle erworben sind, also im Laufe der Lebensgeschichte entstanden sind. Danach geht Homosexualität auf eine frühkindliche Entwicklungsstörung zurück, die ihrerseits ihren Grund in nicht geglückten sozialen Beziehung besitzt, z. B. bei einer dominanten Mutter und einem schwachen bzw. sich entziehenden oder durch Arroganz demütigenden Vater. Dabei können sich als Folge traumatisierter seelischer Verletzungen Minderwertigkeitsgefühle und Neigung zu Selbstmitleid entwickeln, verbunden einerseits mit Distanz zur eigenen Männlichkeit, andererseits mit der Suche nach idealisierter Männlichkeit in anderen Männern. Solche und ähnliche psychologische Prozesse lassen sich in zahllosen Lebensgeschichten erkennen. In einer Meta-Analyse sämtlicher Studien stellen Fisher und Greenberg fest: Die weit überwiegende Mehrzahl der psychologischen Studien zeigt auf, dass homosexuell lebende Männer ihre Väter in der Kindheit als emotional kühl, unfreundlich, strafend, brutal, distanziert oder emotional nicht zugänglich erlebten. „Es gab keine einzige, auch nur einigermaßen gut kontrollierte Studien, die wir finden konnten, in der homosexuell lebende Männer ihre Väter als positiv oder liebevoll zugewandt beschrieben.“[23]

Mit dem emotionalen Rückzug vom Vater aber verschließt sich der Junge auch den Zugang zu seiner eigenen Männlichkeit. Außenseiterdasein und eine negative Selbstsicht verstärken diesen Impuls. Das Gefühl anders zu sein entsteht, und ist häufig verbunden mit der Sehnsucht nach einem männlichen Freund. Die mann-männliche Identifikation wird nicht mehr auf dem Weg der Integration „Ich bin auch ein Mann wie mein Vater und die anderen Jungen) gesucht, sondern nur noch auf dem der Partizipation (Wenn ich den idealen Freund habe, bin ich glücklich). Diese Suche nach dem idealen Freund ist Ausdruck eines seelischen Grundkonfliktes und wird in aller Regel nicht erfüllt.

Mit diesem entwicklungspsychologischen Modell arbeitet heute erfolgreich die sog. „Reparativtherapie““. Der Begriff stammt wie schon erwähnt von Anna Freud. Anna Freud begleitete Männer mit ich-dystoner Homosexualität, die Wege aus homosexueller Neigung suchten und fanden. Dabei bedeutet der Begriff „Reparativtherapie“ nicht, dass etwas zu reparieren wäre, sondern dass Homosexualität selbst einen reparativen Antrieb darstellt. Homosexualität ist ein Hinweis darauf, dass etwas Tieferliegendes – und zwar die Verunsicherung in Bezug auf die eigene geschlechtliche Identität heil werden soll.

Auf dem Hintergrund solcher Studien erscheint es mir äußerst fraglich, wenn Homosexualität nicht als eine Frage des Verhaltens, sondern als eine Frage der angeborenen Identität gesehen wird. Dieses Konzept einer schwulen oder lesbischen Identität, die ähnlich wie Rasse oder Hautfarbe vorgegeben sei, widerspricht nicht nur der auf biblischen Anthropologie, sondern auch neuen wissenschaftlichen Studien. In einem Artikel der wissenschaftlichen „Zeitschrift für Sexualforschung“ heißt es: „Die These einer starren, unveränderbaren sexuellen Orientierung wurde in letzter Zeit aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven in Frage gestellt, vor allem durch die Lebenslaufforschung….. Demzufolge könne sich die sexuelle Orientierung von Individuen im Lauf ihres Lebens verändern. Sexuelle Orientierung entwickelt sich in dieser Lesart kontinuierlich und wird dabei von individuellen sexuellen und emotionalen Erfahrungen, sozialen Interaktionen und kulturellen Rahmungen beeinflusst.“[24] Roland Werner kommt nach eingehenden Recherchen zu dem Ergebnis: Die These von einer angeborenen Homosexualität ist weit entfernt davon, bewiesen zu sein. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass homosexuelle Gefühle erworben sind.“[25]

Ganz ähnlich sieht der Forscher Edward Laumann an der Universität Chicago, der eine der wichtigsten repräsentativen Studien zum sexuellen Verhalten in den USA veröffentlicht hat, den Sachverhalt. Einer der wichtigsten Punkte dieser Studie ist, dass „Homosexualität als unveränderbares Merkmal fast nicht zu existieren scheint“.[26]

Die Ergebnisse solcher Studien decken sich mit Forschungsergebnissen, dass eine Veränderung sexuellen Empfindens, dort wo es gewollt wird, tatsächlich möglich ist. In den letzten Jahren machte eine Studie von Robert Spitzer, von der Columbia Universität New York Schlagzeilen. Spitzer, der 1973 an der Streichung der Homosexualität aus der Diagnoseliste beteiligt wird, kommt in einer eigenen Studie zu dem Schluss: Von 200 Männer und Frauen  hatten 66 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen eine erhebliche Veränderung erfahren und leben nun in guten heterosexuellen Beziehungen.[27]

Ich meine, wir sollten alles versuchen, um in unserer Gesellschaft den Freiraum zu erhalten, damit Männer und Frauen, die unter ihrer Homosexualität leiden und sich eine Veränderung ihres homosexuellen Potentials wünschen, Wege der Veränderung finden und in Freiheit gehen können.

3. Die seelsorgerliche Perspektive

Überblickt man die pietistische Seelsorge- und Therapieszene so lässt sich ein sehr differenziertes Bild erkennen, dass den gängigen Klischees nicht entspricht. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass durch die Diskussion der letzten, ein differenziertes und eine um Verstehen bemühte Haltung sich erkennen lässt.

Im Mittelpunkt pietistischer Seelsorge und Therapie steht daher nicht die Veränderung oder „Umpolung“ homosexueller Gefühle. Ihre Seelsorge setzt vielmehr grundsätzlicher an. Martin Grabe von der Klinik Hohe Mark schreibt: „Generell stellen wir fest, dass es in der Regeln nicht sinnvoll ist, die Sexualorientierung zum zentralen Therapiethema zu machen. Neurotische Fehlhaltungen, die das eigene Leben einengen und anderen Menschen das Leben schwer machen, gibt es bei hetero- und bei homosexuellen Menschen. In der tiefenpsychologischen Arbeit muss der jeweils vorherrschende zentrale Beziehungskonflikt eines Menschen fokussiert werde, um eine hilfreiche Entwicklung in Gang zu setzen.“[28] Nicht Umpolung ist also das Thema, sondern die grundlegenden Beziehungskonflikte von Menschen. Sollte sich herausstellen, dass Beziehungsfkonflikte eng mit dem homosexuellen Lebensweg verbunden sind, etwa dass eine dominante Mutter und ein schwacher Vater keine Möglichkeit der Identifikation mit der männlichen Rolle ermöglichte, sei es Aufgabe der Therapie, diesen besonderen Konflikt auch anzugehen. „In einer solchen Konstellation gälte es für den Betroffenen, an seine Trauer und Wut über den Vater heranzukommen, der ihn vernachlässigte und seine Rolle nicht wahrnahm, ebenso an die Wut über die dominante Mutter, die damals aus Angst vor Strafe nicht zugelassen werden durfte.“[29]

Entscheidend auf dem Weg der Veränderung ist neben der Eigenmotivation des Ratsuchenden die Tatsache, dass er an seine eigenen, ursprünglichen Gefühle herankommt. Nur so kann er auf einen Weg der Inneren Heilung kommen. Schritte dabei sind das Erkennen der tieferen Zusammenhänge, der Umkehr, der Selbstannahme, der Heilung von Kränkungen und innerer Verletzungen Etappen eines nicht leichten, aber letztendlich hilfreichen Weges der Neurorientierung.

Leicht sind solche Wege nicht, und realistischerweise muss man auch sagen, dass sie nicht immer erfolgreich sind und die homosexuelle Prägung bleibt. Gangbar aber sind solche Wege überhaupt nur unter dem Vorzeichen der vorbehaltlosen Annahme des homosexuell Empfindenden.

Aus dem Gesagten wird die große Bedeutung der seelsorgerlichen Begleitung deutlich. Störungen im Bereich der geschlechtlichen Identität sind tiefgreifend. Oberflächliche Seelsorge hilft nicht weiter. Aber auch ein billiges Festschreiben dessen, was ist. Die Zahl derer, die Veränderung wollen, ist höher als vielfach angenommen. Erfahrungen belegen jedoch eindeutig, dass Veränderungen möglich sind.  Eine christliche Seelsorge sollte daher ihre Verantwortung wahrnehmen und Homosexuelle in Barmherzigkeit und Liebe auf dem Weg der Veränderung begleiten. Die christliche Botschaft, der Annahme und Veränderung durch Jesus Christus sollte ausgerichtet werden. Diese lautet: Gott ist für dich! Er will dir begegnen, gerade auch in den Bereichen deiner tiefsten Verwundungen und Enttäuschungen. In der Begegnung mit ihm kann Heilung auch in den Tiefenschichten der Persönlichkeit entstehen. Die Kraft des Heiligen Geistes kann dich erneuern. Diese Zusage gilt jedem Menschen, auch dem homosexuelle Empfindenden.

Zusammenfassend gilt es im Blick auf die Praxis der Seelsorge Folgendes festzuhalten:

  1. Die Anwendung der Seelsorge mit dem Ziel der Veränderung hat im kirchlichen Umfeld an Homosexuellen ihre Berechtigung.
  2. Christen müssen über die Ursachen homosexuellen Verhaltens aufgeklärt werden.
  3. Vorurteile von Homosexuellen müssen abgebaut werden.
  4. Einer ganzheitlichen Sichtweise verpflichtend sollte die christliche Seelsorge Ergebnisse und Verfahren der empirischen Psychologie einbeziehen.

Dr. Rolf Sons, Tübingen, 24. November 2010, Studientag der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen


[1] Helmut Burkhardt, Ethik II/2, Gießen 2008.

[2] Klaus Bockmühl, Die Diskussion über Homosexualität in theologischer Sicht, in: ders., Leben nach dem Willen Gottes, Gießen 2006, 1-33.

[3] Gerhard von Rad, Theologie AT, Bd 1, 197.

[4] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, 166.

[5] Vgl. Helmer Ringgren, Israelitsche Religion, 292ff.

[6] Vgl. Dennis Prager, Die Ablehnung der Homosexualität im Judentum, in: Brennpunkt Seelsorge. Beiträge zur biblischen Lebensberatung, Reichelsheim 1997, 89.

[7] A.a.O.

[8]  Walther Eichrodt, Homosexualität – Andersartigkeit oder Perversion? Reformatio 2(1963, 67-82, zitiert nach: K. Bockmühl, Homosexualität in evangelischer Sicht, Wuppertal 1965, 13.

[9] HansWalter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München, 5. Aufl., 1990, 243.

[10] Vgl. Christel Vonholdt, Homosexualität verstehen. Bulletin. Nachrichten aus dem deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft, Herbst 2006, 2.

[11] Idea Spektrum 48, 1993, 13f.

[12] Vgl. Heinzpeter Hempelmann, Kirche und Homosexualität. Sieben Perspektiven, ThBeitr 25 (1994), 188.

[13] Hermann Hartfeld, Homosexualität im Kontext von Bibel, Theologie und Seelsorge, Wuppertal 1991, 96.

[14] A.a.O., 94.

[15] Klaus Haacker, Exegetische Gesichtspunkte zum Thema Homosexualität, in ThBeitr, a.a.O., 173ff.

[16] A.a.O., 188f.

[17] Ulrich Eibach, Homosexualität und Kirche, in ThBeitr a.a.O., 192ff.

[18] Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 1979, 6. 

[19] Jacobi, J., Case of Homesexuality, Journal Analytical Psychology 14, 1969, 51. Zitiert nach C. Vonholdt, Bulletin a.a.O., 11.

[20] Vgl., Vonholdt, 2.

[21] Martin Dannecker, Sexualwissenschaftliches Gutachten zur Homosexualität, in: Jürgen Basedow et al., Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, Tübingen 2000, 339f.

[22] Brian S. Mustanski et a., A genomwide scan of male sexual orientation. Human Genetics 116, 4, 2005.

[23] S. Fisher/R.P. Greenberg, Freude scientifically reappraised, New York 1996, 135f.

[24] K.K. Kinnish, Geschlechtsspezifische Differenzen der Flexibilität der sexuellen Orientierung, Zeitschrift für Sexualitätsforschung 17, 2004, 26-45.

[25] Roland Werner, Homosexualität und die Vollmacht der christlichen Gemeinde, ThBeitr 25, 1994, 232.

[26] Vgl. E. Laumann, The Social Organisation von Sexuality, Chicago 1994.

[27] Robert Spitzer, Can Some Gay Man and Lesbians change their sexual orientation? Arch Sex Behavior 32, 5, 2003, 403-417.

[28] Martin Grabe, Von „schwul – na und?“  bis zum „Gräuel vor dem Herrn“. Homosexualität in christlicher Therapie und Seelsorge, in: Psychotherapie und Seelsorge 3/2008, 22.

[29] A.a.O., 26.

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 27. Juni 2011 um 11:21 und abgelegt unter Gemeinde, Kirche, Sexualethik.