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„Grüße aus einer traumatisierten Stadt“

„Grüße aus einer traumatisierten Stadt“

CSI-Mitarbeiter Gunnar Wiebalck sandte erschütternde Grüße aus Bagdad. Gemeinsam mit John Eibner hatte er die Kirche besucht, in der am 31. Oktober 2010 über 50 Christen von Islamisten ermordet wurden und mit Überlebenden des Anschlags gesprochen. Gunnar Wiebalck berichtet aus Bagdad:

Wir waren am 11. Mai 2011 in der syrisch-katholischen Kirche Sayidat al-Nejat im Stadtteil Karrada von Bagdad. Die Gottesdienstbesucher in dem Gebäude mit dem monumentalen Kreuz im hohen Rundbogen sind am 31. Oktober letztes Jahr Ziel des bisher folgenschwersten Anschlags auf die christliche Minderheit im Irak geworden.

Blutspritzer noch und noch

Auch jetzt, sieben Monate nach dem Anschlag sind die Spuren der sich über mehrere Stunden hinziehenden Schlächterei im Inneren der Kirche noch überall zu sehen: Riesige Dellen auf dem Marmorfußboden im Altarbereich, wo die Selbstmordattentäter ihre Sprengwesten zündeten. Am Deckenputz darüber Hautfetzen und Haarbüschel. In die Sakristei, wo sich die Christen in Panik zusammendrängten, hatten die Terroristen Handgranaten geworfen. Der bis auf ein vergittertes Oberlicht fensterlose Raum ist von oben bis unten mit Blut bespritzt. An den Kirchenwänden sieht man unzählige Einschläge von Maschinengewehrsalven. Eine von Geschossen durchsiebte Metalltüre, heruntergefallene und zerbrochene Marmorverkleidungen und Putz. An einer Säule hängen die blutgetränkten Gewänder der ums Leben gekommenen Pfarrer Saad Abdallah Tha’ir und Waseem Tabeeh. In der Gruft unter der Kirche liegen sie begraben. „Gott ist Liebe“, steht auf der irakischen Fahne neben einer Vase mit Plastikblumen und ihren gerahmten Fotos. Saad und Waseem hatten im Dezember 2009 in Bagdad an einer von CSI organisierten Konferenz mit Kirchenführern und Opfern des Terrorismus teilgenommen.

„Wer sich bewegte, wurde erschossen“

CSI-Mitarbeiter Dr. John Eibner und ich interviewen Überlebende des Massakers. „Ich lag auf dem Fußboden, zwischen Lebenden und Toten, mit dem Gesicht nach unten in einer sich immer weiter ausbreitenden Lache aus Blut und Erbrochenem“, berichtete die Ärztin T. „Ich stellte mich tot, einer der Männer zog an meinen Haaren, um festzustellen, ob ich noch am Leben war … Wer sich bewegte, wurde erschossen.“

H. berichtet, wie ihr Vater im Kugelhagel starb, ihr Bruder und ihre schwangere Schwester blieben schwer verletzt liegen. Sie sind derzeit in Europa in medizinischer Behandlung. H. berichtet, dass sie selber schon 2004 bei einem Anschlag auf dieselbe Kirche verletzt worden war.

Zwei Kugeln in Baby-Bein

M., eine 16-jährige Schülerin, hat Fotos von ihrem erschossenen Bruder O. mitgebracht. „Sie töteten auch seinen dreijährigen Sohn. Der Knabe hatte sie nach dem Mord seines Vaters angeschrien, es sei jetzt genug, genug“. M. verbirgt ihre Haare ebenso wie ihre Mutter seit dem Attentat unter einer schwarzen, faltenlosen Kopfhaube. Im Bagdader Stadtteil Karrada sind unverschleierte Frauen ihres Lebens nicht mehr sicher. „Meine kleine Nichte“, sagt M. und zeigt auf ihrem Laptop auf das Bild von einem Baby mit dickem Fussverband. „Sie wurde von zwei Kugeln ins Bein getroffen“. Die Witwe von O. ist mit dem schwer verletzten Kind in ein Krankenhaus nach Europa transportiert worden. Die Eltern des ermordeten O. berichten, dass dort bereits zwei weitere ihrer Söhne Asyl bekommen haben. Im Juni 2011 werden sie ihre Söhne dort wiedersehen. Sie zeigen uns die Flugtickets für sich und ihre beiden Töchter, vier einfache Flüge. Wieder werden irakische Christen ihrer Heimat den Rücken zukehren – wohl für immer.

Gunnar Wiebalck, Christian Solidarity International [1](CSI), 31.05.2011