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Mythos frühkindliche Bildung

Mythos frühkindliche Bildung: Was die Wissenschaft wirklich sagt

Kinderbetreuungsinfrastruktur ist teuer: Ein Krippenplatz kostet in Westdeutschland mindestens 1.200 € (1). Politiker wollen diese Ausgaben als „Investitionen in frühkindliche Bildung“ verstanden wissen (2). Je früher die Bildung von Kindern beginne, desto mehr steigere sie ihre Arbeitsfähigkeit als Erwachsene und desto höher sei längerfristig die Rendite der Bildungsausgaben für den Staat. Sie berufen sich auf bildungsökonomische Modellrechnungen der Wirtschaft und der OECD. Ihre Kalkulationen setzen folgenden Wirkungszusammenhang voraus: Institutionelle Förderung verbessert die Kompetenzen junger Mensch in Mathematik, Naturwissenschaften und Textverständnis und damit ihre Chancen, höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben. Die höhere Qualifikation wiederum steigert ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. In der Folge sinkt die strukturelle Arbeitslosigkeit, was einerseits die Sozialsysteme entlastet und anderseits die Einnahmen von Staat und Sozialversicherungen steigert (3). Mehr Kinderbetreuung bringt mehr Wohlstand, lautet also das Versprechen.

Diese Gedankenketten setzen unabdingbar voraus, dass institutionelle Betreuung tatsächlich die schulischen Leistungen steigert. Überprüfen lässt sich dies nur durch aufwendige (Langzeit)Studien, die bisher nur in geringer Zahl und fast ausschließlich für den anglo-amerikanischen Raum vorliegen. Zentraler Gewährsmann der Befürworter institutioneller Frühförderung ist der amerikanische Bildungsökonom James Heckman. Seine Argumentation stützt sich auf die Evaluation amerikanischer Frühförderprogramme („early childhood intervention“) aus den 1960er und 70er Jahren. Hauptzielgruppe dieser Projekte waren Kinder aus benachteiligten afroamerikanischen Familien mit zusätzlichen „Handicaps“: Sie wiesen eine intellektuelle Minderbegabung auf, lebten in Risikolagen oder sozialen Brennpunkten. Es überrascht kaum, dass früh einsetzende Förderprogramme die Lebenschancen dieser Kinder nachhaltig verbesserten. Mit deutscher Kindertagesstätten-Pädagogik haben diese Programme allerdings wenig gemeinsam; viel eher sind sie Elterntrainings und Familientherapien vergleichbar, wie sie hierzulande die Psychotherapie und Klinische Sozialarbeit anwendet (4). Heckman überzeugen diese Programme gerade deshalb, weil sie nicht alle (nicht einmal alle sozio-ökonomisch benachteiligten) Kinder, sondern besonders vernachlässigte Kinder avisieren: Kinder, die in ihren ersten Jahren kaum Zuwendung ihrer Eltern erhalten (5). Aus seinen Erkenntnissen auf das Förderpotential deutscher Kindertagestätten zu schließen zeugt entweder von methodischer Willkür oder aber von einem zutiefst kulturpessimistischen Generalverdacht der Erziehungsinkompetenz von Eltern.

Zuverlässigere Aufschlüsse über die Effekte institutioneller Betreuung von Kleinkindern bieten Studien aus Kanada: Seit 1997 subventioniert die Regierung der französischsprachigen Provinz Québec flächendeckend „Daycare“-Angebote, während in den englischsprachigen Provinzen die Kinderbetreuung eine privat zu organisierende Angelegenheit der Eltern blieb. Damit ergab sich die historisch seltene Gelegenheit zu quasi-experimentellen Feldstudien: Forscher analysierten die Schulreife von 4-5-jährigen Kindern vor und nach dem Beginn des Tagesbetreuungsausbaus. Das Ergebnis: Die an kognitiven Kompetenzen gemessenen Schulreifewerte verschlechtern sich. Nach Ansicht der Forscher zeigen sich hierin die Effekte einer schlecht finanzierten Ganztagsbetreuungspolitik. Auch Kindern aus „bildungsfernen“ Elternhäusern scheint diese Politik nicht zu helfen: Die Schulreifewerte verschlechterten sich besonders häufig, wenn die Mutter einen niedrigen Bildungsabschluss hatte. Noch aufschlussreicher ist eine vergleichende Vorher-Nachher Studie zwischen Québec und dem Rest Kanadas zum Verhalten 2-4-jähriger Kinder und ihrer Eltern: Mit der Inanspruchnahme von Tagesbetreuung nahmen bei den Kindern sowohl Ängstlichkeit als auch Aggressivität zu (6). Auch in der US-Langzeitstudie des „National Early Child Care Research Network“ (NICHD) beobachteten Forscher eine größere Unruhe und Aggressivität von Kindern als Folge frühzeitiger außerfamiliärer Betreuung (7). Unausgeglichene Kinder sind, wie jeder Lehrer weiß, schwer zu unterrichten (8). Eine kinderpsychologische Erkenntnisse ignorierende „Frühförderpolitik“ kann so die Qualität des Schulunterrichts gefährden. Das aber kostet zwangsläufig Wohlstand. Von den unkalkulierbaren Zukunftsproblemen einmal ganz abgesehen.

(1) Nach Auskunft von Gisela Erler, Gründerin der PME Familienservice GmbH, kostet ein „guter Krippenplatz in Westdeutschland mit allem Drum und Dran“ etwa 1.400 € im Monat. Auf keinen Fall würde ein Krippenplatz weniger als 1.200 € im Monat koste. Siehe: Henrike Rossbach: „Wir erleben eine mentale Zeitenwende“, Gisela Erler, Geschäftsführerin der PME Familienservice GmbH, über alte Denkmuster und neue Chancen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. März 2007, S. 10.

(2) Zum bildungs- und familienpolitischen Kontext dieser Argumentation: http://www.i-daf.org/259-0-Woche-5051-2009.html [1].

(3) Prototypisch für diese Argumentation: C. Anger/A. Plünnecke/M. Tröger: Renditen der Bildung – Investitionen in den frühkindlichen Bereich, Köln 2007.

(4) Heckmann bezieht sich auf das „Perry Preschool Project (PPP, Experiment, 1962-1967) sowie das „Carolina Abecedarian Project (CAP, Experiment, 1972-1977). Für Heckman sind die Studien zu diesen Projekten methodisch besonders zuverlässig und wegen der sehr langen Beobachtungszeiträume sowie der Breite ihrer Ergebnisse zu kognitiven und nicht-kognitiven Erfolgskriterien besonders zuverlässig. Vgl.: Hans-Peter Heekerens: Die Auswirkung frühkindlicher Bildung auf Schulerfolg – eine methodenkritische Bestandsaufnahme, S. 311-325, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 30. Jg., 3/2010, S. 317-318.

(5) Heckman wörtlich: „The returns to early childhood programs are the highest for disadvantaged children who do not receive substantial amounts of parental investment in the early years. The proper measure of disadvantage is not necessarily family poverty or parental education. The available evidence suggests that the quality of parenting is the important scarce resource. The quality of parenting is not always closely linked to family income or parental education.“ J. Heckman: Schools, skills and synapes, IZA DP No. 3515, Bonn 2008, S. 25, http://ftp.iza.org/dp3515.pdf [2].

(6) Vgl.: Hans-Peter Heekerens: Die Auswirkung frühkindlicher Bildung auf Schulerfolg, op. cito, S. 3/2010, S. 319-320. Heekerens bezieht sich auf die folgenden Studien: Baker et al: What can we learn from Quebec´s universal childare program? Toronto 2006; Lefevre et al: Childcare policy and cognitive outcomes of children: Results from a large scale quasi-experiment on universal childcare in Canada, Montreal 2008.

(7) Vgl.: Jay Belsky et al: Are there long-term effects of early child care? In: Child Development, March/April 2007, S. 681-701.

(8) Siehe hierzu: Steve Biddulph: Das Geheimnis glücklicher Babys, München 2007, S. 69.

IDAF-newsletter 41-42/2010