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Dekan Dr. Reinhard Brandt, Stellungnahme

Sonntag 5. September 2010 von Dekan Dr. Reinhard Brandt (1956-2014)


Dekan Dr. Reinhard Brandt (1956-2014)

Stellungnahme von Dekan Dr. Reinhard Brandt zur Frage des Einschubs eines Israel-Absatzes in die Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern

 In der Kirchenverfassung der ELKB lautet der Grundartikel – an der Stelle einer Präambel, aber eben nicht „nur“ als Präambel, sondern bewusst als „Grundartikel“ gefasst – wie folgt: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern lebt in der Gemeinschaft der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche aus dem Worte Gottes, das in Jesus Christus Mensch geworden ist und in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes bezeugt wird.

Mit den christlichen Kirchen in der Welt bekennt sie ihren Glauben an den Dreieinigen Gott in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen. Sie hält sich in Lehre und Leben an das Evangelisch-Lutherische Bekenntnis, wie es insbesondere in der Augsburgischen Konfession von 1530 und im Kleinen Katechismus D. Martin Luthers ausgesprochen ist, und das die Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den Glauben um Christi willen als die Mitte des Evangeliums bezeugt.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern steht mit der ganzen Christenheit unter dem Auftrag, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen. Diesem Auftrag haben auch ihr Recht und ihre Ordnungen zu dienen.“

Nun plant die Landessynode, diesen Grundartikel durch einen Israel-Absatz zu ergänzen, also zwischen dem ersten Absatz zum Wort Gottes und der Heiligen Schrift und dem zweiten Absatz über die Bindung an die altkirchlichen und die lutherischen Bekenntnisse einen weiteren Absatz einzufügen:

„Mit der ganzen Kirche Jesu Christi ist sie aus der tragenden Wurzel des biblischen Israel hervorgegangen, sie bezeugt mit der Heiligen Schrift die bleibende Erwählung des Volkes Israels und weiß sich dem jüdischen Volk geschwisterlich verbunden.“

Mit einem Schreiben der Synodalpräsidentin und des Landesbischofs vom 22. Juni 2010 an alle Kirchengemeinden, Dekanate, Einrichtungen und Ausbildungsstätten der ELKB wurde das Vorhaben vorgestellt und um Stellungnahmen dazu bis 31.10. bzw. bis Ende des Jahres 2010 gebeten. Dabei waren Erläuterungen „Was soll an der Kirchenverfassung geändert werden?“ beigefügt, die in die Urteilsbildung einbezogen werden müssen.

Der Ort in der Kirchenverfassung und das Gewicht des vorgeschlagenen Einschubs verlangen eine besonnene, aber auch grundlegende und umfassende Behandlung der damit verbundenen Fragen.

Vorbehaltlos positiv zu unterstützen ist das Anliegen, sich abzuwenden von einer antijüdischen Auslegungstradition, die lange Zeit das Denken geprägt hatte. Nicht nur wegen ihrer unheilvollen Folgen, sondern um der recht verstandenen Grundlagen des christlichen Glaubens selbst willen ist diese Tradition zu kritisieren und abzutun. Die bayerische Landeskirche hat (mit anderen evangelischen Kirchen in Deutschland) das Verdienst, sich dazu immer wieder deutlich zu äußern. Gerade dem bayerischen Landesbischof kommt dazu auf Grund seiner Person eine besondere Bedeutung zu.

Zwei andere, davon sorgsam zu unterscheidende Fragen sind, ob es nötig, zielführend und sachgerecht ist, einen Absatz dazu in den Grundartikel der Kirchenverfassung aufzunehmen; und ferner, ob die vorgeschlagene Formulierung der Komplexität der theologischen Fragestellung gerecht wird. Im Blick darauf gibt es zunächst eine Reihe von ungeklärten Fragen, die aber dringend der Klärung bedürften, dann aber auch eine Reihe von Bedenken und Einwänden, die gegen die vorgeschlagene Novellierung der Kirchenverfassung sprechen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Aspekte und ohne ihre umfassende Behandlung will ich einige Punkte andeuten, an denen Klärungsbedarf besteht und an denen Einwände nötig sind:

1)
Es ist ein bewährter Grundsatz gerade lutherischer Kirchenverfassungen, dass der Bekenntnisstand – eben dieser ist im Grundartikel der Verfassung wiedergegeben! – nicht der Gesetzgebung unterliegen. Welche Gründe gibt es, dass dieser gute Grundsatz nun aufgegeben wird?

* Gibt es dazu ein Rechtsgutachten mit einer einschlägigen Erörterung? Warum wird dieses nicht den Kirchenvorständen und Gremien vorgelegt, die eine Stellungnahme abgeben sollen?

* Will man unbedingt durch die Kirchenverfassung die Beziehung zu den Vertretern der jüdischen Kultusgemeinden stärken, dann böte sich z.B. nach dem Art. 6 über die „Stellung zu anderen Kirchen …“ der Einschub eines Art. 6a mit der Stellung zum Judentum an: unter Ausklammerung der wirklich schwierigen hermeneutischen Fragen (s.u.), aber als ein (hinreichend) deutliches Signal nach außen wie nach innen.

* Die Gremien, die jetzt Stellung nehmen sollen, sollten erfahren, ob diese und ggf. andere Alternativen geprüft wurden und welche womöglich zwingenden Gründe es waren, sie zu verwerfen und vielmehr den massiven Eingriff in den Grundartikel vorzusehen?

2)
Gegenüber jenem rechtsdogmatischen Grundsatz behilft sich die Synode nun damit, dass sie versucht, durch ein Stellungnahmeverfahren „eine klare Mehrheit in der Kirche“ zu bekommen. Doch daran richten sich vier Rückfragen:

* Das Verfahren lehnt sich durch seine Begründung und bis in die Wortwahl hinein an das Vorbild eines Magnus Consensus in CA 1 an: „Ecclesiae magnu consensu apud nos docent …“. Kritisch einzuwenden ist jedoch, dass der Magnus Consensus (wie bei den Konfessoren von Augsburg eine in langen Prozessen errungene) Einmütigkeit voraussetzt und nicht über eine letztlich doch parlamentarische „klare Mehrheit“ (so das Anschreiben!) zu fassen ist.

* Ferner: Warum sind im Anschreiben der Synodalpräsidentin und des Landesbischofs nur die Kirchengemeinden und die Dekanate mit ihren (presbyterial-synodalen) Gremien angeschrieben und nicht extra alle Geistlichen? Polyzentrisch, wie das Lehramt in den evangelischen Kirchen organisiert ist, wären auch sie eigens zur Stellungnahme aufzufordern, denn gerade sie sind durch ihre Ordination so an Schrift und Bekenntnis gebunden, wie sie in den Grundartikeln der Kirchenverfassung benannt sind.

* Wenn man auf einen Magnus Consensus abzielt, dann muss dieser aktiv erklärt werden. Im Sommer 1530 galt dieser Magnus Consensus genau bei den Kirchentümern, die die CA unterschrieben hatten. Um den Vorgang zu illustrieren: Die Städte Memmingen und Schweinfurt hatten (aus unterschiedlichen Gründen) 1530 die CA noch nicht unterschrieben, daher galt sie (zu diesem Zeitpunkt) bei ihnen nicht. Hingegen führt ein Verfahren wie jetzt verfügt – Schweigen wird als Zustimmung gewertet! – zu einem erschlichenen Konsens, der eben kein Magnus Consensus ist.

* Daher: warum kann das Schweigen nicht als das gewertet werden, was es ist?: Es gibt aus unterschiedlichen Gründen eben keine Stellungnahme! Etwa, weil die KVs parallel dazu mit vielen anderen Aufgaben befasst sind (im Frühherbst 2010: Stellungnahmeverfahren zur Umsetzung der Landesstellenplanung)! Oder weil sie sich durch die Komplexität des Themas überfordert sehen? Oder weil die Befassung mit einem Israel-Artikel nicht vordringlich erscheint, zumal wenn vor Ort das Thema in der gemeindlichen Wirklichkeit nicht vorkommt! Warum kann man diese Gründe für eine Nicht-Behandlung im KV nicht gelten lassen, sondern will einen Magnus Consensus durch die Hintertür erschleichen?

3)
Im gesamtkirchlichen Kontext ist zu fragen: Warum muss jede Kirche ihr Anliegen extra formulieren? Warum gibt es nicht einen gemeinsamen Vorschlag der lutherischen Kirchen in der VELKD für eine Formulierung, die dann auch nach allen Seiten hin sorgsam abgewogen ist – sorgsamer, als dies jetzt jedenfalls der Fall ist. Wie haben andere Landeskirchen das Anliegen aufgenommen? Hat die jetzt vorliegende Novelle dem theologischen Ausschuss der VELKD zur Stellungnahme vorgelegen? Oder gibt es das Gutachten einer theologischen Fakultät dazu? Das wären zwei herkömmliche, auch heute sinnvolle Möglichkeiten der professionellen Absicherung! Leider sind weder in den Erläuterungen noch im Intranet, auf das in diesen verwiesen wird, zu all diesen Fragen Angaben vorgehalten.

4)
In den Erläuterungen heißt es, der Einschub eines Israel-Artikels hätte „deklaratorischen“ Charakter. Was heißt das? Im Absatz zuvor (dem ersten Absatz des Grundartikels) wird die Bindung an das Wort Gottes in der Heiligen Schrift bekannt; im Absatz danach geht es um die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, die lutherischen Bekenntnisschriften und die Rechtfertigung des Sünders. Diese Absätze zu Schrift und Bekenntnis sind eindeutig konfessorischen Charakters!

Ein Israel-Absatz deklaratorischen Charakters wirkt darin nicht nur wie ein Fremdkörper, sondern ist es auch. Oder er gewinnt irgendwann, wenn alle Erläuterungen vergessen sind, entgegen den Beteuerungen jetzt doch konfessorischen Charakter und wird zum verpflichtenden Bekenntnis unserer Kirche. Darauf deutet auch jetzt schon die Charakterisierung im Anschreiben: Es soll um das gehen, „was in der Kirche geglaubt wird“ und damit auch zu glauben ist.

5)
Inhaltlich ist in dem vorgeschlagenen Text zunächst das biblische Bild von der Wurzel, dem Stamm und den Zweigen des Ölbaums aus Röm. 11,17-24 aufgegriffen. Das ist in keiner Weise zu kritisieren, auch nicht der damit verbundene Hinweis in den Erläuterungen, sich nicht über Israel zu erheben (vgl. Röm. 11,24). Auch muss man in der Tat, und zwar in spezifischer Weise, von der „bleibenden Erwählung“ Israels sprechen: „im Blick aber auf die Erwählung sind sie [sc. Israel] Geliebte um der Väter willen“ (Röm. 11,28).

6)
Wenn es jedoch in der Verfassungsnovelle dazu heißt, die Kirche bezeuge dies „mit der Heiligen Schrift“, so ist dies zutreffend, zeigt damit aber ebenso heimlich verdeckt wie in der Sache präzise das hermeneutische Problem an. Denn: Es heißt nicht (!) „mit der ganzen Heiligen Schrift“ – und das dürfte und könnte es auch nicht heißen, weil es viel zu unterschiedliche Aussagen über Israel und seine Erwähnung in der Heiligen Schrift gibt:

* alttestamentlich schon die Kritik der Propheten und die Rede von nur einem „Rest“, der umkehrt;

* im Johannesevangelium durchgängig die Charakterisierung der „iudaioi“ als Negativfolie bis zu Spitzenaussagen wie Joh. 8,44;

* in der Johannesapokalypse – man wagt kaum noch, den biblischen Text zu zitieren – die „Synagoge des Satans“ (Apk. 2,9; 3,9);

* im Galaterbrief die scharfe Auseinandersetzung mit denen, die eine weitere Geltung des mosaischen Gesetzes postulieren;

* im Römerbrief in dem Abschnitt Röm. 9-11 (von den Befürwortern der Gesetzesnovelle besonders herangezogen!) die Unterscheidung zwischen dem Israel nach dem Fleisch und dem Israel nach der Verheißung: „Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen; auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder“ (Röm. 9,6 ff.);

* eben das begründet Paulus, indem er Gottes freie Gnadenwahl einschärft, eine der für lutherische Theologie entscheidenden Stellen in genau diesem Abschnitt des Römerbriefs (Röm. 9,14 ff.);

* und selbst in Röm. 11 differenziert Paulus und spricht davon, „dass einige übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade“ (11,5): „einige“, nicht „alle“!

7)
Die hermeneutische Aufgabe, auch mit solchen, manchmal auch sperrigen Texten im gesamten Kontext der Heiligen Schrift umzugehen, darf nicht übersprungen werden. Man muss sich ihr vielmehr immer wieder stellen in der großen Spannbreite der biblischen Aussagen. Aufgabe der Kirchenleitung wäre es, die Herausforderung bei der Auslegung biblischer Texte einzuschärfen.

Demgegenüber stellt der vorgeschlagene Einschub eine Engführung dar, die eine bestimmte Interpretation zum Grundartikel der Verfassung erhebt und „deklariert“ als das, was geglaubt wird und zu glauben ist in der Kirche.

Laut den Erläuterungen sollen die von Paulus in Röm. 9-11 entfalteten theologischen Grundlagen maßgeblich für Lehre und Predigt werden. Schon das gibt Anlass zu Rückfragen: Warum diese und nur diese Auswahl aus dem Kanon? De facto sind es dann einzelne Verse und ausgewählte Spitzenaussagen aus Röm. 11, die nun mittels der Verfassung in der ELKB zum Interpretationsmaßstab für die ganze Heilige Schrift werden sollen.

8)
Zu erwarten wäre, dass das Gewicht und die Bedeutung dieser theologischen Entscheidung, wenn sie denn von der Synode bzw. zunächst von dem gemischten Ausschuss so gewollt wird, unmissverständlich deutlich gemacht wird. Indes: Weder das Anschreiben an die Kirchenvorstände noch die beigefügten Erläuterungen zur Novelle thematisieren die hermeneutische Aufgabe und die hermeneutische Entscheidung, die mit dem Textvorschlag der Verfassungsnovelle verbunden ist. Vielmehr argumentieren sie nur appellativ und verweisen „zur biblischen Begründung auf Röm. 11, wo zweifellos die deutlichsten Aussagen des Neuen Testaments zur bleibenden Erwählung Israels zu finden sind“. – Das ist zwar richtig, jedoch nur deshalb, weil an anderen Stellen eben nicht von der bleibenden Erwählung Israels gesprochen wird! Diese selbstbezügliche Schleife der Argumentation, in keiner Wiese reflektiert, unterschlägt das hermeneutische Problem!

9)
Ein Grundsatz lutherischer Hermeneutik ist, dass die Heilige Schrift sich in ihrer Wahrheit und Orientierungskraft selbst erschließt („scriptura sui interpres“) und dass die Kirche auf diese selbsterschließende Kraft des Evangeliums vertrauen kann. Dies wird theologisch immer wieder eingeschärft unter Bezug auf Röm. 1,16: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“

Entsprechend wurde in der lutherisch geprägten Verfassung der ELKB bisher in gelungener Architektur der Grundartikel so gestaltet, dass auf Jesus Christus als das Mensch gewordene Wort Gottes und dann auf die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes verwiesen wird, während im nächsten Absatz die altkirchlichen Bekenntnisse und die evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften genannt werden, die ihrerseits auf die Schrift als „einzige Norm und Richtschnur“ verweisen.

Warum traut man dem Neuen Testament und auch dem Römerbrief des Apostels Paulus nicht zu, sich selbst auszulegen und Geltung zu verschaffen, und will in einer grundlegenden, aber doch einzelnen Frage einen Interpretationsmaßstab festlegen?

Mit der Fixierung auf eine einzelne Bibelstelle als Interpretationsinstanz und der Ausblendung der Breite des biblischen Zeugnisses wird man dem Vorwurf, man sei kein Vollhörer der Heiligen Schrift, wenig mehr entgegensetzen können. Umgekehrt: All das, was an dem geplanten Einschub richtig und sinnvoll und nützlich ist, das ist im Grundartikel – in dem Hinweis auf das Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes – bereits enthalten.

10)
Zum vorgesehenen Einschub gehört auch noch die Formulierung, dass sich die Kirche „dem jüdischen Volk geschwisterlich verbunden“ weiß. Dazu folgende Rückfragen und Einwände:

* Der Begriff „Volk Israel“ kommt in dem kurzen Einschub zweimal vor, und zwar je in völlig unterschiedlichem Kontext und Gebrauch. Schon das wird zu den größten Missverständnissen führen! Im ersten Fall (Erwählung) ist es eindeutig ein theologisch gefüllter Begriff in einer eschatologischen Verheißung, im anderen Fall (Verbundenheit) ist es ein vielfach oszillierender Begriff:

* Wie schwierig es ist, Israel als „Volk“, „Land“ und „Staat“ bzw. „staatliche Einheit“ voneinander abzugrenzen, lernt man schon im alttestamentlichen Seminar und bei jedem Besuch in Israel heute, und zwar auch bei säkular gesonnenen Israelis. Daher die dringende Frage, wie der Volk-Begriff in der Novellierung genau verstanden werden soll: als enge (wie unter Geschwistern!) Verbundenheit und Loyalität auch gegenüber dem heutigen Staat Israel? Möglicherweise nicht, doch wenn das nicht: was dann? Wie immer man die derzeitige Politik Israels gegenüber den Palästinensern beurteilt – das kann und darf jedenfalls keinen Verfassungsrang bekommen!

* „Geschwisterlich“ wissen wir uns laut dem vorgeschlagenen Text verbunden – der Begriff zeigt eine wechselweise Bindung und Beziehung an. Daher die Frage: Weiß das Geschwister davon und will es selbst diese Verbundenheit? Durchaus an etlichen Orten lauten die Signale jedenfalls anders!

* Zur Geschwisterlichkeit gehört der offene Umgang miteinander. Wurde die Verfassungsnovelle, die das Verhältnis zu ihnen neu klären soll, den Vertretern der jüdischen Kultusgemeinden in Bayern vorgelegt und wie äußern diese sich dazu? Wenn es solche Äußerungen gibt, warum werden diese dann im jetzigen Stellungnahmeverfahren nicht zugänglich gemacht?

11)
Eine der inzwischen grundsätzlich strittigen theologischen Fragen in diesem Zusammenhang ist, ob „Israel“ grundsätzlich auch der Adressat der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ist oder ob Gott für sie einen anderen Heilsweg (die Beachtung der Thora) vorgesehen hat. Auch wenn deutsche Christen bis in die dritte und vierte Generation nach dem Holocaust sicher nicht als solche Verkündiger in Frage kommen, stellt sich die Frage doch grundsätzlich, etwa im Blick auf norwegische Christen oder messianische Juden.

Mit dem geplanten Einschub in die Kirchenverfassung wird die Frage nicht beantwortet, sondern verschärft: Wie verhält sich „die bleibende Erwählung des Volkes Israels“ zu dem in demselben Grundartikel zwei Absätze später genannten „Auftrag, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen“? Durch die geplante Novellierung wird eine systematische Unschärfe erzeugt, die aber gerade nicht maßgeblich für Lehre und Predigt sein darf!

Resümee: Unstrittig war und ist es nötig, richtig und wichtig, dass die Kirchen sich nach dem Holocaust neu auf ihr Verhältnis zu Israel besonnen haben und besinnen. Dass dies eine Aufgabe ist, die auch den Synoden in ihrer breit angelegten Meinungsbildung zukommt, ist ebenso unstrittig. Dieser Aufgabe der Kirchen, sich nach dem Holocaust neu auf ihr Verhältnis zu Israel zu besinnen, ist die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern in ihrer Synoden-Erklärung von 1998 nachgekommen. Es gilt, deren Inhalte mit Leben zu füllen.

An einen Text, der Bestandteil einer Verfassung und dort Teil der Grundartikel werden soll, sind indes weit höhere Anforderungen zu stellen. Diesen Anforderungen an Klarheit und Wahrheit genügt der vorgeschlagene Einschub nicht. Er lässt – auch zusammen mit seinen Erläuterungen – zu viele Fragen offen und er produziert selbst Missverständnisse. Er gibt Anlass zu grundlegenden Einwänden, Bedenken und Kritik. Und es bleibt schwebend unbestimmt, welche Funktion für die Lehre und Verkündigung der Kirche ein Israel-Einschub in der Kirchen­verfassung haben soll: nicht als positives, gesetztes Recht, aber doch in irgendeiner Weise mit normierender Kraft: „was in der Kirche geglaubt wird“. (Was würde das zum Beispiel künftig bei Beurteilungen heißen?)

Angesichts all der benannten Fragen und Einwände halte ich es aus exegetischen, hermeneutischen, systematisch-theologischen, rechtsdogmatischen und auch politisch-diplomatischen Gründen nicht für sinnvoll, dass der Israel-Artikel – zumal in der geplanten Formulierung – Eingang in den Grundartikel der Kirchenverfassung findet.

Dr. Reinhard Brandt
Dekan in Weißenburg (Bay.)
18.07.2010

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Sonntag 5. September 2010 um 14:35 und abgelegt unter Gemeinde, Theologie.