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Evangelische Kirche hat sich arrangiert

Evangelische Kirche hat sich arrangiert

Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 2010, dass die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Entdeckung schwerer genetischer Schäden des extrakorporal erzeugten Embryos nicht strafbar sei (Pressestelle des BGH Nr. 137/2010), sehen Kritiker als Beginn „einer neuen Zeitrechnung der Fortpflanzungsmedizin in Deutschland…weg vom bisherigen Schutzgedanken, hin zu selektiver Willkür, die menschliches Leben den Wunschvorstellungen seiner Erzeuger“ opfert (Weihbischof A. Losinger, Augsburg, Mitglied des Deutschen Ethikrates). Was ist dran an dieser Kritik, oder anders gefragt, läßt sich die PID überhaupt mit dem christliche Ethos vereinbaren?

Stellen wir uns das Verfahren kurz vor Augen. Bei der PID versucht man durch Entnahme einer Zelle von einem „in vitro“, also im Reagenzglas erzeugten Embryo Erbkrankheiten oder Auffälligkeiten im Chromosomenbestand zu finden, und zwar bevor er in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Ist der Befund positiv, läßt man den Embryo absterben oder tiefgefrieren, werden keine Auffälligkeiten gefunden, wird er in die Gebärmutter eingesetzt.

Vom christlichen Menschenbild her gesehen, brechen hier und überhaupt an der modernen Fortpflanzungsmedizin viele Fragen auf: Ist es mit der dem Menschen von Gott verliehenen Würde (1 Mose 1,26) vereinbar, dass die Zeugung eines Menschen aus der personalen Vereinigung von Mann und Frau herausgenommen und in ein Reagenzglas verlagert wird? Welches Rechtsgut steht eigentlich höher, das unbedingte Lebensrecht jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seinem Alter und seinem gesundheitlichen Befund, oder das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung von Erbkrankheiten bzw. das Interesse der Eltern an einem möglichst gesunden Kind?

Bis zum BGH-Urteil vom 6.7.10 konnte die Rechtslage zugunsten des Lebensschutzes ausgelegt werden. Das 1990 erlassene Embryonenschutzgesetz stand der Anwendung der PID in Deutschland entgegen. Zwar hatte sich schon 2003 der „Nationale Ethikrat“ für eine begrenzte Zulassung ausgesprochen, aber sie blieb bis jetzt bei uns verboten. Nun aber herrscht eine neue Rechtslage. Was Stammzellforscher wie Oliver Brüstle schon seit Jahren fordern, nämlich „einige wenige der hunderttausendfach verworfenen überzähligen Eizellen zu nutzen, um potentiell therapeutisch relevante Zelllinien herzustellen“ (Rhein. Merkur vom 19.3.2008), das ist nach dem BGH-Urteil nun  auch möglich.

Die Evangelische Kirche hat sich bis jetzt gegen die PID ausgesprochen. Der frühere Ratsvorsitzende Manfred Kock hat 2003 erklärt, daß die Würde des menschlichen Lebens es verbietet, „dass es bloß als Material und Mittel zu anderen Zwecken genutzt und –erst recht – gar nur erzeugt wird“. Hermann Barth, der noch einige Monate amtierende Kirchenamtspräsident der EKD, erklärte nach dem jetzigen BGH-Urteil, dass die PID „auf Verbrauch und Vernichtung menschlicher Embryonen“ beruhe. Es ist allerdings offen, ob die EKD diesen Kurs beibehält, nachdem Ende 2007 der frühere Ratsvorsitzende Wolfgang Huber die verbrauchende Embryonenforschung für „noch notwendig“ erklärt und seine vorherige ablehnende Haltung aufgegeben hatte.

Das BGH-Urteil läßt die Frage aufkommen, ob nicht demnächst der ganze Embryonenschutz auf der Kippe steht. Die ZEIT titelte nach der Bekanntgabe des Urteils „Moralische Fragen sollten politisch entschieden werden“. Wird im Bundestag bald über den Grundsatz der Menschenwürde abgestimmt? Das kann nicht die Lösung sein.

Was wir in Deutschland brauchen, ist eine grundsätzliche Neubesinnung über einen konsequenten Lebensschutz. Wenn O. Brüstle die Frage stellt, warum eigentlich bei uns die befruchtete Eizelle mehr Rechtsschutz genießt als der Embryo nach Eintritt der Schwangerschaft, dann rührt er zweifellos an den wundesten Punkt des Dilemmas. Seitdem die Politik 1995 die Abtreibung in die Verfügung der schwangeren Frau gestellt und sich die EKD im Gegensatz zur Röm.-kath. Kirche damit arrangiert hat, ist es schlechterdings nicht mehr einsichtig, warum der Embryo vor der Einnistung in die Gebärmutter einen höheren Rechtsschutz genießt als nach der Einnistung.

Das christliche Menschenbild achtet das menschliche Leben vom Beginn der befruchteten Eizelle bis zum letzten Atemzug als ein unverfügbares Geschenk Gottes. Es ist höchste Zeit, dass die Politik genauso wie die Evangelische Kirche diese von den Vätern des Grundgesetzes gewollte Norm neu entdecken und konsequent umsetzen.

Evangelische Zeitung vom 15.8.2010