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Das lösende Wort im Augenblick der Krise

Das lösende Wort im Augenblick der Krise

Je mehr Einzelnes wir heute vom Menschen wissen, um so weniger wissen wir vom Menschen selber, wer und was er ist: Nackter Affe – oder was sonst? Wer findet das lösende Wort über den Menschen und seine Bildung? Nach Meinung des Naturwissenschaftlers Prof. Illies in Kiel zwingt die naturwissenschaftliche Erkenntnis über den Menschen auf dem Gebiet der Anatomie wie im Bereich der Verhaltensforschung kein anderes Menschenbild als das im 1. Buch der Bibel: der Mensch ist ein Geschöpf, das auf den Anruf Gottes antworten kann. Nicht wenige Naturwissenschaftler, sagt Illies, nehmen deshalb die Genesis zunehmend ernst. Sie begegnen freilich auf ihrem Zug in die Mysterien der Bibel dem Zug der Theologen, die dabei sind, diesen Raum zu verlassen.

Mir scheint, dass wir nicht oder zu wenig der zur Zeit hier und dort wieder bedrängten Juden gedenken und noch weniger der leidenden Christen im sicher unübersichtlichen Südsudan, mancher Gruppen in Sowjetrussland, in Nordkorea, in China und in dem mit ihm verbundenen Albanien, das sich rühmt, der erste voll-atheistische Staat der Welt zu sein. Wenn wir heute so sehr die Menschenrechte betonen, so lehrt das Neue Testament uns auch dieser Unterdrückten gedenken, wobei wir wissen, dass es ein chemisch reines Glaubensmartyrium nicht gibt. Dazu kommen die Missionare und Zeugen, die sich an vielen Stellen der Welt wie auf verlorenem Posten vorkommen. Sollten wir nicht ganz anders uns als „Mitgenossen auch dieser Trübsale“ wissen und bekennen? Natürlich: kritische Theologie, kritische Kirche, kritisch reden von Gott, kritisch glauben – aber auf einmal kann das alles dahin umschlagen, dass wir selber einen Richterstuhl einnehmen, der uns nicht gebührt. Wundern wir uns nicht, wenn sich dann das Gericht gegen uns selber wendet! Dann reduziert sich die Lehre von der Kirche auf Kirchenkritik, die Rechtfertigungsbotschaft, in der wir scheinbar einig sind, auf ein Sicht-Selbst-Annehmen oder auf Freiheit von der Moral.

Ich muss noch offener reden und greife über das Theologische hinaus. Haben diejenigen gar unrecht, die von einer Epoche geistlicher Verwirrung und Verzweiflung reden, in deren Anfang wir uns befinden? Anders gesagt:

Wenn nicht alles täuscht, so stehen wir heute in einem Glaubenskampf, einem Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war. Das Unheimliche dabei ist, dass dieser heutige Kampf vielfach kaum erkannt, zu allermeist verharmlost wird und unter Tarnworten wie Pluralismus voranschreitet.

Gott wird heute vielfach für „tot“ erklärt, oder „nicht ganz tot“. „Oben im Himmel“ darf er nicht sein, weil das moderne Weltbild es ihm verbietet. Also wird er in die Tiefe des Seins verlegt. Weil sich freilich herausstellt, dass in unserem Keller die wilden Hunde bellen, darum wird Gott heute nach vorne verwiesen, als offene Zukunft – bloß der, als der er sich geoffenbart hat, darf er nicht sein: der Vater Jesu Christi! „De Deo“ – von Gott, hat die Bischofskonferenz der VELKD neulich in ihrer Erklärung ein lösendes Wort gesagt? Wir werden es nicht anders finden als vor Gott, im Gespräch mit ihm und im Lob Gottes. Aber – was verstehen wir unter Gebet? Selbstgespräch – oder Gespräch mit Gott?

Es gibt Rundfunkprediger, die auch dies weit hinausgehende, wirkende Wort aus dem Hören auf Gottes Wort zu sagen vermögen. Aber – so fragt ein sachverständiger Hörer – warum müsst ihr in so vielen Rundfunksendungen einen trostlosen, karikierenden Bankrottkurs steuern!

Nicht wenige Lehrer und Religionslehrer, Katecheten und Katechetinnen kämpfen mit Leidenschaft darum, den Kindern den Christusglauben und das Christusleben zu vermitteln. Ihnen sei besonders gedankt. Aber zu Beginn eines Schuljahres übernahm ein Pfarrer den Religionsunterricht in einer Klasse. Nach der ersten Stunde erzählten die Kinder zu Hause vom Programm des neuen Religionslehrers: „Wenn die Klasse nach einem Vierteljahr überzeugt ist, dass ich ein Heide bin, dann ist der Zweck meines Unterrichts erreicht.“

Dies alles geschieht in derselben Kirche. Man sage nicht, das sei im Protestantismus immer so gewesen. Diese entschuldigende Erklärung konnte gelegentlich zutreffen; heute hat sie ihr Recht verloren, und andere spüren es sehr deutlich: „Die Selbstvernichtung der Theologie vollzieht sich mit einem geradezu ans Komische grenzenden Enthusiasmus“ -, sagt Peter Berger in seinem Buch „Auf den Spuren der Engel“. Es geht nicht mehr um verschiedene Ausprägungen des Glaubens oder der praxis pietatis, sondern um Glauben gegen Unglauben. Je länger um so weniger lässt sich das als Pluralismus deklarieren.

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt – aus welchen Gründen? Es gibt nicht nur Austritte aus Unglauben, sondern zunehmend auch aus Glauben, zumindest weil man ihn in der Kirche nicht findet. Eltern melden ihre Kinder vom Religionsunterricht ab, nicht nur aus Gleichgültigkeit der Kirche gegenüber, sondern weil sie dem Kind den Christusglauben und die Christliebe erhalten möchten. „Geht aus von ihr!“ rufen heute nicht nur Sektierer. Was ist angesichts der sich vollziehenden inneren und der drohenden äußeren Emigration der Gläubigen aus der Evangelischen Kirche in Deutschland zu tun? fragt mich einer, der gerade die Kirche Jesu Christi liebt. Vor mehr als hundert Jahren schrieb der bekannte Aloys Henhöfer über die Folgen eines falschen Pluralismus in der Kirche: „Fürs erste wird es Verwirrung in der Kirche geben. Jeder Ort wird seine eigene besondere Lehre haben, je nach dem Glauben und Fortschritt des Predigers. Wir werden wohl Kirchlein, aber keine Kirche mehr haben.“

Der Beitrag ist folgender Quelle entnommen: Hermann Dietzfelbinger, „Das lösende Wort im Augenblick der Krise“, Claudius-Verlag, 1971, 48 Seiten.  

Hermann Dietzfelbinger (1908-1984) war Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern von 1955 – 1975 und Ratsvorsitzender der EKD von 1967-1973.