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Predigt: Es ist vollbracht

Es ist vollbracht
Predigt zum Karfreitag über Johannes 19,16-30

Ich stelle mir vor, dass die Mörder von Jesus damals am Karfreitag gesagt haben: „Jetzt haben wir den Jesus endlich dort, wo wir ihn schon lange haben wollten, nämlich am Galgen. Unser Plan ist gelungen, der Fall ist erledigt, Gottseidank, jetzt haben wir’s geschafft.“ Die einzelnen Etappen in der Ausführung des Plans waren der Verrat des Judas, die Gefangennahme in Gethsemane, das Verhör vor Pilatus, und jetzt kommt der letzte Akt – die Hinrichtung.

Ich verzichte auf den Versuch, Ihnen im Einzelnen plastisch vor Augen zu malen, welch körperlichen und seelischen Leiden Jesus in den letzten Tagen seines Lebens aushalten musste. Erstens erwähnt unser Text darüber kaum Einzelheiten, und zweitens ist es so, dass wir uns an grausame Methoden der Liquidierung von Menschen (schon das Wort Liquidierung ist eine Grausamkeit) so gewöhnt haben, dass uns das Leiden von Jesus nicht mehr besonders aufregt. In den deutschen Konzentrationslagern sind die Menschen millionenweise sadistischer und grausamer umgebracht worden als Jesus, und vor allem grausamer, als wir uns das vorstellen können. Der Tod unserer Hauskatze regt uns mehr auf, als der Tod von Millionen damals und heute, geschweige denn der Tod von Jesus vor 2000 Jahren. Deshalb verzichte ich darauf, Ihre Phantasie zu bemühen, wenn es um den Tod von Jesus geht. Ich erinnere nur an die nackten Tatsachen: Er wurde gefoltert, verspottet, bespuckt, geohrfeigt. Die Soldaten haben mit dem wehrlosen Gefangenen ihren Jux getrieben. Er wurde bei lebendigem Leihe – nackt – an ein Kreuz genagelt, hing dort stundenlang, während die Gaffer und Spaziergänger vorbeipromenierten und blöde Bemerkungen machten. Und das alles nicht etwa, weil er etwas verbrochen hatte wie die beiden anderen, die mit ihm gekreuzigt wurden, oder wie Barrabas, der Staatsfeind, der sogar ein Mörder war. Jesus hatte niemanden umgebracht, niemanden bedroht oder gehasst, niemandem etwas Böses getan. Im Gegenteil – es gab nur Gutes von ihm zu erzählen.

Angefangen bei der Hochzeit zu Kana bis dahin, dass er Hungrigen zu essen, den Traurigen Trost, Kranken Gesundheit gegeben hat. Er hat den Menschen geholfen und er hat sie geliebt. Verstehen Sie – der hat nicht nur von Nächstenliebe geredet, sondern er hat die Liebe gelebt. Noch als Sterbender am Kreuz bleibt seine Liebe konkret, und er kümmert sich noch um die Versorgung seiner Mutter. Statt an sich zu denken, denkt er buchstäblich bis zum letzten Atemzug an andere. So war das sein ganzes Leben. Seine Liebe kannte keine Grenzen. Er ist mit seiner Liebe so weit gegangen, dass er sich gerade die als seine Freunde auswählte, die von allen anderen geschnitten wurden: die moralischen und religiösen Nieten, die ihm nichts zu bieten hatten als ihr vermurkstes Leben. Zwielichtige Typen wie die betrügerischen Zollbeamten, eindeutige Personen wie die Huren, religiöse Versager und Außenseiter, mit einem Wort: die Sünder waren seine liebsten Freunde.

Aber dieser Mann, der die anständigen Frommen stehen ließ und dafür lieber ein Strichmädchen zu Gott führte, der ging mit seinem anstößigen Verhalten den Frommen, die ihre Sünde nicht zugeben wollten, gegen den Strich. Für die war ein Gott, der die Sünder nicht verurteilte, sondern mit Ihnen Freundschaft schloss, eine unerträgliche Zumutung. Der wurde so untragbar, dass sie beschlossen, ihn abzuschaffen. Selbst ein Verbrecher wie Barrabas war für sie immer nach erträglicher als Jesus, der Reine, der Sündlose. Der musste weg, und deshalb ließen sie keine Ruhe, bis sie ihn aus der Welt geschafft hatten. Und als es endlich soweit war, dass sie ihn draußen hatten aus ihrer Gesellschaft, als es sich bloß noch um Stunden handeln konnte, bis er endlich aufhörte mit seinen provokatorischen Reden, als er bloß noch paar Minuten zu leben hatte, als es die Mörder endlich geschafft hatten, da sagt er, das Opfer seiner Mörder: „Es ist geschafft.“

Das ist ja nun merkwürdig. Denn wenn einer sein Leben am Galgen beschließt, zumal wenn er dort ganz unschuldig hängt, das ist das ja nun nicht gerade ein Anlass zu der befriedigten Feststellung: Es ist geschafft. So sagen wir, wenn wir z. B. ein Examen bestanden haben, aber wer durchfällt, sagt doch nicht: Es ist geschafft.

In diesem Sinne kann dieser Satz also nicht gemeint sein, und sicher auch nicht in dem Sinne von „Jetzt bin ich am Ende, bin fertig, erledigt.“ oder „Jetzt ist es vorbei, jetzt hab ich alles überstanden.“ So kann das schon deshalb nicht gemeint sein, weil Jesus ja nicht sagt: „Ich hab’s geschafft.“ sondern „Es ist geschafft.“ Das ist immerhin ein Unterschied. Dieser Satz ist gemeint als eine Vollzugsmeldung: Der Auftrag ist ausgeführt, das Ziel ist erreicht, der Plan ist erfüllt. Nun aber nicht der unheilvolle Plan der Menschen, die Jesus aus der Welt schaffen wollten, sondern der Plan Gottes, der für die Menschen Heil schaffen wollte.

Wenn Sie die Bibel lesen, dann finden Sie im ganzen Alten Testament Andeutungen über diesen Plan verstreut. Und wenn man diese Andeutungen zusammenstellt, dann stellt sich heraus: Alles, was Jesus tut und mit ihm getan wird, läuft nach einem in allen Einzelheiten festgelegten Plan ab. Allein in unserem Bibelabschnitt wird zweimal ausdrücklich darauf verwiesen, dass hier etwas aus dem Grunde geschieht, „damit die Schrift erfüllt wird.“ Das erste Mal, als die Soldaten die Kleider des Gekreuzigten verteilen und verlosen (die genaue Regieanweisung zu dieser Szene steht in Psalm 22), das zweite Mal, als Jesus sagt „Ich habe Durst“, auch das ist in Psalm 22 vorausgesagt. Und nachdem sich auch dieses Detail planmäßig so abgespielt hat, wie es im Textbuch vorgeschrieben steht, da sagt Jesus: „Es ist vollbracht.“

Das sagt er in dem Augenblick, als sich seine Mörder die Hände reiben, weil sie ihre Pläne für gelungen und Jesus für erledigt halten. Aber das stimmt gar nicht. Erstens, und das wissen Sie ja alle, ist die Geschichte von Jesus am Kreuz noch nicht zu Ende, sondern sie geht weiter, z. B. jetzt hier in diesem Gottesdienst, in dem Jesus als der Auferstandene dabei ist. Gerade heute, wo wir über seinen Tod sprechen, spricht er zu uns und wartet darauf, dass viele von Ihnen aus bloßen Zuhörern zu Mitspielern in seiner Geschichte werden, dass Sie zum Glauben kommen.

Zweitens sieht Jesus die Sache genau umgekehrt wie seine Mörder. Denn obwohl seine Hände ans Kreuz genagelt sind, hat er die Fäden des Ganzen in der Hand, und er betrachtet sich nicht als den Erledigten, Unterlegenen, sondern als den Sieger. Denn er behauptet mit seinem Schlusssatz, diesem Schlüsselsatz für sein ganzes Leben, dass hier am Kreuz der Plan Gottes zur Vollendung kommt, ein Plan, den Jesus in freiwilligem Gehorsam ausführt und dem alle anderen Beteiligten, selbst ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen, dienen müssen. Auch Judas, Pilatus und die Kriegsknechte müssen mit ihren Plänen dem Plan Gottes dienen.

Jetzt wird es aber Zeit, dass ich Ihnen den Plan Gottes, von dem ich dauernd rede, endlich erläutere. Genau genommen handelt es sich sogar um zwei Pläne. Der erste bestand darin, dass Gott mit den Menschen auf freundschaftlicher Basis verkehren wollte, unter einer Bedingung: Er verlangte Gehorsam. Dieser Plan ist gescheitert, weil der Mensch den Gehorsam schuldig geblieben ist. Seither steht diese Schuld zwischen Gott und Mensch wie eine Mauer. Die Bibel nennt diese Mauer: Sünde. Und auf die Sünde, auf Ungehorsam gegen Gott, steht Todesstrafe. Nun hätte Gott ja auf stur schalten und sagen können: „Was, ihr wollt nicht? Dann lasst ihr’s eben bleiben, seht zu, wie ihr zurechtkommt, ich brauche euch nicht.“

Aber so ruppig und lieblos reagiert Gott nicht. Denn er liebt die Menschen, trotz allem. Und die Liebe macht bekanntlich erfinderisch. Und so erfindet Gott seinen zweiten Plan. Er nimmt sich nämlich vor, die Mauer der Sünde zu durchbrechen und die Schuld, die zwischen Gott und Mensch steht, aus der Welt zu schaffen. Gott will mit allen Mitteln verhindern, dass der Mensch wegen seiner Schuld sterben muss. Deshalb greift er zum äußersten Mittel. Er will um jeden Preis das Leben der Menschen retten. Deshalb ist er bereit, für diesen Plan den höchsten Preis zu zahlen: Das Leben seines einzigen Sohnes.

Zu Weihnachten haben wir gehört, wie Gott Mensch geworden ist, wie er uns hautnah auf die Pelle rückte, und nicht nur das, sondern er kam uns unter die Pelle, der ging uns unter die Haut im wahrsten Sinne des Wortes: Gott selber steckte in der Haut eines Menschen, nämlich des Menschen Jesus von Nazareth.

Heute hören wir, warum er das gemacht hat: Damit er schließlich seine Haut zu Markte tragen kann, indem er die Sünden der Welt trägt; Jesus, der Sohn Gottes. Oben, an seinem Kreuz, war ein Schild angebracht, auf dem sein Name und der Hinrichtungsgrund drauf stand. Damit wurde der Tod von Jesus sozusagen der Weltpresse zugänglich gemacht in Latein, Griechisch und Hebräisch, also den damaligen Weltsprachen. Denn was sich hier abspielt, das geht alle Menschen an. Deshalb gehen auch die Missionare der Kirche zu den Heiden bis in die letzten Winkel der Erde und sagen ihnen genau dasselbe, was ich Ihnen heute sage, nämlich: Machen Sie sich doch über Ihr kaputtes Verhältnis zu Gott nicht so viele Gedanken, sondern danken Sie Jesus, dass er das für Sie schon in Ordnung gebracht hat. Geben Sie es doch auf, sich bei Gott durch frommes Getue beliebt machen zu wollen. Gott liebt Sie doch! Hören Sie doch auf, mit Ihrem schlechten Gewissen durch die Welt zu laufen, das haben Sie doch gar nicht nötig. Kein Mensch hat es nötig, sich mit seiner Schuld abzuschleppen.

Seit Jesus mit seinem letzten Atemzug gesagt hat „Es ist vollbracht,“ können wir aufatmen, denn er hat ja schon alles für uns erledigt, er hat doch die Schuld für uns mit seinem Blut bezahlt, er hat die ganze, vollkommene, endgültige Erlösung für uns vollbracht, wir sind frei! Wir Christen leben schuldenfrei, deshalb sind wir so glücklich. Das unterscheidet uns von anderen Menschen. Nicht, dass wir ohne Sünde sind, sondern dass wir wissen, wo wir sie loswerden können. Wir wissen, dass wir an unserer Schuld nicht zu ersticken brauchen, sondern dass wir sie am Kreuz abladen können. Damit brauchen wir uns nicht mehr zu quälen. Das überlassen wir alles dem Herrn Jesus.

Sehen Sie – das macht uns froh, und Sie alle können genauso frei und glücklich leben, auf Konto Gottes. Wenn Sie wissen wollen, wer Gott ist und was hinter dieser Vokabel steckt, dann dürfen Sie mit Ihren Überlegungen nicht bei einem sogenannten höheren Wesen einsetzen, das irgendwo im Himmel schwebt. Da kriegen Sie nie raus, wer Gott ist und was er über Sie denkt. Gott schwebt nicht irgendwo in der Luft, sondern er hängt am Kreuz. Da können Sie sehen, wer Gott ist. Das ist einer, der im wahrsten Sinne des Wortes stirbt vor Liebe, aus Liebe zu allen Menschen, also auch aus Liebe zu Ihnen.

Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, warum das letzte Wort von Jesus nicht die resignierte Feststellung ist: „Jetzt habt ihr mich geschafft.“ Sondern es ist der triumphierende Ausruf: „Es ist geschafft,“ jetzt ist der Plan Gottes erfüllt. Und selbst wenn Ihnen die Vokabel „Gott“ nichts bedeutet und ein Gott, der Pläne macht, noch viel weniger, dann muss es Ihnen doch etwas bedeuten, dass einer sein Leben lässt für Sie, dass einer da ist, der Sie mehr liebt als Sie sich selber, der stirbt, damit Sie leben können. Darüber müssen Sie sich allerdings im Klaren sein: An die Stelle, an der Jesus hängt, gehören eigentlich Sie. Weil Sie vor Gott schuldig sind, müssten Sie von Rechts wegen dort vorn am Kreuz hängen. Aber das brauchen Sie nicht, sondern Sie können da unten in der Kirchenbank sitzen und sich Ihres Lebens freuen, weil da vorn ein andrer für Sie hängt.

Verstehen Sie das, warum das so ist? Ich versteh‘s nicht, aber ich freue mich, dass es so ist und dass Gott das so eingerichtet hat. Und ich bin dankbar dafür, dass Gott so gut zu mir ist. Den Schaden, den die Schuld der Menschen angerichtet hat, hat Gott am Kreuz ein für allemal wieder gut gemacht. Jetzt ist Gott wieder gut mit uns. Keine Schuld kann uns mehr von ihm trennen. „Es ist vollbracht,“ das heißt: Die Wiedergutmachung hat bereits stattgefunden. „Es ist vollbracht,“ das heißt: Jesus hat uns absolut nichts mehr zu tun übrig gelassen, wenn wir mit unserer Schuld mit Gott ins Reine kommen wollen. Für unsere Erlösung brauchen und können wir nichts tun, weil er alles dafür getan hat. „Es ist vollbracht,“ das ist das letzte Wort von Jesus. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Pfarrer Dr. Theo Lehmann, Predigt zum Karfreitag, 10.04.2009