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Die demographische Zeitenwende

Die demographische Zeitenwende – Ursachen und Konsequenzen für Deutschland und Europa

In der internationalen  wissenschaftlichen Fachdemographie gibt es seit den 90iger Jahren des 20. Jahrhunderts ein allgemein anerkanntes Forschungsergebnis über die demographische Entwicklung in der Zukunft, das trotz seiner gravierenden Folgen für die kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung aller Länder in der allgemeinen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet blieb:  Im 21. Jahrhundert wird das seit Jahrtausenden währende Wachstum der Weltbevölkerung enden und um das Jahr 2070 in die neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung übergehen. Der Übergang vollzieht sich in jedem der 180 Länder der Welt auf ähnliche Weise, unterschiedlich sind der Zeitpunkt, die Geschwindigkeit und die Dauer des Übergangs. In den hochentwickelten Ländern ereignete sich der Übergang um mehrere Jahrzehnte früher als in den weniger entwickelten. Einige der ärmsten Länder werden wahrscheinlich auch noch im 22. Jahrhundert Bevölkerungszuwächse durch Geburtenüberschüsse verzeichnen [1,2]. 

Deutschland ist unter den 180 Ländern der Welt das Land, in dem der Übergang vom Bevölkerungswachstum in die Bevölkerungsschrumpfung zuerst eintrat und am weitesten fortgeschritten ist. In den neuen Bundesländern begann die „Demographische Zeiten­wende“ 1969, in den alten 1972 [3]. Seitdem übersteigt die jährliche Zahl der Sterbefälle die der Lebendgeborenen [4]. Bei den zugewanderten Teilpopulationen liegt die Kinderzahl pro Frau(1,6) zwar ebenso wie bei der einheimischen (1,4) unter dem für die Bestandserhaltung erforderlichen Niveau von 2,1 Lebendgeborenen pro Frau, aber infolge der jüngeren Altersstruktur der Zugewanderten und der dadurch geringen Zahl der Sterbefälle und der höheren Zahl der Geburten sind 1,6 Lebendgeborene pro Frau ausreichend für ein Bevölkerungswachstum durch Geburtenüberschüsse. Die Geburtenüberschüsse der Zugewanderten sind jedoch nicht hoch genug, um das wachsenden Geburtendefizit der Deutschen auszugleichen.

Der Rückgang der Geburtenrate ist kein neues Phänomen, er begann in Deutschland etwa zeitgleich mit der Einführung der kollektiven Sozialversicherung durch Bismarck in den 90iger Jahren des 19. Jahrhundert (Schaubild 1). Abgesehen von einer kurzen Phase Ende der 30iger Jahre sowie in den 50iger Jahren setzte sich der Rückgang der Geburtenrate im gesamten 20. Jahrhundert kontinuierlich fort. Auf die letzte Phase des Rückgangs in den 70iger Jahren folgte 20 Jahre später wie ein Echo ein Rückgang der absoluten Elternzahl, der jetzt wie bei einer Reihe von fallenden Dominosteinen automatisch weitere Rückgänge der absoluten Geburtenzahl nach sich ziehen wird usf. Der minimale Anstieg der Zahl der Lebendgeborenen pro Frau zwischen 2006 und 2007 von 1,34 auf 1,37 signalisiert entgegen den irreführenden Behauptungen der Familienministerin keine Trendwende, zumal er sich wie die anderen jährlichen Fluktuationen seit vier Jahrzehnten in einem  unverändert schmalen Intervall zwischen 1,2 und 1,4 Lebendgeborenen pro Frau bewegt.

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Die mit dem zivilisatorischen Fortschritt und dem steigenden Lebensstandard abnehmende (statt zunehmende) Geburtenrate wurde in der Bevölkerungswissenschaft erstmals von Johann Peter Süßmilch in seinem 1741 in Berlin erschienen klassischen Standardwerk thematisiert und empirisch analysiert [5]. Für diesen außerordentlich wichtigen, inversen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und dem Lebensstandard habe ich in den Begriff „demographisch-ökonomisches Paradoxon“ vorgeschlagen [6]. Im Gegensatz zu Süßmilch behauptete Thomas Robert Malthus in seiner 1798 in London publizierten, konkurrierenden  Bevölkerungstheorie, dass die Geburtenrate (Kinderzahl pro Frau) mit dem Lebensstandard zunähme statt abzunehmen – eine für die meisten Menschen zwar plausible, aber den Tatsachen widersprechende Behauptung [7]. Obwohl sich die Malthusianische Theorie in allen Punkten als falsch erwies und bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert z.B. von Franz Oppenheimer [8] und Lujo Brentano [9] eindeutig widerlegt wurde, gilt sie in der breiten Öffentlichkeit fälschlicherweise immer noch als der Beginn der wissenschaftlichen Demographie – mit fatalen Konsequenzen für die aus ihr gezogenen Schlußfolgerungen für die Bevölkerungspolitik und die Entwicklungspolitik sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern. Im Gegensatz dazu erweist sich heute die klassische Bevölkerungstheorie deutscher Prägung ebenso wie die zu gleicher Zeit entstandene  Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants für die Politik im 21. Jahrhundert als höchst aktuell und tragfähig.

Dabei ist zwischen einer langfristigen Politik zur Wiedererlangung der demographischen Stabilität durch eine Zunahme der Geburtenrate und einer kurz- und mittelfristig orientierten Politik zur Beherrschung der Auswirkungen der demographischen Veränderungen zu unterscheiden. Die drei wichtigsten Auswirkungen der demographischen Veränderungen in Deutschland sind die Schrumpfung, die Alterung und die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung durch Einwanderungen. Unter diesen Veränderungen nimmt die demographische Alterung eine Sonderstellung ein: Sie ist für mehr als ein halbes Jahrhundert irreversibel und läuft ab wie ein Uhrwerk. So steigt die Zahl der über 60ig jährigen auf 100 20-60jährige (=“Altenquotient“) vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zur Mitte des 21. von 38 auf 92, d.h. um den Faktor 2,4 [10]. Wollte man diesen Anstieg durch die Einwanderung Jüngerer verhindern, müssten – nach einer theoretischen Simulationsrechnung der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen – bis 2050 pro Jahr 3,5 Mio. Menschen mehr ein- als auswandern, zusammen 188 Mio [11].

Die Simulationsrechnung der Vereinten Nationen ist keine Prognose, ihr Zweck besteht darin, zu verdeutlichen, daß ein Anstieg der Geburtenrate ein unabdingbares Mittel zur Wiedererreichung der demographischen Stabilität ist. Aber selbst wenn die Geburtenrate in den nächsten Jahren auf das bestandserhaltende Niveau von 2,1 Lebendgeborenen pro Frau zunähme, würde sich die Bevölkerungsschrumpfung (ohne Ausgleich durch Einwanderungen) wegen der inzwischen dezimierten Zahl potentieller Eltern bis 2060 fortsetzen, ehe der Rückgang zum Stillstand kommen könnte. Die demographische Alterung ließe sich selbst dann nur unwesentlich abschwächen und nicht vermeiden [12].

Die weitaus wichtigste Ursache der demographischen Alterung (definiert als Anstieg des Durchschnittsalters, des Medianalters und des Altenquotienten) ist nicht die steigende Lebenserwartung, sondern die niedrige Geburtenrate. Auf die niedrige Geburtenrate entfallen vier Fünftel des Anstiegs des Durchschnittsalters bis zur Jahrhundertmitte um 10 Jahre, auf die steigende Lebenserwartung ein Fünftel.

Das aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht wichtigste Problem ist nicht, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland vom Ende des 20. bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auch bei hohen Einwanderungen unter dem Strich um 14 Mio. abnehmen wird, sondern daß sich über dem Strich mehrere konfliktträchtige Auseinanderentwicklungen ergeben. Bis zur Jahrhundertmitte geht beispielsweise die Zahl der Personen in der Altersgruppe von 20 bis 60 Jahren um 16 Mio. und die der unter 20jährigen um 8 Mio. zurück, während gleichzeitig die Zahl der über 60jährigen um 10 Mio. wächst (Schaubilder 2 u. 3). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt inzwischen auch das Statistische Bundesamt [13]. Ferner nimmt die Zahl der nicht zugewanderten Deutschen ständig ab, während die der Eingewanderten und ihrer Nachkommen wächst. Besonders wichtig ist das Auseinanderdriften der Städte und Regionen, von denen die einen durch die Binnenwanderungen zwischen den Stadt- und Landkreisen und Gemeinden (4 Millionen Wohnortwechsel pro Jahr) wachsen, während die anderen um so rascher schrumpfen.

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Die entscheidenden Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf die Volkswirtschaft sind die Wohlstandsverluste infolge der Abnahme der Wachstumsraten des Volkseinkommens und des Pro-Kopf-Einkommens trotz steigender Kapital- und Arbeitsproduktivität. Eine entscheidende Ursache dieser negativen Effekte ist – neben der demographischen Alterung und dem Rückgang der Erwerbspersonenzahl – das abnehmende Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung durch die Einwanderung wenig qualifizierter Menschen aus Entwicklungsländern, vor allem aus der Türkei. Selbst die hier geborenen Kinder der 15,4 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund verlassen das deutsche Schulsystem überwiegend nur mit Hauptschulabschluß oder ohne Abschluß. Bei der gesamten Bevölkerung mit Migrationshintergrund beträgt der Anteil der Bevölkerung ohne Schulabschluß 8,0% (Männer) bzw. 10,3% (Frauen), bei den Deutschen sind die Vergleichszahlen 1,4%  bzw. 1,3% ,  bei der aus der Türkei stammenden Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund  17,4% (Männer) bzw. 25,9% (Frauen). Bei der Kennziffer „Bevölkerungsanteil ohne beruflichen Bildungsabschluß“ sind die Prozentanteile bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund noch höher: 29,7% (Männer) bzw. 36,8% (Frauen) haben keinen beruflichen Abschluß. Auch hier sind die Zahlen für die aus der Türkei stammende Bevölkerung am größten: 48,2% (Männer) bzw. 58,6% (Frauen). Bei der deutschen Bevölkerung betragen die Vergleichszahlen 12,3% bzw. 23,1%. Diese Angaben beruhen auf dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für 2007, sie sind repräsentativ und wurden richtigerweise ohne die noch in Ausbildung befindliche Bevölkerung berechnet [14].

Der Anstieg des Altenquotienten um den Faktor 2,4 im Zuge der demographischen Alterung bewirkt eine Zunahme der Versorgungslasten pro Kopf der mittleren Altersgruppe vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts um mehr als das Doppelte. Im Vergleich dazu ist die Abnahme der Pro-Kopf-Belastung der mittleren Generationen durch die Ausgaben für Kinder und Jugendliche infolge der schrumpfenden Größe der nachwachsenden Generationen wesentlich geringer. Die Summe aus beiden Versorgungslasten (Jugendquotient plus Altenquotient) pro Kopf der mittleren Altersgruppe steigt bis zur Jahrhundertmitte um 50 Prozent.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland infolge seiner schon seit einem halben Jahrhundert besonders niedrigen Geburtenrate eine überdurchschnittliche demographische Alterung und besonders hohe demographisch bedingte Folgelasten zu tragen. Dies betrifft nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, sondern auch die Unternehmen. Sie müssen einen Teil der Ausgaben der Renten,- Kranken- und Pflegeversicherung tragen, wodurch die Lohnstückkosten demographisch bedingt zunehmen, so daß sich die volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf den internationalen Gütermärkten durch die Verschiebung der Altersstruktur verringert.

Die Zunahme der Versorgungslasten pro Kopf der mittleren Altersgruppe kann durch Reformen der gesetzlichen Alters- Kranken- und Pflegeversicherung nicht im Mindesten verringert werden. Die steigenden Lasten lassen sich nur auf alternative Weise auf Beitragszahler, Steuerzahler oder Versorgungsempfänger aufteilen. Die versäumte Aufklärung über diesen Punkt kommt einer Irreführung der Bevölkerung in existentiell wichtigen Fragen gleich.

Für bestimmte Wirtschaftssektoren wie die Finanzdienstleister und die Versicherungswirtschaft bietet die demographische Krise eine Jahrhundertchance. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die bisherige Staatsaufgabe der sozialen Sicherung (Renten,- Kranken- und Pflegeversicherung) teilweise in den privaten Sektor zu überführen. Durch die starke Zunahme der Zahl der über 60jährigen und der über 80jährigen Menschen – im Jahr 2050 wird es so viele über 80 jährige Menschen geben wie unter 20jährige – steht auch der Gesundheitssektor vor gewaltigen Umwälzungen. 

Die demographische Schrumpfung und Alterung sind langfristige Prozesse, die nicht an einer beliebigen Stelle angehalten werden können. Diese Prozesse würden sich auch dann jahrzehntelang fortsetzen, wenn die Geburtenrate beispielsweise wieder auf zwei Lebendgeborene pro Frau zunähme. Dieser in der Fachdemographie als „demographisches Momentum“ bezeichnete Sachverhalt wird von der Politik immer noch ignoriert. Wegen des demographischen Momentums wäre jedoch ein besonders frühzeitiges, präventiv-vorausschauendes Handeln nötig, das die Probleme löst, indem es ihrem Auftreten zuvorkommt. Vorausschauende, demographisch orientierte Politik ist heute nach jahrzehntelanger Untätigkeit fast unmöglich geworden, sie wird durch die bereits eintretenden, immer schwerer beherrschbaren Auswirkungen der demographischen Veränderung in allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sogar immer mehr von der politischen Agenda verdrängt. Deshalb muß sich Deutschland auf eine Reihe von demographisch verursachten Konflikten einstellen, die das Land einer Zerreißprobe unterziehen.

Generationenkonflikt. Durch die wachsende Zahl der Älteren nimmt die Altersgruppe der Versorgungsempfänger vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertmitte um rd. 10 Mio. Menschen zu, während die Zahl der Einwohner im Erwerbsalter bzw. die Gruppe der Beitrags- und Steuerzahler auch bei den bisher gewohnten hohen Einwanderungen aus dem Ausland gleichzeitig um rd. 16 Mio. schrumpft. Die Konsequenz ist ein jahrzehntelang sinkendes Versorgungsniveau in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung – mit gravierenden Verteilungskonflikten und daraus entstehenden Folgen für den sozialen Frieden. Dabei werden gerade jene potentiellen Wählerinnen und Wähler, die durch die Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlern die Finanzierung der überdurchschnittlich hohen Versorgungsbezüge der kinderlos gebliebenen Menschen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ermöglicht haben,  benachteiligt, weil ihre eigene Erziehungsarbeit in der Sozialversicherung nicht genügend anerkannt wird, so daß beispielsweise ihre Rentenansprüche besonders niedrig sind.

Verfassungskonflikt. Eine Erkenntnis der Bevölkerungsmathematik lautet: Je höher die Geburtenrate eines Landes ist, desto höher der Jugendquotient und desto niedriger der Altenquotient. Daraus ergibt sich die Frage, bei welcher Geburtenrate die Summe aus Jugend- und Altenquotient als Bestimmungsfaktoren der demographischen Gesamtlast am geringsten ist. Antwort: In Ländern mit hoher Lebenserwartung wie Deutschland ist die Summe aus Jugend- und Altenlast dann am geringsten, wenn pro Frau rd. zwei Lebendgeborene entfallen. In Deutschland ist der durch eine Geburtenrate von 1,4 Lebendgeborene pro Frau verursachte Rückgang des Jugendquotienten (und die daraus folgende sogenannte „demographische Dividende“)  wesentlich kleiner als die Zunahme des Altenquotienten bzw. der Altenlast, so daß die Summe aus Jugend- und Altenlast infolge der niedrigen Geburtenrate wesentlich größer ist als bei einer höheren.

Dies bedeutet steigende Belastungen der Beitragszahler bei sinkenden Versorgungsniveaus in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. In der auf dem Umlageverfahren beruhenden Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden Frauen mit Kindern bei einer niedrigen Geburtenrate besonders benachteiligt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 2001 die Pflegeversicherung als verfassungswidrig erklärt, weil sie Menschen ohne Kinder in einer den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Weise bevorzugt, wenn sie lediglich durch ihre monetären Beiträge zur Pflegeversicherung die gleichen Ansprüche erwerben wie andere, die durch die Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlern auch die vom Gericht als „generativen Beitrag“ bezeichnete Leistung erbringen, ohne die das umlagefinanzierte System der Pflegeversicherung – aber auch das System der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung – zusammenbräche. Bereits in seinem berühmten „Trümmerfrauen-Urteil“ hat das Bundesverfassungsgericht von der Politik umfassende Änderungen des gesamten Sozialrechtssystems verlangt – ohne Ergebnis. Verfassungsjuristen sprechen von einem permanenten „Verfassungsboykott“ durch die Politik. Der Verfassungsboykott ist  wahrscheinlich die folgenreichste Auswirkung des demographischen Wandels, denn er untergräbt die kulturellen und bildungsbezogenen Fundamente unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems – die unabdingbaren Voraussetzungen unseres wirtschaftlichen Wohlstands.

Regionalkonflikt. Vielfach unterschätzt wird die Gefährdung durch das demographische Auseinanderdriften der Regionen und Gemeinden, mit der Konsequenz, daß das im Grundgesetz verankerte Gebot, in allen Teilen des Bundesgebiets „gleichwertige“ (nicht gleichartige) Lebensbedingungen zu schaffen, unerfüllbar wird. Trotz des Bevölkerungsrückgangs im Bundesgebiet insgesamt gibt es Gemeinden und Regionen, deren Bevölkerungszahl gerade deshalb stabil bleibt oder sogar noch ein bis zwei Jahrzehnte wächst, weil ihr Geburtendefizit durch die Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands  mehr als ausgeglichen wird. Die jährlich rd. vier Mio. Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands teilen die 13800 Gemeinden in zwei Gruppen aus demographischen Gewinnern und Verlierern, wobei dem Bevölkerungsgewinn jeder Zielgemeinde ein gleich großer Bevölkerungsverlust der Herkunftsgemeinde gegenübersteht. Die neuen Bundesländer gehören ausnahmslos zu den Binnenwanderungsverlierern, aber auch im nördlichen Ruhrgebiet, in Süd-Niedersachsen, Nordhessen, im Saarland und in Nordbayern gibt es Landstriche mit ständigen Binnenwanderungsverlusten. Dabei ist die Selektionswirkung der Wanderungen entscheidend: Wenn überwiegend die Jüngeren und gut Ausgebildeten abwandern, schwächt dies das wirtschaftliche Entwicklungspotential und verstärkt die Abwanderung weiter. Es entsteht eine sich selbst tragende demographisch-ökonomische Abwärtsspirale.

Integrationskonflikt. Im Durchschnitt der letzten Jahrzehnte zogen jedes Jahr durchschnittlich rd. 170 Tsd. mehr Menschen nach Deutschland zu als fort (bei jährlich rd. 800 Tsd. Zuwanderungen und 630 Tsd. Abwanderungen). Auch nach dem Rückgang der Zuwanderungen in den letzten Jahren ist die jährliche Zahl der Zuwanderer immer noch etwa so groß wie die jährliche Zahl der in Deutschland geborenen Kinder insgesamt (685 Tsd.). Die Konsequenz ist, daß die nicht zugewanderte deutsche Bevölkerung durch ihre negative Geburtenbilanz permanent schrumpft, während die zugewanderte Population durch ihre Geburtenüberschüsse und durch weitere Zuwanderungen wächst. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund liegt jetzt bei 15,4 Mio. Bei den unter 40jährigen hat die Gruppe der Zugewanderten in einigen Großstädten die 50%- Schwelle erreicht, was jedoch in der amtlichen Statistik nicht zum Ausdruck kommt, weil seit Januar 2000 das neue Staatsangehörigkeitsrecht gilt. Seitdem erhalten hier geborene Kinder ausländischer Eltern neben der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit. In der amtlichen Statistik treten diese Doppelstaatler nur noch als Deutsche in Erscheinung. Die Konsequenz ist, daß die Zahl der Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit in der amtlichen Statistik steigt und die mit ausländischer sinkt, obwohl umgekehrt die Zahl der Zugewanderten und ihrer Nachkommen ständig wächst und die nicht Zugewanderten schrumpft. Da die zugewanderte Population pro Kopf geringere Einkommen und wegen ungünstigerer Bildungsvoraussetzungen eine doppelt so hohe Arbeitslosenquote und eine dreimal höhere Sozialleistungsquote hat als die deutsche, sind ihre pro Kopf empfangenen Transferleistungen höher. Die daraus folgende Umverteilung durch öffentliche Transferleistungen ist ein heftig umstrittenes politisches Problem.

Ein weiteres Migrations- bzw. Integrationsproblem zeigt sich bei einer Untergliederung der Zu- bzw. Abwanderungen nach der Staatsangehörigkeit. Seit einigen Jahren ist die Zahl der Abwanderer mit deutscher Staatsangehörigkeit wesentlich größer als die der deutschen Zuwanderer. In den zurückliegenden Jahrzehnten gab es dagegen stets mehr deutsche Zuwanderer als Abwanderer. Deutschland ist ein Einwanderungsland für Menschen aus der Dritten Welt und ein Auswanderungsland in Bezug auf die Erste Welt: Es gewinnt mehrheitlich weit unterdurchschnittlich qualifizierte Menschen und verliert gut qualifizierte. Die als „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ bezeichnete Entwicklung hat eine neue Stufe erreicht – die Abwanderung der das Sozialversicherungssystem stützenden Bevölkerung bei einer drastisch steigenden Zahl von Ruheständlern, Pflegebedürftigen, Kranken und unterstützungsbedürftigen Einwanderern.

Zum Ausgleich der schrumpfenden Zahl der jüngeren und mittleren Bevölkerungsgruppen praktizierte Deutschland seit Jahrzehnten eine Politik der kompensatorischen Einwanderungen. Zur Sicherung der demographischen Basis der Gesellschaft werden die Erziehungs- und Ausbildungsleistungen anderer Länder beansprucht. In der Öffentlichkeit wird diese Politik als das Ergebnis eines „Wettbewerbs um die Besten“ dargestellt. In Wahrheit handelt es sich um die demographische Ausbeutung anderer Länder, um eine neue Spielart des alten Kolonialismus.

Die demographische Stabilität läßt sich auf Dauer nicht durch Einwanderungen importieren, sondern nur durch eine höhere Geburtenrate wiedererlangen. Dafür ist eine Politik zur Erreichung einer besseren Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit der Frauen wichtig, aber nicht ausreichend. Nötig ist die Einführung eines neuen Prinzips:  Bei der Besetzung von Arbeitsplätzen sollten unter gleich qualifizierten Bewerbern diejenigen Vorrang genießen, die Kinder erziehen oder durch Pflegeleistungen Familienlasten tragen. Dies würde den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung besser berücksichtigen als das Ignorieren der ungleichen Lebensbelastungen von Menschen mit und ohne Kindern, ähnlich wie auch die unterschiedlichen Steuersätze dem Ziel gleicher Belastungen besser genügen als gleiche Steuersätze für hohe und niedrige Einkommen.

Die demographische Alterung ist ein weltweites Phänomen, weil ihre Ursache – die starke Abnahme der Geburtenrate – in allen Kontinenten wirksam ist [15]. In der demographisch-ökonomischen Globalisierung verliert der Nationalstaat bei der Bewältigung der Auswirkungen der demographischen Veränderungen seine Befähigung zur Ausübung einer Schutzfunktion. Als Abwehrmechanismus beginnt sich in der deutschen Demokratie ein politisch brisanter Neo-Kollektivismus zu entwickeln, der ein wachsendes Wählerpotential anspricht.

Selbst wenn es  Deutschland einmal gelänge, die negativen Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand durch eine besonders erfolgreiche Bildungs-, Wirtschaft-, Familien- und Sozialpolitikpolitik zu kompensieren, dann wäre noch nicht das geringste erreicht, um die Ursachen der demographischen Veränderungen zu beherrschen und die demographische Stabilität langfristig wiederzugewinnen.

Zusammenfassung zweier Vorträge im Rahmen eines Seminartages des Gemeindenetzwerkes und des Gemeindehilfsbundes am 17.4.2010 in Kassel.

Prof. Dr. Herwig  Birg, 17.04.2010 (www.herwig-birg.de [4])


Literatur/Anmerkungen

1     Birg H: World Population Projections for the 21st Century, Theoretical Interpretations and Quantitative Simulations, Frankfurt a.M., Campus, New York, St. Martin`s Press, 1995.

2     United Nations Population Division (ed): World Population Prospects, the 2006 Revision,         New York, United Nations, 2007.

3      Birg H: Die demographische Zeitenwende, Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 4. Aufl., C. H. Beck, München, 2005, S. 115.

4      Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Gebiet und Bevölkerung 1999, Fachserie 1, Reihe 1, Wiesbaden 2001, S. 42-44.

5       Süßmilch JP: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen, Erste Ausgabe: Berlin 1741, Erweiterte Ausgabe: Berlin 1765.

6       Birg H: Die demographische Zeitenwende, Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 4. Aufl., C. H. Beck, München, 2005, S. 42.

7       Malthus ThR: An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet and other Writers, London 1798. Erweiterte Fassung: London 1803.

8      Oppenheimer F: Das Bevölkerungsgesetz des Th. R. Malthus und der neueren Nationalökonomie, Berlin, Bern 1901.

9       Brentano L: Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien, Königlich Bayerische Akademie der Wissenschaften, Bd. 24, 3. Abteilung, München 1909.

10       Birg H: Die ausgefallene Generation, Was die Demographie über unsere Zukunft sagt. 2. Aufl., C.H. Beck, München, 2006, S. 130.

11      United Nations Population Division (ed.): Replacement Migration – Is it a solution to declining and ageing populations? New York, 2001, p.43.

12      Birg H, Flöthmann EJ, Frein Th, Ströker K: Simulationsrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in den alten und neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert, Materialien des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, Band 45, Bielefeld 1998, S. A153.

13      Satistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung Deutschlands bis 2050, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden, 2006, S. 64.

14      Birg H: Integration und Migration im Spiegel harter Daten; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2009, S. 37.

15      Birg H: Die Weltbevölkerung, Dynamik und Gefahren. 2. Aufl., C.H. Beck, München, 2004, S. 105.