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Evangelische Kirche und Lebensrecht

Evangelische Kirche und Lebensrecht

Vorbemerkung
Bei der Behandlung dieses Themas beschränke ich mich auf das Lebensrecht des ungeborenen Kindes.

„Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tag nach der Empfängnis (Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter: Nidation, Individuation) an.” (Dr.jur., Dr.med. Reinhard Wille: Ärztlicher Kommentar zum geltenden Recht der Paragraphen 218/219 Strafgesetzbuch, S. 26)

Daran anknüpfend formulierten die Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe: „Jedes menschliche Leben – auch das sich entwickelnde Leben – ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.” (Ebenda) Ich möchte, ehe ich auf die Stellungnahmen innerhalb der Ev. Kirche zu sprechen komme, kurz die Rechtslage darstellen.

Die Rechtslage

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Seit 1871 stellte das deutsche Strafrecht Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe. Als Ausnahme von diesem Verbot ließ die Justiz seit 1927 lediglich Abtreibungen aus medizinischen Gründen zu. Im Rahmen der Reformen im Strafrecht plante die sozial-liberale Koalition seit 1972 auch eine Änderung des „Abtreibungsparagraphen“ § 218 StGB. In der Öffentlichkeit rief dieses Vorhaben heftige Auseinandersetzungen hervor. Die Befürworter der Reform stellten das Persönlichkeitsrecht der Mutter in den Vordergrund. Die Reformgegner betonten das uneingeschränkte Lebensrecht des Ungeborenen.

Zwei Modelle standen sich im Deutschen Bundestag gegenüber: Das von der CDU/CSU-Fraktion favorisierte „Indikationenmodell“ lässt Abtreibungen nur unter medizinischen und ethischen Bedingungen zu. Nach der von den Fraktionen von SPD und F.D.P. unterstützten „Fristenregelung“ ist die Abtreibung grundsätzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei. Nach langwierigen Beratungen entschied sich der Bundestag am 26. April 1974 mit knapper Mehrheit für eine Fristenregelung. Die CDU klagte daraufhin vor dem Bundesverfassungsgericht, das die Fristenlösung am 25. Februar 1975 für verfassungswidrig erklärte: Die Fristenlösung würde wesentliche Teile des Grundgesetzes verletzen.  

„Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung auch unter Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG, und hat auch Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.“  So das Bundesverfassungsgericht. Aufgrund dieses Urteils aus Karlsruhe verabschiedete der Bundestag am 6. Mai 1976 schließlich einen Kompromiss – die modifizierte Indikationsregelung: Der Schwangerschaftsabbruch bleibt innerhalb festgelegter Fristen straffrei, wenn eine der folgenden Indikationen vorliegt: medizinische Indikation: das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren ist gefährdet; eugenische oder embryopathische Indikation: eine schwere Schädigung des Ungeborenen; kriminologische Indikation: Schwangerschaft durch Vergewaltigung soziale Indikation: eine soziale Notlage der Frau, die befürchtet, dass ihre Kräfte nach der Geburt den vermehrten Ansprüchen nicht standhalten könnten.

Die Reform des § 218 wurde besonders von den Kirchen kritisiert, die den grundsätzlichen Schutz des ungeborenen Lebens forderten. Teilen der Frauenbewegung ging die Reform jedoch nicht weit genug: Mit der Parole „Mein Bauch gehört mir“ kämpften sie für eine völlige Streichung des § 218 im Strafgesetzbuch. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 war die Rechtslage zunächst uneinheitlich: In den alten Bundesländern galt weiterhin die Indikationsregelung. In den neuen Bundesländern blieb die von der DDR 1972 eingeführte Fristenregelung gültig, der zufolge die Frau in den ersten drei Monaten frei über die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden kann. Am 29. Juni 1995 beschloss der Bundestag eine modifizierte Fristenlösung mit Beratungspflicht: Demnach sind Abtreibungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten rechtswidrig, bleiben aber straffrei, wenn sich die Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten lässt. Die Beratungspflicht entfällt bei medizinischer oder kriminologischer Indikation. Besteht Gefahr für das Leben oder den körperlichen bzw. seelischen Gesundheitszustand der Mutter, ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt zulässig. Begleitende soziale Maßnahmen sollen die Entscheidung für das Kind erleichtern. Die Letztverantwortung für einen Schwangerschaftsabbruch liegt also nach dem Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 bei der schwangeren Frau. Der Staat ist verpflichtet, die Beratungsstellen zu überwachen. Sie müssen den „wesentlichen Inhalt” der Beratung und die „angebotenen Hilfsmaßnahmen” in einem Protokoll niederlegen.

Die Diskussion innerhalb der Evangelischen Kirchen

Während sowohl die Römisch-Katholische Kirche als auch die Orthodoxe Kirche Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich strikt ablehnen, geben die evangelischen Kirchen bei dieser Thematik ein uneinheitliches Bild ab. Die Reformatoren weichen nicht von der kirchlichen Tradition ab. Martin Luther bezeichnet die Zeugung eines Kindes als „Gottesdienst“ und trat daher für den Schutz des Gezeugten ein. (Martin Luther: Werkausgabe, 6, 247). Calvin bezog sich auf Exodus 21,22 und lehnte von daher einen Schwangerschaftsabbruch ab.

In der protestantischen Sozialethik bildeten sich Anfang des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Einstellungen zu diesem Thema heraus. Grundsätzlich wird der Schwangerschaftsabbruch kritisch gesehen, aber es wird auch die Forderung abgelehnt, dass eine Frau ein ungewolltes Kind gegen ihren Willen austragen und sich dann jahrelang um das Kind kümmern müsse. Dieser Konflikt zwischen dem Recht der Mutter auf die eigene Lebensgestaltung und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes sei nicht auflösbar, und ein Kompromiss nicht möglich. Es gibt also auf der einen Seite die ganz entschiedene Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs. Ich nenne hier nur zwei bekannte Theologen: Dietrich Bonhoeffer schreibt in seiner „Ethik“ über die „Tötung der Frucht im Mutterleib“: „Das aber ist nichts anderes als Mord.“ (D. Bonhoeffer: Ethik. München. 5. Aufl. 1961, S.118) Auch Karl Barth, der in seinem Hauptwerk, der Kirchlichen Dogmatik, sehr ausführlich auf das Problem der Abtreibung eingeht, bezeichnet dieses Tun als Mord. Er lässt nur eine Ausnahme zu:„wo zwischen dem  Leben bzw. dem gesunden Leben der Mutter und dem des Kindes zu wählen ist, da kann die Tötung des Kindes im Mutterleib erlaubt und geboten sein…“ (Karl Barth: Kirchliche Dogmatik. Zürich.  Bd. III,4, 2. Aufl. 1957,  S. 481) Auch der Göttinger Theologe Wolfgang Trillhaas lehnt in seiner „Ethik“ die Abtreibung ab: „Die Gründe dafür sind einfach: Jeder Embryo ist ‚Mensch in nuce‘, er ist Gabe Gottes nach Ps 127,3. Jede Beseitigung der Leibesfrucht ist beabsichtigte Tötung. Sie wird nicht im rechtlichen Sinne als Mord anzusprechen sein; denn das geltende Recht kennt die „Person“ nur von der Geburt bis zum Tode. … Die theologische Beurteilung weicht davon ab, denn der Embryo trägt Menschengestalt und hat menschliches Leben in sich.“ Trillhaas läßt wie Karl Barth nur die medizinische Indikation gelten. Ganz entschieden lehnt er die soziale Indikation ab: „Bei allem Mitgefühl für die sozialen Notstände lassen sich daher keine Gründe nennen, aus diesem Motiv ein Recht zur Tötung des werdenden Lebens zu nehmen.“ (W. Trillhaas: Ethik.Berlin. 3. Aufl. 1970, S. 211)

Ähnlich steht es zu lesen in der ein Jahr später (1971) von der Ev. Kirche herausgegebenen „Denkschrift zu Fragen der Sexualethik“: „Nicht vertretbar ist ein Schwangerschaftsabbruch aus rein sozialen Gründen (sogen. ‚soziale‘ Indikation). Soziale Schwierigkeiten verlangen sachentsprechende Maßnahmen. Wo erhebliche Belastungen der Frau und möglicherweise ihrer Familie bestehen, ist die Gesellschaft, besonders die christliche Gemeinde, zur Hilfe verpflichtet.“ (S. 31, Abs. 50)

Nach diesen Äußerungen geht grundsätzlich das Recht auf Leben dem Recht auf Lebensgestaltung vor. Diese Position wurde auch von den offiziellen Stellungnahmen der Ev. Kirche in den siebziger und achtziger Jahren vertreten. Dafür möchte ich jetzt einige repräsentative Stimmen aus der Evangelischen Kirche bringen.

1.) Konferenz der Bekennenden Gemeinschaften in Deutschland, 1971 (mit 219.550 zustimmenden Unterschriften)

Sie stellt ganz schlicht fest: „Durch die Verbindung der Samenzelle mit der Eizelle ist der neue Mensch ins Leben getreten. Er ist weder vor noch nach der Nidation ein Teil des mütterlichen Leibes. Ihm gebührt daher als einer eigenen Person der Schutz des Staates (Art. 1 und 2 GG).“ Daraus folgt die Kritik sowohl an der Fristenlösung als auch am Indikationsmodell: „Allen diesen ‚Reformen‘ ist gemeinsam, dass auch ohne Gefährdung des Lebens der Mutter eine Tötung des Embryos zulässig sein soll.“ Die Erklärung zitiert abschließend den damaligen Präses der westfälischen Landeskirche Hans Thimme: „Soziale Gründe können einen Schwangerschaftsabbruch nicht rechtfertigen.“ (epd-Dok. Nr. 6/72 vom 23.2.1977, S. 34ff.)

2.) Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 15. Januar 1972.

Anlass für diese Erklärung war der gemeinsame Beschluss des Politbüros der SED und des Ministerrats der DDR, „dass künftig jede Frau bis zum Ablauf von drei Monaten selbst entscheiden kann, ob sie ihre Schwangerschaft unterbrechen möchte“. Die Erklärung der acht Bischöfe beginnt mit den Worten: „Wir können diese Ankündigung einer so erheblichen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nur mit tiefster Bestürzung hören.“ Und dann ganz entschieden: „Der Abbruch einer Schwangerschaft ist Tötung menschlichen Lebens. Gott hat mit dem Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ menschliches Leben bejaht und geschützt. Es gibt Grenzfälle, in denen Tötung dennoch verantwortet werden muss; aber Grenzfälle sind Ausnahmen, die Gottes Gebot nicht aufheben.“ Das bischöfliche Wort schließt mit vier seelsorgerlichen Mahnungen: „Macht von der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruches keinen Gebrauch! Drängt niemand dazu! Sucht den Rat anderer Menschen Eures Vertrauens! Lasst die betroffenen Frauen, Mädchen und Familien in dieser schweren Frage nicht allein!“ (epd-Dok. 15/73, S. 52)

3.) Erklärung des Rates der EKD zu den Rechtsfragen des Schwangerschaftsabbruchs vom 17. März 1972.

Angesichts der Tatsache, dass das Strafrecht „eine unübersehbar große Zahl von illegalen Abtreibungen nicht verhindern“ konnte und dass mehr „wirksame Hilfen menschlicher und sozialpolitischer Art für bedrängte Frauen und ihre Familien“ ermöglicht werden sollten, sei eine Reform des Paragraphen 218 StGB notwendig. „Eine so verstandene Reform muss eine Reihe von Grundwerten berücksichtigen. Es geht in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs um nichts Geringeres als um das Verständnis von Leben, das nach christlicher Verkündigung von Gott gegeben ist und vor ihm verantwortet wird. Schutz und Förderung des Lebens sind aber auch ein allgemein menschliches Grundgebot. Das eigene Leben zu verantworten und das Leben anderer zu schützen, fordert von jedem einzelnen die Bereitschaft, Opfer zu bringen und Gefahren zu bestehen. Von diesem Verständnis menschlichen Lebens darf das ungeborene Leben nicht ausgenommen werden. Es ist einem eigenmächtigen Zugriff nicht verfügbar.“ Allerdings räumte der Rat der EKD ein: „Es gibt Fälle, in denen eine Frau durch eine Schwangerschaft in eine solche Bedrängnis gerät, dass das Strafrecht ein Austragen der Leibesfrucht nicht erzwingen sollte.“ (EKD-Texte. Heft 14, S. 3-7)

4.) Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Änderung des §218 vom 26. Nov. 1973

Diese Erklärung geht ausführlich auf die Schwierigkeiten ein, denen werdende Mütter in unserer Gesellschaft gegenüberstehen und fordert die „Schaffung von Voraussetzungen für eine kinderfreundliche Gesellschaft“. Sie betont aber auch: „Die Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens ist Gottes Gebot. Dem entspricht das Recht eines jeden Menschen auf sein Leben. Keine Gesellschaft kann bestehen, in der dies grundlegende Menschenrecht nicht anerkannt und geschützt ist. Weder durch ein Urteil über Wert oder Unwert eines individuellen Lebens noch durch eine Entscheidung darüber, wann es beginnt oder endet, darf das Recht auf Leben geschmälert werden.“  ie Fristenregelung wird kategorisch abgelehnt. Zur Indikationsregelung wird gesagt: „Alle Indikationen dürfen nur zur Ermittlung der einen Konfliktlage dienen, bei der dem Rechtsgut des ungeborenen Lebens das Rechtsgut des Lebens der Mutter gegenübersteht.“ (epd-Dok. Nr. 49/73 vom 17.12.1973, S. 2-4) Die Diskussion um den §218 kam auch nach der Reform nicht zur Ruhe, im Gegenteil: Sie lebte Ende der siebziger Jahre wieder stark auf. Das führte dazu, dass der Rat der EKD am 9. Mai 1980 wiederum mit einer „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch“ an die Öffentlichkeit trat.

5.) Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Schwangerschaftsabbruch vom 9. Mai 1980

Einleitend stellt der Rat der EKD fest: „Das bedrückende Problem der Schwangerschaftsabbrüche ist durch die neuen Regelungen nicht kleiner geworden.“ Das betrifft vor allem eine große Anzahl von schwangeren Frauen, die sich nach wie vor in einer Konfliktsituation weithin allein gelassen fühlen. Das betrifft aber auch Ärzte, Schwestern, Seelsorger und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Beratungsstellen. Die Erklärung betont: „Jede werdende Mutter hat ein Recht auf Hilfe. Aber es gibt kein ‚Recht auf Schwangerschaftsabbruch‘…“ Ausdrücklich werden die Männer angesprochen, die Jugendlichen, die politisch Verantwortlichen, alle, die durch ihren Beruf mit Schwangerschaftskonflikten zu tun haben, die Mitarbeiter der Beratungsstellen, die Ärzte, die Kirchengemeinden. Erstmals wird in einem offiziellen EKD-Papier auch die Möglichkeit einer Adoption angesprochen: „Manchmal kann auch eine Freigabe zur Adoption das Zeichen für die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind sein.“ (EKD-Texte. Heft 14, S. 9-11)

6.) Gemeinsame Erklärung von der Katholischen Kirche und der Ev. Kirche „Gott ist ein Freund des Lebens“- 1989

Die Erklärung beginnt mit den Worten: „Es gibt keinen Grund, die Aussagen über Gottebenbildlichkeit bzw. Würde des Menschen nicht auch auf das vorgeburtliche Leben zu beziehen oder ihm den Anspruch gleichen Schutzes wie für das geborene Leben zu verweigern…  Jedes menschliche Leben erhält einen eigenen Wert und Sinn, in dem Gott es schafft, ruft, achtet und liebt.…  Der Schutz des ungeborenen Lebens ist unteilbar.…  Schwangerschaftsabbruch soll nach Gottes Willen nicht sein. Mit diesem Satz erinnern wir an den unbedingten Anspruch Gottes, dass jede vorsätzliche Tötung eines Mitmenschen, also auch die Tötung eines ungeborenen Kindes, ausschließen will.…“ Darum fordert die gemeinsame Erklärung zweierlei: eine Bewusstseinsänderung und praktische Hilfen. „Darum wollen wir auf der Ebene der Bewusstseinsbildung und der Prägung ethischer Grundüberzeugungen die Achtung vor der Würde des ungeborenen Lebens vertiefen und fördern. Darum wollen wir an der Veränderung solcher Verhältnisse arbeiten, die der Annahme des ungeborenen Lebens im Wege stehen.“ Die gemeinsame Erklärung räumt allerdings auch ein, dass in einer Ausnahmesituation ein Schwangerschaftsabbruch legitim sein kann. „In einer äußersten Zuspitzung können die betroffenen Menschen aber in ihrem Gewissen dem Konflikt ausgesetzt sein, dass sie Gottes Gebot wohl als für sich verbindlich anerkennen, aber dennoch angesichts der unerträglich erscheinenden Schwierigkeit, in die sie die Schwangerschaft gebracht hat, für sich keinen Weg sehen, das ungeborene Kind anzunehmen und am Leben zu erhalten.“  In diesem Zusammenhang ist die Rede von der medizinischen Indikation. Am Ende betont die gemeinsame Erklärung nochmals in aller Deutlichkeit: „Das Recht auf Selbstbestimmung ist Teil der menschlichen Würde … Selbstbestimmung findet aber ihre Grenze am Lebensrecht des anderen.“

Diese Position hat die Ev. Kirche leider nicht durchgehalten. Das zeichnete sich bereits ab in der nur zwei Jahre später erschienenen

7. Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der ehemaligen DDR zur Diskussion um die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs“ vom 20. Juni 1991.

Es muss vorausgeschickt werden: Die rechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und ihre Begründungen unterschieden sich fundamental. Der Einigungsvertrag verpflichtete aber den gesamtdeutschen Gesetzgeber, spätestens bis zum 31. Dezember 1992 eine einheitliche Regelung zu treffen. Wenige Tage vor dem Vollzug der kirchlichen Vereinigung wandten sich die Leitungsgremien der noch getrennten evangelischen Kirchen an Gemeinden und Öffentlichkeit und riefen „Einsichten und Grundsätze in Erinnerung, die zum Nachteil von hilfreichen Lösungen immer wieder in Vergessenheit geraten“. Achten Sie einmal darauf, an welchen Stellen die eindeutigen Positionen früherer kirchlicher Erklärungen ab geschwächt und für neue Interpretationen geöffnet werden. Zunächst wird wie in früheren Erklärungen daran erinnert: „Anderes menschliches Leben, und so auch das Leben eines ungeborenen Kindes, darf nicht angetastet werden. Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen begründet kein Verfügungsrecht über das Leben eines anderen Menschen … Schwangerschaftsabbruch ist Tötung menschlichen Lebens. Er steht im Widerspruch zum Gebot Gottes: ‚Du sollst nicht töten‘. Ein Recht auf Abtreibung kann und darf es nicht geben.“ Das ist klar gesprochen. Kurz danach aber heißt es: „Letztlich hängt … alles davon ab, dass die schwangere Frau selbst das in ihr heranwachsende neue Menschenleben annimmt. Ihr Ja zu dem ungeborenen Kind kann nicht ersetzt oder vertreten werden.“ Und weiter: „Der Schutz des ungeborenen und der Schutz des geborenen Lebens stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist umso besser gewährleistet, je mehr das geborene Leben geschützt ist. Wer glaubwürdig für das Leben eintreten will, darf nicht beides gegeneinander ausspielen.“ Es wird dann noch an Aufklärungs- und Erziehungsarbeit appelliert, um „das Bewusstsein für Würde und Wert des ungeborenen Lebens zu stärken …Es wird darauf hingewiesen: „Auch die Rechtsordnung hilft, das Ja zu einem ungeborenen Kind zu erleichtern und zu schützen und zur Wertorientierung beizutragen. Daraus sind auf verschiedenen Rechtsgebieten Konsequenzen zu ziehen“. Die Erklärung geht dann im Einzelnen noch auf das Sozialrecht, das Steuerrecht und das Strafrecht ein, ebenso auf Maßnahmen zur Familienförderung. „Entscheidend ist in jedem Fall der tatsächlich erzielte Schutz des ungeborenen Lebens. Alle Vorschläge müssen sich daran messen lassen, was sie zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Eine Überprüfung wird in der Regel nur im Rückblick auf gemachte Erfahrungen möglich sein. Wir regen darum an, dass die jetzt anstehende Neuregelung einen Auftrag einschließt, ihre Auswirkungen zu beobachten, die mit ihr gemachten Erfahrungen auszuwerten und auf dieser Grundlage gegebenenfalls Vorschläge zu ihrer Weiterentwicklung vorzulegen.“

Diese Anregung, die nicht allein von der evangelischen Kirche kam, ist im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 aufgenommen und bekräftigt worden. Es spricht ausdrücklich von einer „Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht“ (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 88. Band, 1993, S. 269).

Die Leitungsgremien der Ev. Kirche haben ihre frühere eindeutige Position nicht durchgehalten. Genau genommen waren diese eindeutigen Aussagen von Anfang an in der Ev. Kirche nicht konsensfähig. Neben den Befürwortern des Indikationsmodells und den Befürwortern der Fristenregelung gab es von Anfang an eine Gruppe der Unentschiedenen, die beide Möglichkeiten akzeptabel fanden. Dazu gehören einige Landessynoden wie die damalige Schleswig-Holsteinische (epd-Dok. Nr. 15/73 vom 6.4.1973, S. 46) oder die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen (EAF) (epd-Dok. Nr. 6/72 vom 23.2.1972, S. 52)

Die Ökumene-Referenten der evangelischen Kirchenleitungen in der Bundesrepublik erklärten auf ihrer Tagung vom 29.-31. März in Bensheim: Im protestantischen Bereich sei es unmöglich, eine einheitliche und für alle verbindliche Stellung-nahme zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs und seiner strafrechtlichen Behandlung abzugeben. (epd-Dok. 15 vom 6.4.1973, S. 48)

Bereits in den Diskussionen Anfang der siebziger Jahre regte sich der Widerstand gegen kirchenoffizielle Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch. 

Ich zitiere einmal aus einigen dieser Stimmen:

1.) Erklärung von 26 Mitgliedern der Theologischen. Fakultät Münster

Diese Erklärung setzt sich von den offiziellen Erklärungen der Kirchen ab und tendiert zu einer Liberalisierung der Abtreibungspraxis. „Wenn Martin Luther die Erklärung des 5. Gebotes damit beginnt, dass es darum gehe, dem Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid zu tun, dann können auch Frauen nicht davon ausgenommen werden, die nicht in der Lage sind oder sich nicht in der Lage fühlen, ein Kind zu gebären. Nicht nur eine körperliche Tötung zerstört Leben, sondern auch schon eine durch psychische oder gesellschaftliche Zwänge bedingte Zerrüttung.“(epd-Dok. Nr. 31 vom 5.7.1971, S. 14)

2.) 48 Hochschullehrer, wiss. Mitarbeiter und Angestellte der Theologischen Fakultät der Göttinger Universität forderten am 28. Januar 1971 „die Bundesregierung und die Fraktionen des Bundestages auf, den § 218 im Sinne der sog. Fristenlösung bei gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen zu ändern“.

Begründung: „Aus der im Evangelium proklamierten Annahme des Menschen durch Gott folgt, dass auch das ungeborene menschliche Leben von Grund auf der Annahme wert ist und dennoch der freien Annahme bedarf. Deshalb darf der gebotene Schutz des menschlichen Lebens im Konfliktfall nicht über den Schutz der Menschlichkeit menschlichen Lebens gestellt werden.“(epd-Dok. Nr. 6 v.23.2.1972, S.54ff.)

3.) Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V.

Der Vorsitzende dieser Konferenz, Prof. Dr. Dr. Siegfried Keil, schrieb am 28. März 1973 in einem Brief an die Fraktionsvorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien u.a.: „Nach der Entscheidung der Fraktionen der sozial-liberalen Koalition, sich bei der Reform des § 218 für die Fristenlösung einzusetzen, ist durch die Berichterstattung vieler westdeutscher Zeitungen der Eindruck entstanden, als leisteten die Kirchen gegen diese Lösung geschlossenen Widerstand. Dieser Eindruck täuscht. …“ Und nun folgt eine ähnliche Argumentation wie die der Göttinger theologischen Fakultät: Das Gebot „Du sollst nicht töten“ zielt nicht nur „auf die Erhaltung des biologischen Lebens, sondern auch auf das Herstellen von Bedingungen für Menschlichkeit des Lebens. Dementsprechend muss im Problemkreis des Schwangerschaftsabbruchs der Konflikt ‚Leben gegen Menschlichkeit des Lebens‘… ernst genommen werden. …“ (epd-Dok. 15b vom 10.4.1973, S. 19)

4.) Dr. Heinz Zahrnt, theol. Leiter des DAS schrieb im Sonntagsblatt vom 1. April 1973:
„Mit der bloßen Berufung auf ein sittliches Prinzip oder ein göttliches Gebot ist es nicht getan. Zitation allein genügt nicht. Vielmehr kommt es gerade darauf an, nach wie vor gültige ethische Grundsätze oder göttliche Gebote in die veränderte geschichtliche Situation hinein neu auszulegen…“
(epd-Dok. 15a vom 9.4.1973, S. 74)

Mit solchen Stellungnahmen wurde die Liberalisierung des Paragraphen aus der Kirche heraus vorangetrieben. Die bayerische Landessynode hat 1991 in Rosenheim die umstrittene „Rosenheimer Erklärung“ verabschiedet, in der erstmals der Schwangeren zugestanden wurde, dass die letzte Entscheidung über eine Abtreibung bei ihr liege.“

Wie beurteilt heute die EKD ihren Einsatz für das ungeborene Leben?

Bei der Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens will die Evangelische Kirche, soweit es in ihren Kräften steht, dazu beitragen, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Denn Abtreibungen sollen nach Gottes Willen („Du sollst nicht töten“) nicht sein. Am 9. Dezember 2009 gab die EKD eine Erklärung ab, in der sie sich noch einmal ausdrücklich auf die Gemeinsame Erklärung mit der Deutschen Bischofskonferenz vom 30. Nov. 1989 bezog. Sprecher der EKD, so vor allem der Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, Dr. Hermann Barth, erwecken in ihren Stellungnahmen den Eindruck, dass die Position der Evangelischen Kirche zwar gegenüber der Katholischen Kirche differenzierter, aber klar und eindeutig sei. Ich erinnere demgegenüber noch einmal an die Erklärung der Ökumene-Beauftragten der Kirchenleitungen, die davon sprachen, dass es im protestantischen Bereich unmöglich sei, eine einheitliche und für alle verbind-liche Stellungnahme zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs abzugeben.

Beurteilung des Befundes

Was sagen wir zu diesem Befund? Es ist anerkennenswert, dass sich kirchenleitende Persönlichkeiten so deutlich für das Lebensrecht und für den Lebensschutz ausgesprochen haben. Aber das Ergebnis ist dennoch unbefriedigend. Warum?

1.) Es besteht kein innerkirchlicher Konsens

Die evangelische Kirche konnte in den vergangenen 50 Jahren keinen innerkirchlichen Konsens zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs zustande bringen. Dieses uneinheitliche Bild hat dazu beigetragen, dass die Stellungsnahmen aus der evangelischen Kirche eine eindeutige Bewusstseins-bildung in der Öffentlichkeit zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs kaum gefördert haben. Der Rat der EKD musste ja selber in seiner Erklärung vom Mai 1980 einräumen: „Offensichtlich stellen sich im allgemeinen Rechtsbewusstsein Veränderungen ein, die der Gesetzgeber zwar nicht beabsichtigt hat, die aber die Wertung des Lebens überhaupt nachhaltig beein-flussen.“ (EKD-Texte . Heft 14, S. 9)

2.) Es gibt in der Evangelischen Kirche keine klare Ethik

Damit rühren wir an ein Kernproblem der Evangelischen Kirche. Indem die Kirchenleitungen zunehmend hingenommen haben, dass maßgebliche Grundsätze aus Bibel und Bekenntnis beliebig interpretiert werden konnten, verlor nicht nur die evangelische Dogmatik an Profil, sondern als Folge davon wurde auch die Ethik profillos.

3.) Es gibt eine wachsende Akzeptanz von Abtreibungen in der Gesellschaft

Prof. Manfred Spieker stellte fest: „Die Entwicklung des Abtreibungsstrafrechts von 1992 bis 1995 zeigt, dass weder der Gesetzgeber noch das Bundesverfassungsgericht bereit waren, die bioethische Grenze zu verteidigen, die das Grundgesetz der Demokratie in Deutschland gesetzt hatte. Das Gericht folgte der Mehrheit des Parlaments, die wiederum davon aus-ging, dass die öffentliche Meinung nicht mehr hinter dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes stehe.“ (Zit. nach: Rainer Mayer: Schwangerschaftskonfliktberatung. 2009, S. 21)

4.) Anwesenheits- statt Beratungspflicht

Der § 219 Abs.1 S. 4 StGB (1995) schreibt vor, dass die Beratung „ergebnisoffen zu führen“ ist. Das kann so interpretiert werden, dass die Beratung nicht auf ein bestimmtes Ergebnis hinlenken soll. Das führt in der Praxis zur Entwertung des „Beratungsziels“, dass nach dem Gesetzgeber darin bestehen sollte, der Schwangeren Hilfen aufzuzeigen, wie sie trotz aller Schwierigkeiten das Kind austragen kann. So erklärte dann auch die Hessische Frauen- und Sozialministerin Barbara Stolterfoth (SPD) am 30. Juni 1995 in einem Interview im Deutschlandfunk: „Im Kern darf die Frau selbst entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen will oder nicht, … Gut ist, dass das Ziel dieser Beratung nicht mehr vorgeschrieben ist, die ist ergebnisoffen.“ In der Praxis ist dem Gesetz Genüge getan, wenn die Schwangere einen Termin in einer entsprechenden Beratungsstelle wahrnimmt und von Anfang an darauf besteht, dass Abtreibung für sie der einzig gangbare Weg ist. Dann muss diese Entscheidung in der Beratungsstelle einfach akzeptiert werden.

Und daran beteiligt sich die Evangelische Kirche. Problematisch ist nicht die kirchliche Beratung. Sie ist Teil der Seelsorge. Problematisch ist aber, dass für Seelsorge Quittungen ausgestellt werden, und erst recht problematisch ist, dass diese Bescheinigungen den Weg zur Tötung ungeborener Kinder öffnen.

5.) Die falsche Rechtfertigung der Abtreibung

Darauf hat sehr treffend Dr. Hans Penner vom Internationalen Arbeitskreis für Verantwortung in der Gesellschaft e.V. in einem Schreiben an das Kirchenamt der EKD vom 16.März 1998 hingewiesen: Er schreibt: „Das gegenwärtige staatlich verordnete System der Schwangerenberatung ist eine raffinierte Methode, alle Beteiligten zu rechtfertigen: Das Parlament ist gerechtfertigt – schließlich hat es durch die Beratungspraxis der leichtfertigen Tötung Ungeborener einen Riegel vorgeschoben. Die Berater sind gerechtfertigt – schließlich erfüllen sie das Gesetz und dienen dem Leben. Die Mütter sind gerechtfertigt – schließlich haben sie sich beraten lassen, wie das Gesetz es vorschreibt. Die Fachärzte sind gerechtfertigt – schließlich besitzen sie eine legale schriftliche Genehmigung zur Tötung.“ Letztlich kann also für die Abtreibungen niemand verantwortlich gemacht werden.

6.) Die Folge: weiterhin hohe Abtreibungszahlen

Trotz aller Reformen des § 218, trotz aller Appelle für den Schutz des Lebens, trotz aller sozialpolitischen Maßnahmen konnte die hohe Zahl der Abtreibungen nicht gemindert werden. Der viel zu geringen Zahl von jährlich ca. 700.000 Geburten steht eine offizielle Zahl von ca. 120.000 Abtreibungen gegenüber (die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen). Statistik

7.) Fazit: Wir dürfen uns mit diesem Zustand nicht abfinden.

Wir sollten aus der Kraft des Gebetes, mit fundierten Argumenten, mit glühender Liebe für das geborene und für das ungeborene Leben und im Bündnis mit gesellschaftlichen Gruppen, die diesen Notstand ebenfalls erkennen, alles uns Mögliche tun, um ein Umdenken in unserem Land zu bewirken. Wir müssen wieder ein kinderfreundliches Land werden – kinderfreundlich nicht nur zu den geboren, sondern auch zu den ungeborenen Kindern.

Anhänge

1.) Votum der Ärzte zum § 218

Was hat eigentlich die Standesvertretung der Ärzte zu diesem Thema gesagt? Es gab eine Presseerklärung vom 24. Juni 1971, in der der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands sehr klar und entschieden gegen eine Liberalisierung des § 218 Stellung nahm: „Jeder Schwangerschaftsabbruch ist eine Vernichtung neuen Lebens und damit ein Akt der Tötung. … Zugleich hält der NAV es für bedenklich, dass die Diskussion um eine Änderung des §218 StGB zum Teil in einer geradezu beschämenden Manier geführt wird. Schließlich geht es um Sein oder Nichtsein von Leben. Dieses neue Leben gehört sich selbst und muss prinzipiell geschützt werden.“ (epd-Dok. Nr. 31 v. 5.7.1971, S.4).

2.) Die Sprache verrät, wes Geistes Kind wir sind:

„Schwangerschaftsunterbrechung“. So die Vertreter der Theol. Fakultät der Universitäten Münster und Göttingen. Wer von „Schwangerschaftsunterbrechung“ spricht, muss ich fragen lassen, ob und wie diese Unterbrechung wieder aufgehoben werden kann. Auch die „Fristenlösung“ löst das Problem nicht wirklich. Und das ungeborene Leben ist kein „werdendes Leben“. Diese Formulierung „Schutz des werdenden Lebens“ findet man selbst in offiziellen katholischen Texten , z. B. in den Erklärungen der Deutschen Bischofskonferenz vom 25.9.1970, vom 23.6.1971 und vom 15. März 1973(epd-Dok. Nr. 31/71, S.5ff. und Nr.15/73, S. 65) Oder auch bei dem früheren Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber in seinem Aufsatz in den Lutherischen Monatsheften Nr. 2/1973 (epd-Dok. Nr. 15/73, S. 45).

3.) Statistik (Die Tabelle kann durch Anklicken vergrößert werden)Schwangerschaftsabbrueche 2000-2008 [1]

In der Tabelle werden statistische Daten über Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland im Zeitraum von 2000 bis 2008 dargestellt mit der Zahl der Lebendgeburten als Bezugsgröße. Im dargestellten Zeitraum gingen die Abbrüche (fast kontinuierlich) ebenso zurück wie auch die Zahl der (Lebend-) Geburten. Das Verhältnis fiel in den letzten Jahren langsam von gut 18% auf nun knapp unter 17%.

Die dargestellte Statistik schlüsselt die Abbrüche nach der Begründung und dem Zeitpunkt des Abbruches sowie der Zahl der bereits vor dem Abbruch von den Frauen lebend zur Welt gebrachten Kindern auf. Daraus ergibt sich, dass der weit überwiegende Teil (über 97%) der Abbrüche nach der Beratungsregelung vorgenommen wird und auch ein Teil mit anderer Indikation bis einschließlich der 14.Woche p.m. vorgenommen wird, so dass bis dahin über 98% aller Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Zahl der sogenannten „Spätabbrüche“ entgegen dem allgemeinen Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche zugenommen hat. Es werden also medizinische Gründe (s.o.) immer später zur Begründung eines Abbruches herangezogen.

Die Anzahl der Abbrüche nach kriminologischer Indikation fällt offiziell kaum ins Gewicht, allerdings ist die Dunkelziffer [2] solcher Delikte allgemein hoch und oft werden Schwangerschaften auch über die Beratungsregelung abgebrochen ohne Angabe des Grundes, dass sie infolge eines Verbrechens entstanden sind. Andere statistische Erhebungen zur Altersverteilung der Frauen beim Schwangerschaftsabbruch zeigen, nach den Daten von 2008, dass nur gut 12% der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, unter 20 Jahre alt sind. Abbrüche sind also nicht vor allem ein Phänomen sehr junger Frauen. Der Schwerpunkt der Abbrüche verteilt sich relativ gleichmäßig über die Altersklassen von 20 bis 40 Jahren mit einer abfallenden Tendenz bei höherem Alter der Frauen. Etwa 60% der Frauen haben bei einem Schwangerschaftsabbruch bereits ein oder mehrere Kinder.

Weiterhin lässt auch eine insgesamt nicht erfasste Anzahl von deutschen Frauen nach wie vor Abbrüche im Ausland vornehmen. Allein für die Niederlande wurden im Jahre 2004 1.158 Abbrüche an in Deutschland wohnhaften Frauen ausgewiesen (dabei ist die Erfassung allerdings nicht vollständig). Etwas über die Hälfte davon lässt den Abbruch ab der 14. Woche durchführen. Welche Indikationen vorlagen und in welchem Maße es sich dabei um Fälle handelt, in denen deutsche Ärzte einen Abbruch abgelehnt haben, wird von der niederländischen Statistik nicht erfasst. Es geht um die Erhaltung der gefährdeten Rechtsstaatlichkeit unserer Republik. Aus diesem Grunde dürfen die Verlautbarungen der Evangelischen Kirche zur Frage des Lebensrechtes ungeborener Menschen nicht unwidersprochen bleiben.

4.) Stellungnahme zu den Ausführungen von Herrn Dr. Hermann Barth, Leiter des Kirchenamtes der EKD, in Rheinischer Merkur vom 20.02.98.

– Nie und nimmer wurde bestritten, dass schwangeren Frauen geholfen werden muss. Eine Legalisierung der Tötung ungeborener Kinder ist jedoch keine Hilfe für die Schwangeren, sondern verstärkt im Gegenteil die Konfliktsituation und den gegen das Kind gerichteten Druck des sozialen Umfeldes.

– Niemand bestreitet, dass unerwünschte Schwangerschaften schwere Konflikte hervorrufen können. Hierbei handelt es sich um Sozialkonflikte. Es ist Rückfall in Barbarei, wenn man Sozialkonflikte dadurch löst, dass man den Sozialpartner umbringt.

– Probleme kann man nicht durch eine Euphemisierung des Sprachgebrauches lösen. Schwangerschaften kann man nicht abbrechen, wie man eine Therapie oder eine Lehre abbricht. Ein Mensch ist kein Gallenstein, den man „abtreiben“ könnte. Ein menschlicher Embryo ist kein „werdendes Leben“, sondern er ist bereits menschliches Leben.

– Die kirchliche Formulierung „Schwangerschaftsabbruch soll nach Gottes Willen nicht sein“ ist falsch. Die Tötung Ungeborener ist nicht in das Belieben des Menschen gestellt. Gott allein hat das Recht, über Tod oder Leben eines Menschen zu entscheiden. Die atheistische sozialistische Ideologie, von der die Evangelische Kirche stark unterwandert ist, beansprucht für Frauen das Recht, über Tod oder Leben ihrer Kinder zu entscheiden.

– Die Auffassung, dass „ein verbesserter Schutz des ungeborenen Lebens am ehesten von Gewissensbildung und Bewusstmachung sowie von sozialpolitischen Maßnahmen erwartet werden kann“ ist eine Selbsttäuschung der Evangelischen Kirche. Gewissensbildung im Volk geschieht durch das geltende Recht. Das ist eine Grunderkenntnis des Römischen Rechtes, welches zu den Wurzeln der europäischen Kultur gehört. Die von der Evangelischen Kirche befürwortete gegenwärtige Rechtslage hat eine demoralisierende Wirkung. Am 26.02.75 hat das Bundesverfassungsgericht die „Fristenregelung“ des §218 für verfassungswidrig erklärt. Es gibt keinen rational nachvollziehbaren Grund, diese Erklärung zu ändern. Darauf hätten Sie hinweisen müssen. Statt dessen fragt Herr Dr. Barth „ob die Frist für eine straffreie Abtreibung nicht anders bestimmt werden muss“. „Entscheidend ist in jedem Fall der tatsächlich erzielte Schutz des ungeborenen Lebens. Alle Regelungen müssen sich daran messen lassen, was sie zur Erreichung dieses Ziels beitragen“ (H. Barth). Diese Aussage ist eine klare Absage an eine transzendente Bestimmung der Ethik: Das vom Menschen als richtig erkannte Ziel muss erreicht werden; nicht die Verwirklichung des Willens Gottes ist das prioritäre Ziel der Evangelischen Kirche.

Pastor Jens Motschmann
Bad Gandersheim 27.2.2010

Vortrag während des Kongresses “Verfügungsmasse Mensch? Lebensanfang und Lebensende im Licht der christlichen Ethik” vom 26.02.-28.02.2010, Bad Gandersheim (Veranstalter: Gemeindehilfsbund / Gemeindenetzwerk). Die Beiträge des Kongresses sind in einer Idea-Dokumentation zugänglich.