Gemeindenetzwerk

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Predigt: „Du sollst nicht töten“

Montag 29. März 2010 von Dr. Joachim Cochlovius


Dr. Joachim Cochlovius

Predigt: „Du sollst nicht töten.“ (2. Mose 20,13)

Wer sich mit den Geboten Gottes, mit dem Gesetz Gottes beschäftigt, der blickt auf die geistigen Grundlagen des Menschseins, denn hier drückt sich der Wille Gottes aus. Und hier entsteht göttliche Wirklichkeit. Das Wort Wirklichkeit meint, daß hier jemand wirkt, und daß eine „Wirk“-lichkeit geschaffen wird. Durch Sein Gebot wirkt Gott in dieser Welt und an uns. Durch Sein Gebot prägt er uns, arbeitet an der Menschheit, schafft ihren Kollektivcharakter. Durch Sein Gebot handelt Er, segnet Er, verurteilt Er. Ps. 33,9: „Wenn Gott spricht, so geschieht’s.“ Gottes Wort ist eben anders als unsere Worte. Und durch Sein Gebot, daß Er Israel in schriftlicher Form gegeben und der gesamten Menschheit ins Gewissen hineingelegt hat, ist Er der „wirk“-same Gott, von Adam und Eva an bis heute. Und deswegen kann Paulus sagen über das Gesetz Gottes, daß es heilig ist, daß es gerecht ist und daß es gut ist (Röm. 7, 12). Wir würden hier nicht sitzen, wir wären keine Menschen, wenn dieses wirksame Gotteswort uns nicht so geprägt hätte, daß es sich verankert und eingebrannt hätte in das menschliche Gewissen.

Ich möchte etwas sagen über die Zehn Gebote, über das Wesen und über die innere Struktur. Mose erhält die Zehn Gebote auf zwei Tafeln, nicht auf einer, nicht auf drei Tafeln, nicht auf zehn Tafeln – auf zwei Tafeln. Wir haben zwei Hände, wir haben zwei Beine und Füße, wir haben zwei Augen wir haben zwei Ohren. An jeder Hand sind fünf Finger, an jedem Fuß fünf Zehen. Ist das Zufall? Gott handelt in der Schöpfung, Gott handelt in der Geschichte, Gott handelt durch Sein Wort. Ich bin davon überzeugt, daß unsere fünf Finger zur Rechten und die fünf Finger zur Linken uns täglich an die Zehn Gebote, an die „Zehn Worte“, wie der Hebräer sagt, erinnern sollen. Nach der alttestamentlichen Zählung beziehen sich fünf Gebote auf unser Verhältnis zu Gott, fünf Gebote auf unser Verhältnis zum Nächsten: Die erste Tafel ermahnt uns zum Glauben an den dreieinigen Gott. Und interessanterweise gehört das Gebot, die Eltern zu ehren, auf die erste Tafel, weil die Eltern biblisch gesehen Stellvertreter des lebendigen Gottes an ihren Kindern sind. Die zweite Tafel ermahnt zur Liebe, zur Liebe gegenüber unserem Nächsten. Und wir wissen, daß Augustin das zweite Gebot entfernt hat, und im Gefolge Augustins die katholische Kirche und auch Luther, auch die lutherische Kirche bis heute – darüber müssen wir jetzt nicht groß nachdenken, ob das berechtigt war oder nicht – ich selber habe mir jedenfalls wieder die biblische, die alttestamentliche Zählung angewöhnt, die ja auch in der reformierten Kirche und in anderen Kirchen so gehandhabt wird.

Jetzt kommt der Daumen. Ist das Zufall, daß ein Finger der Finger ist, dem die anderen vier Halt, Funktionalität, Festigkeit verdanken? Ist es Zufall, daß die große Zehe dem ganzen Fuß, dem ganzen Laufen Festigkeit und Halt verleiht? Wir sollten wieder ganz neu über die Schöpfungswunder Gottes nachdenken, aber sie sind uns so alltäglich, daß wir keinen müden Gedanken dafür verschwenden. Aber Gott dokumentiert sich uns täglich, wenn wir nur die Predigt der Schöpfung besser verstünden.

Warum erwähne ich den Daumen? Weil das erste Gebot das Leitgebot für die erste Tafel ist, und das sechste Gebot „Du sollst nicht töten“ nach alttestamentlicher Zählung das Leitgebot für die zweite Tafel. „Du sollst nicht töten“ ist der Inbegriff und die Überschrift, die Zusammenfassung aller Gebote, die anschließend folgen, in nuce. Alles ist im sechsten Gebot drin, so wie auch alles der ersten Tafel im ersten Gebot drin ist. Und damit gewinnt dieses sechste Gebot eine ganz außerordentliche Bedeutung: Es verbietet grundsätzlich die Schädigung meines Mitmenschen und meines Nächsten. Es verbietet, obwohl die Ausführungen ja dann erst später kommen, die Schädigung seiner Ehe, die Schädigung seines Besitzes, seines Eigentums, die Schädigung seiner Ehre, die Schädigung seines gesamten Lebensumfeldes durch meinen Neid, durch meine Mißgunst, ist alles schon im sechsten Gebot drin. Wenn wir den Daumen ansehen, dann sehen wir auf das erste Gebot und auf das sechste Gebot.

Nun, das sind vielleicht für den einen oder anderen keine theologischen Aussagen – das gebe ich gerne zu. Die Schöpfung ist keine Theologie, aber sie ist Hinweis, und sie ist Gottes gnädige Erinnerung. Und die Psalmen und Paul Gerhardts Lieder sind ja voll von Hinweisen auf die Schöpfung: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“.

Aber gehen wir zur Theologie. Wie legt Jesus die Gebote aus? Ich erinnere mich noch an einen Geburtstagsbesuch, als ich junger Pfarrer war im Oberfränkischen, und ich auf den nicht gerade allzu häufigen Kirchenbesuch des Besuchten einging, und er mich sehr freundlich ansah und sagte: „Herr Pfarrer, die Gebote halte ich alle“. Das war für mich ein Wort, das über dieses Tag hinausreichte. Denn so denkt der Mensch. So denkt jeder, der die Bergpredigt nicht kennt. So denkt jeder, der die Antwort Jesu nicht kennt auf die Frage des Schriftgelehrten, was denn eigentlich das höchste Gebot sei. Und die Antwort, die Jesus da gibt (Matth.23), ist ja nichts anderes, als daß Er sagt: „Du kennst die Zehn Gebote: Du sollst Gott, deinen HERRN, von ganzem Herzen lieben, mit aller Kraft, mit deinem ganzen Gemüt“. Und das ist die erste Tafel des Dekalogs: Gott lieben. Und da merken wir schon: Hier geht’s nicht nur darum, den Feiertag zu heiligen oder die Eltern zu ehren. Da geht es darum, mit ganzer Kraft Gott zu lieben. Und wer wollte da noch so kühn sein und zu sagen: „Ja, das habe ich alles gehalten.“ Und Jesus fügt hinzu: „Das andere Gebot ist diesem Gebot gleich: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“

Hier herrschen übrigens manche Mißverständnisse, was eigentlich die Liebe zu sich selbst überhaupt meint. Manche denken, jeden Nachmittag eine Schwarzwälder Kirschtorte ist schon Selbstliebe, also wenn wir uns etwas Angenehmes gönnen und uns wichtig nehmen. Das ist überhaupt keine Selbstliebe! Kierkegaard hat ein ganzes Buch über die Liebe geschrieben: „Der Liebe Tun“. Das ist leider zu dick, deswegen liest das niemand. Aber da stehen ja so köstliche Wahrheiten drin, was wirklich Liebe ist und was wirklich Selbstliebe ist. Da versteht man: die Liebe sucht das Beste für den Nächsten. Und wenn du dich wirklich liebst, dann suchst du das Beste für dich selbst. Und was ist das Beste für dich selbst? Daß du ein gehorsames Herz empfängst und daß du die Geborgenheit des Dreieinigen Gottes in Jesus Christus für Zeit und Ewigkeit empfängst. Das ist das Beste, und du liebst dich dann erst richtig, wenn du dir das gönnst. Also da muß man schon etwas tiefer blicken.

Und Jesus nimmt uns an der Hand, und er schenkt uns die Bergpredigt. Die Bergpredigt ist das Grundgesetz der Nachfolger Jesu, nicht des Volkes. Das Volk folgte Ihm ebenfalls. Die hörten auch das eine und das andere. Aber es heißt ausdrücklich am Beginn der Bergpredigt: „Er wandte sich zu Seinen Jüngern und tat Seinen Mund auf und lehrte sie.“ Das Volk entsetzt sich.  Aber die Jünger hören.

Die Bergpredigt ist die göttliche Auslegung der Zehn Gebote. Da muß man nur Kap. 5 bei Matthäus lesen, die so genannten Antithesen. Laßt uns die Antithesen ganz neu hören! „Antithese“ ist ein Begriff für diese Formulierung, die Jesus dort gebraucht: „Ich aber sage euch…“. Und viele meinen, damit würde Er das Alte Testament sozusagen überwinden. Es gibt kaum einen größeren theologischen Irrtum als  zu meinen, Jesus würde sich an irgendeiner Stelle gegen das Alte Testament stellen oder in sich und in Seiner Person jetzt etwas Neues bringen. Überhaupt nicht! „Ich sage euch, wie ihr die Gebote zu verstehen habt!“ Das ist damit gemeint! Er gibt die Auslegung! Und in den Geboten ist alles drin. Das Neue Testament bringt nichts anderes, wenn wir die Zehn Gebote mit den Augen des Neuen Testaments lesen. Das ist natürlich die Voraussetzung. Und diese fünf Antithesen? „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten! Ich aber sage euch…“ Ja, wenn du schon ansetzt, den anderen zu beleidigen, schon wenn du deiner Herzensregung nachgibst, die dich über den anderen erhebt und die ihn abkanzelt oder abwertet – schon da bist du  längst ein Übertreter des sechsten Gebotes geworden. Also da kann man nun nicht mehr so  locker vom Hocker sagen: „Ja, also die Zehn Gebote habe ich alle gehalten!“ Da wird man erst mal ganz klein und ganz schwach. Und da wird man ein armer, elender, sündhafter Mensch, um mit Luther zu sprechen.

Und damit bin ich bei der dreifachen Wirksamkeit der Gebote Gottes. Die Glaubensväter haben das sehr schön auf einen Nenner gebracht, und mir ist bisher noch keine bessere Erklärung vor die Augen gekommen, als sie sagten: „Gott spricht durch Sein Gebot in dreifacher Weise, indem Er Sein Gebot als Riegel, als Spiegel und als Siegel darstellt“. Das kann man sich doch schön merken, nicht wahr: Riegel – Spiegel – Siegel. Was haben die Glaubensväter damit gemeint?

Als Riegel prägt Gott in das menschliche Gewissen, in das menschliche Kollektivgewissen ein Urempfinden ein, daß Gott einen Anspruch auf uns Menschen hat und daß diese Zeit von der Ewigkeit umschlossen ist. Im Predigerbuch gibt es ja diesen berühmten Satz (Pred. 3,11), daß die Ewigkeit in das Herz der Menschen hineingelegt ist. Aber sie füllen die Ewigkeit falsch und sie versuchen, die Zeit zur Ewigkeit zu machen. Aber das Urempfinden hat jeder Mensch, und das ist die Riegelfunktion des Gesetzes. Paulus sagt in Röm.2, daß der Wille Gottes im Blick auf den Nächsten, auf unser soziales Verhalten, Israel schriftlich gegeben, aber der ganzen Menschheit ins Gewissen gelegt wurde. Woher haben denn die Menschen ihren Hochmut und ihr Sündenbewußtsein – im Blick auf andere? Ja, weil Gott an ihrem Gewissen bereits gehandelt hat. „Wie kommt denn der eigentlich dazu, mir die Vorfahrt zu nehmen?!“ Ja, und dann kommen die berühmten Auseinandersetzungen. Das könnten wir ja gar nicht sagen, wenn wir nicht ein Empfinden von Gut und Böse mitbekommen hätten. Röm.2, 15: „Sie beweisen, daß es in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert.“ Das ist die Riegelfunktion, und da handelt Gott von Früh bis Abend an allen 6 ½ Milliarden Menschen. Das Wort Gottes ist doch ein lebendiges Wort. Es wirkt unablässig.

Und dann die Spiegelfunktion. Er gibt Seinem Gebot eine Sünden aufdeckende Kraft. Paulus sagt Röm. 5,20: „Das Gesetz ist dazu gekommen, damit die Sünde mächtiger wird.“ Am Gesetz Gottes, das jedem Menschen eingebrannt ist, hat der Mensch die Chance, sich als Sünder zu erkennen bzw. zu kapieren, daß da eine Sünde in ihm wohnt. Wenn mir meine Frau sagt: „Sei doch nicht so egoistisch beim Essen!“, dann merke ich, daß ich egoistisch bin. Wenn ich keine Instanz hätte, die mir das sagt, wäre ich ein Traumtänzer. So ist das. Diese Funktion, diese Spiegelfunktion, die reißt uns aus den Traumtänzereien und aus den Illusionen über uns selbst – hinweg und hinaus. Und wer das kapiert hat, der kann kein Humanist mehr sein, der an das Edle im Menschen glaubt. Wer diese Spiegelfunktion kennt, der kann nicht mehr humanistisch vom Edlen im Menschen träumen. Da ist nichts Edles da, wenn wir uns in der Spiegelfunktion entdecken.

Und dann, so haben die Väter gesagt, gibt es noch eine Siegelfunktion. Und das ist natürlich eine gute Botschaft. Gott verleiht – Siegel kommt ja von der Siegelfunktion des Heiligen Geistes her – Gott verleiht den Nachfolgern Jesu Kraft zur Liebe. Der Nachfolger Jesu kann beginnen, alternativ zu leben, um Vergebung zu bitten, Vergebung anderen zu gönnen und ihnen wirklich immer wieder anzubieten und zu schenken. Er kann lernen abzugeben. Er kann lernen, den Ruf des Anderen nicht zu schädigen, sondern zu fördern. Er kann lernen, sich zu freuen, wenn es dem Anderen gut geht, sogar seinem Feind das Beste gönnen. Er kann lernen, Neid zu überwinden. Er kann lernen, pornographische Bilder aus seiner Seele wegzustreifen. Das sind alles keine Illusionen mehr, sondern das sind Realitäten, die der Heilige Geist im Nachfolger Jesu schenkt. Und alles wirkt Gott durch Sein Wort. Ein wunderbarer, im vollen Sinn des Wortes wirk-samer Gott.

Und das alles beziehe ich jetzt aufs sechste Gebot. Alle Gebote sind ja Wohltaten. Wir denken schnell, daß Gott mit der ersten Hälfte der Zehn Gebote sozusagen Seiner eigenen Ehre hinterherläuft und den Menschen erziehen will, nun doch Ihn endlich ernst zu nehmen und Ihm die Ehre zu geben. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie oft in der Bibel Gott „besorgt“ ist um Seine eigene Ehre? Aber haben Sie auch schon mal darüber nachgedacht, daß es völlig unsinnig ist, zu meinen, Gott könne über Seine Ehre besorgt sein? Warum ist Er denn so interessiert daran, daß wir Ihn ehren? Weil Er uns damit einen Gefallen tut! Wir werden befreit von uns selber, wenn wir beginnen, Gott die Ehre zu geben. Das ist eine Wohltat für uns! Und warum ist Er so interessiert daran, daß wir das Beste für unseren Nächsten suchen und ihn fördern und Phantasien entwickeln, ihm wohlzutun? Damit will Er nicht nur unseren Egoismus bekämpfen, sondern damit will Er uns Gutes tun. Wir werden befreit, wenn wir an andere denken, sonst kreisen wir um uns selbst. Wie viele Christen kreisen um sich! Pastor Kemner hatte jede Menge gute Sprüche auf Lager gehabt: „Ich – icher – am ichsten“. Und das war nicht nur auf Nichtchristen bezogen. Ja, wie viele sind in diesem Kreislauf von Selbstbeweihräucherung und Selbstkritik gefangen. Sie sind gar nicht frei. Aber die Gebote machen uns frei – von uns selbst. Luther hat gesagt in der „Freiheit eines Christenmenschen“: „Ein Christ lebt nicht in sich selbst, sondern er lebt in Gott und im Nächsten.“ Wie viel und wie oft leben wir noch in uns selber. Also: eine große Befreiungsaktion sind die Gebote – Wohltaten.

Und nun speziell auf das sechste Gebot bezogen, wenn Er sagt: „Du sollst nicht töten!“ – da werde ich ja geschützt. Das ist ja eine Wohltat für mich. Indem Er 6 ½ Milliarden Menschen in das Gewissen eingeprägt hat: „Du sollst nicht töten!“, kann ich nachher fröhlich nach Hause fahren, ohne befürchten zu müssen, daß hinter jeder Brücke ein Maschinengewehr steht und mich abknallt. Ja – so ist es doch: Gott hält diese Menschheit in Seiner Hand und gewährleistet durch die Gebote, daß das Chaos immer wieder neu gebremst und abgewendet wird. Und indem Er den Kain bestraft, den ersten Mörder der Menschheitsgeschichte – interessanterweise nicht mit der Todesstrafe, sondern mit innerer Unruhe und damit, daß das Feld nicht mehr den Ertrag wiedergibt, den er hineininvestiert – sehr interessant, die Strafe, die der Kain da mit sich durchs Leben schleppen muß – indem Gott diese Strafe verhängt und indem Er dem Noah sagt: „Wenn jemand dein Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden“ – im Noachitischen Bund (1. Mose 9) –, prägt Er der Menschheit eine Kollektivscheu ins Herz, eine Kollektivscheu, den anderen kaputt zu machen.

Nach dem Mauerfall war ich in Berlin. Ich habe mich getroffen mit einem alten Freund. Wir sind durch Ostberlin gelaufen. Ich habe einen Teil meines Lebens in Berlin verbracht, nach meiner Flucht aus der DDR. Dort, in Berlin, habe ich meine Frau kennen gelernt, dann das Theologiestudium begonnen – deswegen liegt mir Berlin so am Herzen. Wir laufen also durch Berlin, die Hinterhöfe, entsetzlich, einen dritten, vierten, fünften Hinterhof zu sehen; die gibt’s ja heute kaum noch; wo die Berliner Arbeiter da, ohne daß jemals ein Sonnenstrahl in diese Höfe gekommen wäre, eingepfercht, gefangen gehalten wurden. Da hab ich ein Verständnis für das ursprüngliche Anliegen der Sozialdemokraten bekommen, die das ja angeprangert hat: „Ihr haltet große Predigten im Berliner Dom, und wie sieht’s denn aus bei den Arbeitern?“ Aber dann kamen wir an einem Park vorbei, und da sagte mein Freund: „Du, paß auf: Hier kannst du dich heute Abend nicht mehr hintrauen!“ Und ich sag: „Ja, wie meinst du das?“ – Er sagt: „Ja, hier ist die Unterwelt!“ – Ich sage: „Habt ihr keine Polizei in Berlin?“ – Da sagt er: „Ja, weißt du was, die Polizei hat ein gentleman agreement mit der Unterwelt geschlossen. Hier läßt sich keine Polizei blicken!“ Und da lief mir ein Schauer über den Rücken. Rechtsfreie Räume. In Chicago soll ein ganzes Drittel der Stadt auf Grund solcher gentleman agreements in der Hand der Mafia sein, und was weiß ich wo sonst noch. Also, wenn unser Schutz nicht mehr gewährleistet ist, dann wird das Leben ungeborgen.

Ich möchte die Wohltat des sechsten Gebotes unterstreichen. Wir können uns ja noch frei versammeln. Liebe Brüder und Schwestern, nur noch ein Drittel der Länder dieser Erde – etwa 192 sind ja in der UNO versammelt – nur noch ein Drittel gewährt überhaupt Versammlungsfreiheit. Wissen wir das eigentlich noch zu schätzen? Was das für Wohltaten sind, daß wir nachher als freie Bürger nach Hause fahren können – das ist doch alles nicht selbstverständlich! Das ist alles Gottes Gabe und Geschenk! Im Menschen lebt etwas ganz anderes! „Homo homini lupus“, haben die Römer gesagt. Da lebt eine wölfische Gesinnung.

Nun möchte ich die Riegel- und die Spiegel- und die Siegelfunktion noch einmal ganz direkt auf das sechste Gebot anwenden.

Die Riegelfunktion ist natürlich außerordentlich wichtig. Wer Röm. 13 kennt, der weiß: Gott hat Instanzen eingesetzt, die das Leben schützen sollen und die das Gute belohnen und die das Böse bestrafen sollen. Und das ist die Obrigkeit, um mit Luthers Übersetzung zu sprechen, bzw. die staatlichen Gremien, so wie wir heute sagen. Wer Röm. 13 intensiv liest, der ist da und dort befremdet, und manche Theologen umgehen auch diesen Text. Da steht zum Beispiel drin, die Obrigkeit ist eine Dienerin Gottes. Und dann denken sie an Hitler und an die Diktatoren dieser Welt: „Was? Das soll ein Diener Gottes gewesen sein?“ Aber man muß natürlich auch hier etwas weiterdenken. Der Text ist ja geschrieben, als Nero am Ruder war. Paulus wußte sehr genau, was er schreibt. Auch Nero war ein Diener Gottes. Nur: Das darf man eben nicht subjektiv verstehen, in dem Sinne, daß die bewußt Gott dienen wollten oder wollen, sondern das muß man objektiv verstehen: Die sind in Gottes Hand Diener. Die Regierungen müssen machen, was Gott will. Sie folgen Gottes Plänen, ob sie wollen oder nicht. Das ist für mich eine befreiende Botschaft. Zusammen mit meiner Frau bin ich ja im Sozialismus der DDR aufgewachsen. Wir wissen etwas von staatlichen Repressalien. Und ich weiß noch, wie mich mein Vater 1960 in die Berliner S-Bahn setzte und wie am Bahnhof Friedrichstraße die VoPos an uns vorbei liefen. Ich sah an mich herunter mit großer Angst im Bauch, daß einer auf die Idee kommen könnte, da mal rein zu kommen.

Die Riegelfunktion des sechsten Gebotes ist deswegen so außerordentlich wichtig, weil Gott solche Instanzen eingesetzt hat, die diese Riegenfunktion überwachen und gewährleisten. Luther hat gesagt: „Gott stürzt den einen Buben durch den anderen“; und wer die Weltgeschichte etwas kennt, der kann das nur bestätigen. Gott sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen (Daniel Kap. 4). Wir sind  im tiefsten nicht einer Regierung ausgeliefert. Wir sind nicht Instanzen ausgeliefert, welche die Gebote Gottes mit Füßen treten, was in unserem Land ja nun wahrlich seit ein paar Jahrzehnten geradezu mit Perfektion gemacht wird. Wir sind nicht ausgeliefert – nein, Gott hat sie in der Hand, sie sind alle Gottes Diener – ob sie’s wollen oder nicht, ob sie’s wissen oder nicht. Das ist für mich eine große Befreiung zu wissen: Ich bin keinem Politiker ausgeliefert. Das ist die Botschaft von Röm. 13.

Aber die geht natürlich noch weiter. Denn die Diener sind eingesetzt, Gutes zu belohnen und Böses zu bestrafen, und wenn sie das nicht machen, sieht Gott eine Weile zu, manchmal erstaunlich lange, aber es kommt die Stunde der Wahrheit. Und dann kommt ein anderer Bube und stürzt diese Regierung vom Thron. Das wußte schon Maria in ihrem Lobgesang. Da brauchen wir nicht nachzuhelfen. Und man muß da jetzt nicht ehrenrührig an den Motiven  Stauffenbergs herummäkeln; jeder mag da seines Weges und seines Gewissens gewiß sein, aber ich persönlich glaube, es ist nicht nötig, Diktatoren mit Gewalt zu stürzen. Bonhoeffer war da auch anderer Ansicht. Aber wenn man Röm.13 zu Ende denkt: Sie müssen doch alle machen, was Gott will. Da muß ich nicht nachhelfen. Aber es kommt die Zeit, daß eben auch ein ganzes politisches System kaputt geht. Und ich weiß nicht – ich will kein Prophet sein -, ob die Demokratien, die sich nach der Selbstbestimmung des Menschen ausrichten, noch lange Bestand haben. Ich weiß es nicht – Gott ist ja sehr geduldig. Aber wenn wir weiter so machen? Ich habe mir mal ein Strafgesetzbuch von 1950 gekauft, und eins jetzt, was gerade gültig ist – sie sind ja ganz billig, an jedem Kiosk – das deutsche Strafgesetzbuch in der Beck’schen Reihe. Und wissen Sie, liebe Brüder und Schwestern, was ich festgestellt habe? Die ganze Schieflage unseres Rechtssystems begann, als in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts der Gotteslästerungs-Paragraph gestrichen wurde. Die Gotteslästerung war verboten nach dem Zweiten Weltkrieg. Und das war das erste Verbot, das man in einem Anflug menschlicher Freiheit und menschlicher Selbstbestimmung vom Sockel gekippt hat. Und heute darf unter dem Vorwand künstlerischer Freiheit ein onanierender Christus am Kreuz ausgestellt werden! Und nicht einmal die katholische Kirche mit all ihrem Einfluß ist noch in der Lage, diese angebliche künstlerische Freiheit in die Schranken zu weisen! Soweit sind wir gekommen. Und man könnte ja schon an dieser Stelle, wenn man wollte – aber ich will es nicht –, dem Islam etwas mehr Mitspracherecht in der deutschen Gesetzgebung wünschen, denn wir sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Fundamente menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Wir sind dazu offensichtlich nicht mehr in der Lage.

Die Riegelfunktion des sechsten Gebotes ist ein Segen, wo sie beachtet wird von den Regierungen. Wo sie nicht beachtet wird, spielt diese Regierung mit ihrer eigenen Existenz. Wir wissen von Kain: Es dauerte zehn Generationen, bis sich der Fluch Gottes – Kain ist ja verflucht worden – endgültig erfüllt hat. Zehn Generationen, die Kain folgten. Zehn Generationen Geduld! Gott ist eben doch anders als wir. Er trägt und Er erträgt die selbst gebastelten Nöte der Menschen unendlich lange, aber es kommt dann doch die Stunde der Wahrheit.

Nun zur Spiegelfunktion und zur Siegelfunktion des sechsten Gebotes.

Die Spiegelfunktion ist natürlich das Unangenehmste, was es gibt, wenn das Wort Gottes an meine Seele faßt und mir sagt: „Da ist ja schon wieder ein Neid! Da ist ja schon wieder eine Mißgunst! Da ist ja schon wieder der Versuch, andere schlecht zu machen auf deine Kosten!“ Das ist unangenehm! Wer will das schon aushalten? Wohl dem, der eine Frau hat, die einem dann auf die Füße tritt und aus der eigenen Traumtänzerei und Selbstbeweihräucherung befreit. Und wohl dem, der Gottes Wort hat und Gottes Wort an sich heranläßt. Da kann man eigentlich nur reagieren, so wie ich es seit vielen Jahren jeden Morgen mache, wenn ich in meine stille Zeit gehe: „HERR, vergib mir meine Sünden!“ Ich fange gar nicht an zu beten, ohne daß ich um Sündenvergebung gebeten habe. Welch andere Reaktion ist denn überhaupt denkbar als die, vor Gott zu bekennen, ein armer, elender, sündhafter Mensch zu sein und zu werden und Gott um Vergebung zu bitten, wenn diese Spiegelfunktion an mir zu wirken beginnt. Liebe Brüder und Schwestern, viele Christen haben das noch nicht verstanden. Wir sind ja seit 25 Jahren in der Ehearbeit tätig. Was Christen in ihrer Ehe für Unmengen unvergebener Schuld mit sich herumschleppen, das ist sagenhaft. Wenn man dann auf den Nerv der Dinge zu sprechen kommt und plötzlich Verhaltensmuster des anderen auf den Tisch gelegt werden, die schon zwanzig Jahre zurückliegen, da faßt man sich an den Kopf und sagt: „Wo ist denn die Vergebung geblieben in Eurer Ehe? Haben Sie die vergessen? Wann haben Sie denn zum letzten Mal gebeichtet?“ Und dann muß man manchmal noch das Wort Beichte erklären: „Haben Sie denn niemanden, der Sie befreit von diesen Lasten, wenn Sie’s schon alleine nicht schaffen?“ Es ist manchmal zum Heulen. Ach daß wir doch, wenn diese Spiegelfunktion an uns zu wirken beginnt, immer gleich in die Vergebung gehen!

Aber ich gehe noch weiter. Wenn das stimmt, was wir jetzt hier gehört haben, daß seit 1974 sechs Millionen ungeborene Kinder das Tageslicht nicht erblicken durften, was ist das für eine Schuld, jetzt rede ich ganz bewußt von Kollektivschuld, die da auf unserem Volk lastet! Jemand hat einmal ausgerechnet, daß etwa ein Drittel der ganzen Bevölkerung direkt und indirekt mit dieser Schuld zu tun hat. Und wenn man dann mit Medizinern spricht, welch eine beschleunigende Funktion Schuld für schlimme Krankheiten hat, und welch retardierende, also aufhaltende Funktion ein Mensch, der aus der Vergebung kommt, in seine Krankheit hineinlegen kann, dann kann man nur staunen, daß unser ganzes gesellschaftliches Leben überhaupt noch funktioniert bei so viel unvergebener Schuld! Und dann müssen wir eine Kirche erleben, – um noch mal Heinrich Kemner zu zitieren -, welche weithin die Sünde namenlos macht und Abtreibung nicht mehr Sünde nennt und statt dessen der schwangeren Frau die letzte Entscheidung über Leben und Tod ihres ungeborenen Kindes aufbürdet! Und damit noch meint, den Menschen einen Gefallen zu tun! Wo ist denn da der Gefallen, wenn nicht mehr gesagt wird, daß der arme, elende, sündhafte Mensch Vergebung bei Gott durch Jesus Christus suchen und finden kann?

Die Spiegelfunktion des sechsten Gebots: Ebenso eine unendliche Wohltat, wenn sie denn wahrgenommen und ergriffen wird.

Und nun das letzte, die dritte Funktion – und das ist schön, daß wir mit einem wirklichen Evangelium schließen können: die Siegelfunktion. Dieses Gebot entfaltet  auch eine Siegelfunktion für alle, die Gott lieben und Jesus Christus nachfolgen. Sie empfangen durch das Siegel des Heiligen Geistes, das sie tragen, eine große Kraft zu einem wirklich alternativen Leben. Sie empfangen Liebe, und aus dieser Liebe heraus können sie diesen ganzen Urwald in ihrer Seele, der da voller Neid und voller Mißgunst und voller Haß und voller Ablehnung und voller Beleidigung anderer Menschen ist – diesen ganzen Urwald ausrotten und beerdigen im Blut Jesu. Wir können tatsächlich – und das ist ja der neutestamentliche Begriff von Vollkommenheit – wir können tatsächlich, nicht wir, aber Christus in uns – beginnen, unsere Feinde zu lieben. Das ist ja etwas ganz Großartiges. Das ist christliche Vollkommenheit: „Seid vollkommen, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Und das steht im Zusammenhang mit der Feindesliebe (Matth. 5, 48).

Und um das darzulegen und zu betonen, daß die Siegelfunktion des sechsten Gebots keine Illusion ist, schließe ich mit einem Bericht, den ich gelesen habe bei Enrico Dapozzo. Enrico Dapozzo war ein Evangelist. Er saß im KZ. Er schreibt in seinen Lebenserinnerungen von einer der schönsten Stunden seines ganzen Lebens, wo er sich unmittelbar in der Obhut Gottes wußte und die Liebe Gottes zu seinem ärgsten Feind leben konnte. Das kam so, daß ein SS-Aufseher es auf ihn abgesehen und sich immer alle möglichen Schikanen ausgedacht hatte, um diesen verfluchten Christen mundtot zu machen. Es kam ein Heilig Abend heran, und Dapozzo war drei Tage vorher auf Schmalkost gesetzt worden. Er hatte Hunger im Bauch, und dann wird er zitiert in das Büro dieses SS-Aufsehers. Der sagt zu ihm: „So, nun stell dich mal hin. Du willst doch ein Christ sein, und du bist zur Nächstenliebe verpflichtet. Und ich gebe dir jetzt Gelegenheit dazu. Weißt du, was ich hier habe?“ Und da greift er da unter seinen Tisch und holt ein Paket raus und sagt. „Weißt du, was in dem Paket ist? Ich hab schon reingeguckt. Das ist ein Kuchen, den deine Frau dir geschickt hat, zu Weihnachten. Und weißt du, was ich jetzt mache? Ich freue mich auf den Kuchen.“ Und dann packt er das Paket aus und ißt den Kuchen auf vor den Augen von Dapozzo. Und der denkt dabei an seine Frau, mit welcher Fürsorge und eigener Entbehrung sie den Kuchen gebacken hat. Und dann erzählt Dapozzo in seinen Lebenserinnerungen: „In diesem Moment wurde ich überwältigt von der Liebe Gottes. Ich sah diesen armen Menschen vor mir, der sein ganzes Vergnügen da hinein legte, mich zu schädigen und mir weh zu tun. Und ich konnte ihn lieb haben und habe in diesen Minuten für diesen Mann gebetet.“ Und die Geschichte geht weiter. Durch einen göttlichen Zufall trifft Dapozzo diesen Mann zwei, drei Jahre später nach Kriegsende auf irgendeiner Straße in irgendeinem kleinen Dorf, wo er gerade auf Evangelisationstour war. Und der frühere SS-Mann läuft auf der einen Seite, Dapozzo auf der anderen. Sie gucken sich an und sie erkennen sich sofort. Und der frühere SS-Mann schlägt seinen Mantel hoch und läuft schnell weiter. Dapozzo geht ihm nach und sagt: „Ich habe dir schon damals vergeben. Ich möchte dich einladen zu einer Tasse Kaffee.“

Das ist Nächstenliebe, und das ist das, was Jesus aus diesem sechsten Gebot macht, wenn wir Ihm nachfolgen. Und das ist doch eine wunderbare Botschaft.

Gott segne Sein Wort an uns allen. Amen.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius
Bad Gandersheim 28.2.2010

Predigt während des Kongresses “Verfügungsmasse Mensch? Lebensanfang und Lebensende im Licht der christlichen Ethik” vom 26.02.-28.02.2010, Bad Gandersheim (Veranstalter: Gemeindehilfsbund / Gemeindenetzwerk). Die Beiträge des Kongresses sind in einer Idea-Dokumentation zugänglich.

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 29. März 2010 um 9:58 und abgelegt unter Lebensrecht, Predigten / Andachten.