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Die Verantwortung des Staates für den Lebensschutz

Die Verantwortung des Staates für den Lebensschutz

Dass der Staat die Aufgabe hat, für den Schutz der in ihm lebenden Menschen zu sorgen, versteht sich für einen naturrechtlich Denkenden eigentlich von selbst. Welche Aufgabe könnte wichtiger sein als diese? Dennoch ist es keineswegs selbstverständlich, dass selbst ein Staat, der sich Rechtsstaat nennt, bereit und in der Lage ist, das Leben eines jeden Menschen wirksam zu schützen.

Wie das Bundesverfassungsgericht (im Folgenden: BVerfG) in seinem ersten Abtreibungsurteil von 1975 ausgeführt hat, lässt sich die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten, wonach jeder das Recht auf Leben hat. Die staatliche Schutzpflicht ergebe sich aber auch aus der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG).

Auch das sich erst entwickelnde Leben nehme bereits an dem Schutz teil, den das Grundgesetz der Menschenwürde gewähre. Wo menschliches Leben existiere, komme ihm Menschenwürde zu. Das Recht auf Leben werde jedem gewährleistet, der „lebt“. Zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben könne hier kein Unterschied gemacht werden. „Jeder“, dem das Recht auf Leben zustehe, sei auch das noch ungeborene menschliche Wesen.

Zur Frage des Beginns des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes haben die Verfassungsrichter bereits damals die Ansicht vertreten, Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums bestehe nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis „jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an“. Ob dasselbe bereits für ein früheres Stadium der menschlichen Entwicklung gilt, brauchte das BVerfG im Zusammenhang mit dem so genannten Schwangerschaftsabbruch nicht zu entscheiden. Unserem Embryonenschutzgesetz liegt die Auffassung des Gesetzgebers zugrunde, dass der in vitro gezeugte Embryo bereits am Schutz der Menschenwürde Anteil hat.

Wie das BVerfG schon 1975 festgestellt hat, gebietet die Schutzpflicht dem Staat, sich schützend und fördernd vor das menschliche Leben – auch das noch ungeborene – zu stellen. Das heiße vor allem, es vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Diese Verpflichtung bestehe grundsätzlich auch gegenüber der Mutter. Der Lebensschutz des Ungeborenen habe Vorrang vor ihrem Selbstbestimmungsrecht. Die übliche Bezeichnung „Schwangerschaftsabbruch“ könne nicht verschleiern, dass es sich hierbei um eine „Tötungshandlung“ handelt. Auf eine klare Kennzeichnung dieses Vorgangs als „Unrecht“ könne nicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber müsse die „grundgesetzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs“ zum Ausdruck bringen. Er könne dies allerdings auch auf andere Weise tun als mit dem Mittel der Strafdrohung. Dieses Mittel müsse allerdings dann als „ultima ratio“ eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen sei.

Auf die grundsätzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschafts-abbruchs dürfe nicht für eine bestimmte Frist verzichtet werden. Die Schutzpflicht des Staates gelte jedem einzelnen konkreten Leben. Der Schutz des einzelnen Lebens dürfe nicht aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt werde, andere Leben zu retten. Denn: „Jedes menschliche Leben – auch das erst sich entwickelnde Leben – ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“

An diesen allgemeinen Grundsätzen hat das BVerfG in seinem zweiten Abtreibungs- urteil von 1993 im Wesentlichen festgehalten und die Auffassung vertreten, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber sich als Versuch dafür entscheide, das ungeborene menschliche Leben mit einer Beratungsregelung besser als bisher zu schützen. Allerdings müsse er die Auswirkungen einer solchen Regelung im Auge behalten, seine Praxis also beobachten (Beobachtungspflicht) und sein Konzept erforderlichenfalls nachbessern bzw. korrigieren (Nachbesserungs- bzw. Korrekturpflicht).

Die gesetzliche Regelung, die der Bundesgesetzgeber mehr oder weniger getreu den damaligen Vorgaben des BVerfG im Jahr 1995 getroffen hat, gilt nun bereits im fünfzehnten Jahr. Von ernsthaften Bemühungen des Bundestags als Gesetzgeber, seiner Beobachtungspflicht nachzukommen, kann jedoch keine Rede sein. Die Kirchen haben gelegentlich an diese Pflicht erinnert. Die Einzigen, die sie mit Nachdruck angemahnt haben, waren die Lebensrechtsorganisationen und ihre Mitglieder.

Ansonsten herrscht nahezu allgemeine Zufriedenheit mit unserem so genannten Ab treibungsrecht. Wie die Statistik belege gebe es in Deutschland „immer weniger“ Abtreibungen. In anderen Ländern mit einer reinen Fristenlösung werde vergleichsweise mehr abgetrieben. Bei uns müsse sich jede Frau vor dem Schwangerschaftsabbruch beraten lassen. Die Pflichtberatung diene dem Schutz des ungeborenen Lebens und ermögliche es der Frau, eine Gewissensentscheidung über das Austragen oder den Abbruch ihrer Schwangerschaft zu treffen, eine Entscheidung, mit der sie leben kann und die zu achten sei. Auch nach dieser Beratung sei der Schwangerschaftsabbruch nur straffrei, bleibe aber rechtswidrig. Und in der Beratung, so stehe es im Gesetz, müsse der Schwangeren bewusst sein, dass das Ungeborene auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat. So hören wir es immer wieder und so möchte man uns glauben machen, wie stolz wir im Grunde auf unser deutsches „Schutzkonzept“ sein könnten, an dem herumzumäkeln geradezu unverantwortlich sei. Das jedoch darf uns nicht davon abhalten, das so genannte Beratungsschutzkonzept, wie es bei uns gesetzlich konkretisiert ist, einer nüchternen Prüfung zu unterziehen.

Was zunächst die Zahlen des Statistischen Bundesamts betrifft, ist die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland von 1996 (130.899) bis 2001 auf 134.964 angestiegen, in den folgenden Jahren (mit Ausnahme eines leichten Anstiegs im Jahr 2004 (129.650) auf 114.484 im Jahr 2008 tatsächlich zurückgegangen. Diesen absoluten Zahlen gegenüber ist jedoch Skepsis angebracht. Nach Schätzungen von Fachleuten liegt die tatsächliche Gesamtzahl mindestens doppelt so hoch als die statistisch ausgewiesene. Die Statistik des Bundesamts beruht auf den Angaben der Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Diesen obliegt zwar eine Meldepflicht. Deren Erfüllung ist jedoch praktisch nicht überprüfbar. Deshalb kann es nicht verwundern, dass nach einer 2005 erfolgten Anfrage der Juristen-Vereinigung Lebensrecht bis dahin kein einziger Fall eines Verstoßes gegen die Meldepflicht der gesetzlichen Möglichkeit entsprechend geahndet worden war. Und warum sollten auch die professionellen Abtreiber das zahlenmäßige Ergebnis ihrer tödlichen Praxis vollständig offenbaren, wo doch unsere Politiker wie die Gesellschaft an der Botschaft interessiert sind, dass es bei uns „immer weniger Abtreibungen“ gebe?

Der statistische Rückgang der absoluten Abtreibungszahlen darf uns auch deshalb nicht blenden, weil in ihnen die nicht bekannte Zahl solcher Abtreibungen nicht enthalten ist, die von Ärzten nicht als solche registriert, sondern unter anderen Gebührenziffern abgerechnet werden. Davon abgesehen sind die absoluten Zahlen ohnehin nicht aussagekräftig. Angesichts des gleichzeitigen Rückgangs der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter und der Geburten muss die Gesamtzahl der Abtreibungen zwangsläufig abnehmen. Wird zudem berücksichtigt, dass von den propagierten Möglichkeiten einer so genannten Nachverhütung, die nicht als Schwangerschaftsabbruch gilt, immer häufiger Gebrauch gemacht wird, lässt sich mit der amtlichen Statistik ein Schutzerfolg des gesetzlichen Konzepts keineswegs belegen. Über den Schutz des einzelnen ungeborenen Kindes, zu dem der Staat verpflichtet ist, sagt die Statistik ohnehin nichts aus.

Ob in Deutschland weniger abgetrieben wird als in anderen Ländern ist im Übrigen unerheblich. Denn entscheidend kann nur sein, ob unser Staat das Leben ungeborener Kinder so schützt, wie unsere Verfassung es verlangt.

Als Nächstes ist die Frage zu beantworten, ob die straffreie Tötung eines ungeborenen Kindes nach der gesetzlichen Fristenregelung wirklich davon abhängt, dass ihr eine Pflichtberatung der Schwangeren vorausgegangen ist. Tatsächlich hat das BVerfG im zweiten Abtreibungsurteil von 1993 als unverzichtbare Rahmenbedingung eines Beratungskonzepts verlangt, dass die Beratung für die Frau zur Pflicht gemacht wird. Ferner hat dieses Urteil klargestellt, dass die Aufnahme einer Konfliktberatung „von vornherein nur möglich“ sei, wenn die Schwangere der beratenden Person die wesentlichen Gründe mitteilt, die sie dazu bewegen, einen Abbruch der Schwangerschaft in Erwägung zu ziehen. Zwar könne eine Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangeren Frau nicht erzwungen werden. Doch sei für eine Konfliktberatung die Mitteilung dieser Gründe „unerläßlich“.

Wozu die schwangere Frau und die Beratungsstelle verpflichtet sind, um eine straffreie Tötung des Ungeborenen zu ermöglichen, richtet sich jedoch entscheidend nicht nach dem, was das BVerfG damals dem Gesetzgeber für eine gesetzliche Neuregelung vorgegeben hat, sondern nach dem tatsächlichen Inhalt der geltenden Gesetze. Danach hängt die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (nach der Fristenregelung) u. a. davon ab, dass die Schwangere dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich hat beraten lassen (§ 218a Abs. 1 Satz 1 StGB). Voraussetzung ist also der Nachweis der Beratung, nicht diese selbst. Was die Frage betrifft, ob die Schwangere gesprächs- und mitwirkungsbereit sein muss, um diesen Nachweis erhalten zu können, heißt es im Gesetz, die Beratung, umfasse das Eintreten in eine Konfliktberatung. Dazu werde „erwartet“, dass die schwangere Frau die Gründe für den erwogenen Schwangerschaftsabbruch mitteilt, wobei die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft nicht erzwungen werden dürfe (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 SchKG). Diese Bereitschaft wird also lediglich erwartet und Erwartungen können auch unerfüllt bleiben. Ferner heißt es im Gesetz, dass die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung nicht verweigert werden darf, wenn durch die Fortsetzung des Beratungsgesprächs die Beachtung der gesetzlich vorgesehenen Fristen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruchs unmöglich werden könnte (§ 7 Abs. 3 SchKG). Daraus wird in den einschlägigen Gesetzeskommentaren allgemein geschlossen, dass die Schwangere zu der lediglich erwarteten Mitteilung ihrer Gründe nicht verpflichtet ist und die Beratungsstelle ihr letztlich den Beratungsschein erteilen muss, auch wenn sie sich in der Beratung nicht gesprächs- und mitwirkungsbereit gezeigt hat. Diese Gesetzesauslegung hat der 1. Senat des BVerfG in einem Urteil von 1998 wie folgt bestätigt: „Die Schwangere soll wissen, dass sie die Beratungsbescheinigung nach § 7 SchKG erhalten kann, obwohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat.“

Zu mehr als der Entgegennahme des Beratungsangebots einer anerkannten Beratungsstelle, die ihr gleichwohl als Beratung bescheinigt werden muss, verpflichtet das Gesetz die Schwangere also nicht. Deshalb trifft es genau besehen nicht zu, dass bei uns in Deutschland heute eine Fristenregelung „mit Beratungspflicht“ gilt. In Wahrheit handelt es sich um eine solche mit Beratungsangebot und Bescheinigungspflicht.

Nun könnte man einwenden, dass dieser Unterschied ohne praktische Bedeutung sei. In der Beratungspraxis seien die Frauen immer mitwirkungsbereit. Es wäre jedoch allzu gutgläubig anzunehmen, dass Beratungsträger, die in ihren Verlautbarungen von „Zwangsberatung“ sprechen, sich die Chance entgehen lassen, eine solche ganz legal zu vermeiden.

Wer beispielsweise auf der Homepage von „Pro Familia“ liest, wie dort über die Schwangerschaftskonfliktberatung informiert wird, kann sich leicht ausmalen, wie die Beratung bei dieser Organisation wohl praktiziert wird. „Wenn Sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen“, heißt es dort, „sind Sie verpflichtet, sich in einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle beraten zu lassen. Das Beratungsgespräch ist ein Angebot, über die Gründe zu sprechen, die Sie zum Abbruch der Schwangerschaft bewegen. … Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz geregelt. Hier ist formuliert, dass die Beratung Sie zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen soll. Sie brauchen deshalb jedoch nicht befürchten, dass Sie sich in der Beratung in irgendeiner Weise rechtfertigen müssen oder bedrängt werden, Ihre Gründe zu nennen oder Ihre bereits getroffene Entscheidung zu ändern. Die Beratung ist ein Hilfsangebot. Die Entscheidung, ob Sie die Schwangerschaft abbrechen lassen oder fortführen, liegt allein bei Ihnen. Diese höchstpersönliche Entscheidung kann und darf niemand für Sie treffen. … Nach der Beratung erhalten Sie eine Beratungsbescheinigung. Diese muss Ihnen nach Abschluss der Beratung mit Ihrem Namen und dem Datum ausgestellt werden. Am vierten Tag nach Ausstellung der Beratungsbescheinigung können Sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen. ..“

Wer das liest, gewinnt wohl kaum den Eindruck, dass diese Organisation mit dem irreführenden Namen ernsthaft bemüht ist, Frauen im Schwangerschaftskonflikt mit dem Ziel zu beraten, sie für das Austragen ihrer Schwangerschaft zu gewinnen. Vielmehr geht es offenbar darum, Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, den Weg dorthin möglichst leicht zu machen.

Auch evangelische Beratungsstellen tun sich offenbar nicht schwer damit, Beratungen zu bescheinigen, die mangels Mitteilungsbereitschaft der Schwangeren gar nicht stattfinden konnten. Nach einer Broschüre der Evangelischen Kirche im Rheinland „Mit der Frau, nicht gegen sie – Schwangerschaftskonfliktberatung aus evangelischer Sicht“ jedenfalls umfasst das Evangelische Beratungsangebot die „Ausstellung einer Beratungsbescheinigung, auch in Fällen, in denen die Frau ihre Beweggründe nicht ausspricht“.

Wie steht es ferner mit dem Wahrheitsgehalt der oft zu hörenden Behauptung, eine Abtreibung nach bescheinigter Beratung sei zwar straffrei, bleibe aber rechtswidrig?

Nach dem zweiten Abtreibungsurteil des BVerfG trifft dies grundsätzlich zu. In diesem Urteil wird nämlich aus dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes überzeugend das Gebot abgeleitet, den Schwangerschaftsabbruch „grundsätzlich als Unrecht zu behandeln.“ Ausdrücklich ist von einem „verfassungsrechtliche(n) Verbot des Schwangerschaftsabbruchs“ die Rede. Dieses Verbot müsse im Gesetz bestätigt und verdeutlicht werden.

Nach einer solchen Bestätigung und Verdeutlichung sucht man in den geltenden Gesetzen vergebens. In § 218a Absatz 1 StGB heißt es, der Straftatbestand des § 218 sei unter den genannten Voraussetzungen der Beratungsregelung „nicht verwirklicht“. Für die Tötung eines Ungeborenen gemäß dieser Regelung gilt ein strafrechtliches Verbot also nicht. Allerdings ergibt sich dieses Verbot schon aus dem grundrechtlich garantierten Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Ebenso überzeugend wie diese Erkenntnis hat das BVerfG in seinem Urteil von 1993 gleich mehrfach betont, die Schutztauglichkeit eines „Beratungskonzepts“ hänge davon ab, dass es gelingt, das Rechtsbewusstsein zu erhalten und zu stärken, also das Bewusstsein, dass das ungeborene Kind ein Recht auf Leben hat und seine Tötung deshalb auch nach bescheinigter Beratung verboten, also rechtswidrig ist.

So weit, so gut. Die an sich zwingenden Folgen dieser richtigen Erkenntnis haben die Verfassungsrichter jedoch unbegreiflicherweise gescheut. Sie haben nämlich festgestellt, dass ein Schwangerschaftsabbruch nach bescheinigter Beratung zwar rechtswidrig sei. Daraus bräuchten jedoch die rechtlichen Konsequenzen nicht gezogen zu werden, soweit dies zur Verwirklichung des gewählten Schutzkonzepts erforderlich sei, d. h. aus Gründen der Akzeptanz des Beratungskonzepts. Mit dieser Argumentation hat bereits das BVerfG selbst den Schwangerschaftsabbruch nach bescheinigter Beratung praktisch in jeder relevanten Hinsicht so behandelt, als wäre er rechtmäßig, bis hin zu seinem Angebot in einem Netz ambulanter und stationärer Einrichtungen als „Staatsaufgabe“. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer öffentlichen Finanzierung des tötenden Eingriffs sind zudem so geregelt, dass seine Kosten nahezu ausnahmslos auf Kosten der Länderhaushalte übernommen werden. Das Unrecht einer vorgeburtlichen Tötung hat also praktisch keinerlei Folgen und schwindet deshalb zwangsläufig aus dem allgemeinen Bewusstsein.

Aus der eklatanten Widersprüchlichkeit des sogenannten Beratungskonzepts haben namhafte Rechtswissenschaftler gefolgert, dass das Ungeborene gar kein Lebensrecht habe (Norbert Hoerster), aus dem Recht exkludiert sei (Günther Jakobs), durch die Entscheidung des BVerfG jedenfalls aus dem Bereich der Grundrechte (Reinhard Merkel). Diese Auffassungen können zwar im Ergebnis nicht überzeugen. Es lässt sich jedoch ernsthaft nicht bestreiten, dass die gesetzlichen Regelungen insgesamt das Bewusstsein vermitteln, der „beratene“ Schwangerschaftsabbruch sei erlaubt,

d. h. nicht rechtswidrig. In der Rechtswissenschaft ist immer häufiger von einer „prozeduralen Rechtfertigung“ die Rede. Aus der detaillierten gesetzlichen Regelung und aus der Mitwirkung staatlicher und kirchlicher (!) Stellen im Rahmen des obligatorischen Beratungsgesprächs hat das LG Heilbronn in einem Urteil geschlossen, dass der Schwangerschaftsabbruch „nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums wenn auch nicht erwünscht, so doch rechtmäßig“ sei.

Wie auch Ergebnisse von Meinungsumfragen belegen, ist es nicht gelungen, den Menschen das Bewusstsein zu vermitteln, nach dem bei uns in Deutschland geltenden Recht sei eine Abtreibung nach dem gesetzlich vorgesehenen Beratungsverfahren zwar straffrei, aber rechtswidrig. Damit jedoch ist offenkundig, dass die allererste vom BVerfG genannte Grundbedingung für den erhofften Schutzeffekt einer Beratungsregelung unerfüllt bleibt.

Im Urteil des BVerfG von 1993 heißt es allerdings, die schwangere Frau müsse wissen, dass das Ungeborene insbesondere auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben habe, und es müsse ihr bewusst sein, dass nur in Ausnahmesituationen nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch in Betracht gezogen werden dürfe, nämlich nur, wenn der Frau eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. „Dessen muss sich die beratende Person vergewissern und etwa vorhandene Fehlvorstellungen in für die Ratsuchende verständlicher Weise korrigieren.“ Was der Frau danach „bewusst sein“ muss, hat der Gesetzgeber in § 219 Abs. 1 S. 2 StGB dargelegt, ohne den Beratenden jedoch eine Pflicht zur Thematisierung, Vergewisserung und erforderlichenfalls zur Korrektur aufzuerlegen. Diese Peinlichkeit wollte man den Beratungsstellen offenbar ersparen. Den beratenden Personen wird das dekretierte Bewusstsein selbst wohl nicht selten fehlen. Wenn sie das heikle Thema ansprächen, könnte ihnen eine Frau antworten: „Wie können Sie von einem Lebensrecht des Ungeborenen mir gegenüber sprechen, wenn Sie mir gleich den Beratungsschein aushändigen, mit dem ich abtreiben kann? Und wenn ein Schwangerschaftsabbruch nach der Rechtsordnung unter den genannten Voraussetzungen in Betracht kommen kann, wie können Sie dann sagen, er sei rechtswidrig?“ Weiter könnte sie fragen, was denn mit „Lebensrecht“ eigentlich gemeint sei, wenn es ihrer „Letztentscheidung“ überlassen werde, ob sie ihre Schwangerschaft austrage oder aus Gründen der Unzumutbarkeit auch nicht. Was in § 219 Abs. 1 S. 2 StGB als bewusst vorausgesetzt wird, ist also eher geeignet, das Rechtsbewusstsein für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und das Unrecht seiner Tötung zu zerstören als zu stärken.

Einem zutreffenden Rechtsbewusstsein ebenso abträglich ist die im Bereich der Kirchen häufig zu hörende und zu lesende Bemerkung, es gehe in der Schwangerenberatung darum, der Frau zu einer Entscheidung zu verhelfen, „mit der sie leben kann.“ Damit wird das Lebensrecht des ungeborenen Kindes auch gegenüber seiner Mutter im Grunde geleugnet. Würde es ernst genommen, könnte es nur um eine Entscheidung gehen, mit der Mutter und Kind leben können.

Vielfach ist im Zusammenhang mit der Abtreibung gerade in kirchlichen Kreises von einer „Gewissensentscheidung“ die Rede in der Erwartung, dass das so Bezeichnete nicht in Frage gestellt, sondern respektiert wird.

Das BVerfG hat jedoch festgestellt, dass „die Frau, die sich nach Beratung zum Abbruch entschließt, für die damit einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht etwa eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen“ kann. Unstrittig ist nämlich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit am Lebensrecht anderer seine Grenze findet. Verfassungsrechtlich zulässig, so das BVerfG an gleicher Stelle, könne das Gesetz nur „eine gewissenhaft zustandegekommene und in diesem Sinne achtenswerte Entscheidung“ meinen. Dementsprechend heißt es nun im Gesetz, die Beratung solle der Frau „helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen“ (§ 219 Abs. 1 S. 1, 2. HS. StGB). Wenn die vom BVerfG für geboten gehaltene Unterscheidung einen Sinn haben soll, kann es nicht angehen, sie zu ignorieren und eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung mit einer Gewissensentscheidung gleichzusetzen und ihr so den Anschein einer legitimierenden Wirkung zu geben.

Abwegig erscheint auch, die Entscheidung für die Tötung des ungeborenen Kindes stets als verantwortlich und gewissenhaft zu beurteilen, wenn die Frau zuvor nur getan hat, was das Gesetz verlangt, wozu wenig gehört. Die Gründe für eine solche Entscheidung können höchst unterschiedlich sein, sehr ernst zu nehmen, aber auch rein egoistisch. Es gibt nun einmal auch Frauen, die Abtreibung für ein legitimes Mittel der „Nachverhütung“ halten. Auch treiben viele Frauen nicht aus eigenem Antrieb ab, sondern werden von ihrem Umfeld hierzu gedrängt. Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff entnimmt einem Buch des französischen Soziologen Luc Boltanski (Soziologie der Abtreibung) den eindeutigen Beleg, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle der Druck des Vaters dazu führt, dass die Mutter entgegen ihren eigenen Gefühlen und Wünschen die Abtreibung vornehmen lässt. Frauen, die das erleben müssen, verdienen nicht Strafe, sondern Verständnis und Hilfe. Die Kapitulation vor dem Druck des Kindesvaters oder des übrigen Umfeldes als verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu qualifizieren, hieße jedoch die Bedeutung von Verantwortung und Gewissen völlig zu verkennen.

Selbstverständlich muss jede Frau, die sich dazu entschließt, ihr ungeborenes Kind töten zu lassen, und muss jeder an dieser Tötung Mitwirkende sein Tun vor dem eigenen Gewissen verantworten. Das gilt jedoch für jedes menschliche Handeln. Niemand würde den Entschluss zu einem Handeln deshalb als Gewissensentscheidung bezeichnen, wenn der Handelnde es mit seinem Gewissen glaubt vereinbaren zu können.

Ebenso selbstverständlich erscheint, dass faktisch die schwangere Frau letztlich darüber entscheidet, ob sie ihr ungeborenes Kind austragen oder töten lassen möchte. Insofern liegt dies in ihrer „Letztentscheidung“. Wenn jedoch bereits das BVerfG meint, einer beratenen Schwangeren könne eine solche „Letztentscheidung“ überlassen bleiben, kann das leicht im Sinne der Anerkennung eines Rechts verstanden werden. Zwar hat das BVerfG im Urteil von 1993 ausdrücklich festgestellt, es sei nicht möglich, der schwangeren Frau ein „Recht zum Schwangerschaftsabbruch“ einzuräumen, weil es sich dabei immer um Tötung ungeborenen Lebens handele. Inzwischen wird jedoch immer lauter und unverfrorener ein „Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit“ der Frauen oder noch deutlicher ein „Menschenrecht auf Abtreibung“ propagiert, das es im Einklang mit dem Lebensrecht ungeborener Kinder jedoch nicht geben kann. Zuletzt wurde in einer mit deutlicher Mehrheit angenommenen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 als Konsequenz der „sexuellen und reproduktiven Rechte“ der Frauen der ungehinderte Zugang zu Verhütung und Abtreibung sowie der kostenfreie Zugang zu Abtreibungsberatungen gefordert. Solche Forderungen finden inzwischen selbst in den Kirchen kaum noch deutlich vernehmbaren Widerspruch.

Wie bereits ausgeführt, vermag das gesetzliche „Beratungskonzept“ das Leben ungeborener Kinder nicht ausreichend zu schützen, weil es nicht das Bewusstsein vermittelt, dass auch eine nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren erfolgende Tötung des Ungeborenen Unrecht ist. Das schließt allerdings nicht aus, dass eine Beratung, wenn sich die Frau auf sie einlässt, geeignet sein kann, das Leben des Kindes zu retten. Da es der Schwangeren frei gestellt bleibt, ihr Kind aus beliebigen Gründen töten zu lassen, kann von einem Schutz jedes einzelnen Kindes jedoch keine Rede sein. Allenfalls per saldo kann also das Konzept des Gesetzgebers zu weniger Abtreibungen führen und dem Schutz des ungeborenen Lebens „dienen“, wie im Gesetz behauptet wird (§ 219 Absatz 1 Satz 1 StGB).

Ob das Ziel, die Gesamtzahl der Abtreibungen zu senken, tatsächlich erreicht wird, erscheint zweifelhaft und statistisch jedenfalls kaum belegbar. Unterstellt man, dass die höchstwahrscheinlich viel zu geringen Zahlen des Statistischen Bundesamts über die jährlich in Deutschland durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche der Realität entsprechen, lässt sich anhand dieser Zahlen sowie der bekannten Zahlen bescheinigter Schwangerschaftskonfliktberatungen eine Misserfolgsquote dieser Beratungen von gut zwei Dritteln errechnen. In höchstens einem von drei Fällen entscheidet sich also die schwangere Frau, ihr Kind zur Welt zu bringen, wobei ungewiss bleibt, ob hierfür die Beratung ausschlaggebend ist. Aber einmal unterstellt, die Frauen würden ihre Kinder nur dank der Beratung austragen, bleibt die Frage, zu welchem Preis dies möglich ist. Können die Beratenden die Augen davor verschließen, dass mindestens zwei von drei Frauen sich nach der Beratung, falls eine solche überhaupt stattgefunden hat, mit Hilfe des ihnen ausgehändigten Beratungsscheins ihr Kind töten lassen?

Um die Beratungschance nutzen zu können, lassen sich die Beratungsträger von einem gesetzlichen Konzept in Dienst nehmen, das ein höchst diffuses Rechtsbewusstsein vermittelt. Wie viele Frauen werden in dem Bewusstsein abtreiben lassen, nach der gesetzlich vorgeschriebenen Prozedur hätten sie getan, was die Rechtsordnung von ihnen verlangt und nun seien sie im Recht, insbesondere wenn sie bei einer kirchlichen Beratungsstelle waren, die es mit dem Lebensschutz vermeintlich genauer nimmt als andere? Können sich Beratende guten Gewissens auf den Standpunkt stellen, dieser fatale Eindruck, den das Konzept des Gesetzgebers vermittelt, brauche sie nicht zu interessieren? Es leuchtet ein, wenn das BVerfG davon ausgegangen ist, dass ein effektiver Lebensschutz Ungeborener ein waches und zutreffendes Rechtsbewusstsein voraussetzt. Da dies so ist, müssen die an einem so genannten Schutzkonzept Mitwirkenden gewissenhaft prüfen, ob diese Voraussetzung überhaupt erfüllt ist, andernfalls ihre Mitwirkung nicht verantwortet werden kann.

Eine weitere Frage, welcher die Beratenden nicht ausweichen können, ist die nach der Verantwortbarkeit der Erteilung des Beratungsscheins. Viele tun sich damit leicht, indem sie behaupten, der Beratungsschein besage nur, dass ein Beratungsgespräch stattgefunden hat, und zwar ein Beratungsgespräch zugunsten des Lebensrechts des Kindes. Das jedoch trifft, wie bereits ausgeführt, schon deshalb nicht zu, weil der Schein auch dann erteilt werden muss, wenn ein solches Gespräch mangels Bereit-schaft der Schwangeren gar nicht stattfinden konnte. Ob ja oder nein, lässt sich dem Schein also nicht entnehmen, ebenso nicht, ob ein stattgefundenes Gespräch den Lebensschutz des Kindes zum Ziel hatte. Wäre die behauptete Funktion des Beratungsscheins die einzige, würde sich im Übrigen für seinen Inhalt niemand interessieren, wäre er also für nichts zu gebrauchen. Die tatsächlich allein relevante Funktion des Scheins ist die, einem Arzt, den die Schwangere zu diesem Zweck aufsucht, zu signalisieren, dass er ohne strafrechtliches Risiko dem Wunsch nach Abbruch der Schwangerschaft nachkommen kann, wozu er ohne Vorlage des Scheins in aller Regel nicht bereit wäre. Aufgrund dieser Funktion des Beratungsscheins ist in seiner Erteilung, wie namhafte Rechtswissenschaftler dargelegt haben, eine Beihilfe zur Tötung des ungeborenen Kindes zu sehen.

Selbstverständlich ist allerdings, dass es sich nicht um eine strafbare, also strafrechtlich relevante Beihilfe handeln kann, weil die Haupttat, der Tötungsakt, nicht strafbar ist. Wenn jedoch die „beratene“ Tötung des ungeborenen Kindes Unrecht ist, dann kann nicht zweifelhaft sein, dass die Aushändigung des Beratungsscheins, von dem die ausstellende Person weiß, dass er geeignet und dazu bestimmt ist, die rechtswidrige Tötung zu ermöglichen, nach den Kriterien des weltlichen Rechts ein Akt der Beihilfe ist. Günther Jakobs pflichtet dem wie folgt bei:

„Was …die Bescheinigung angeht, so ist sie für nichts zu gebrauchen als für die Ermöglichung des Schwangerschaftsabbruchs. … Der Sinn der Erteilung der Bescheinigung erschöpft sich in der Förderung des Abbruchs, und deshalb ist nach allgemeinen Regeln der strafrechtlichen Zurechnung, wie Studierende sie im ersten Semester lernen, die Erteilung der Bescheinigung Beihilfe zu einem nach dem Maßstab des BVerfG rechtswidrigen – wenn auch straffreien -Abbruch.“

Reinhard Merkel stimmt dem mit folgenden Ausführungen zu:

„Auch die Erteilung des Beratungsscheins als der erforderlichen condicio sine qua non eines beratenen Schwangerschaftsabbruchs ist – wie die ‚Staatsaufgabe‘ der Bereitstellung eines ‚flächendeckenden‘ Angebots von Abbruchsmöglichkeiten (…) – ein Akt der staatlichen Beteiligung an dem angeblich rechtswidrigen Abbruch nach § 218a I … Wäre dieser Unrecht, so wäre es freilich auch die Beihilfe dazu….“ Daher sei „die Einstellung der Schwangerschaftskonfliktberatung (mitsamt der obligatorischen Scheinerteilung) durch die katholischen Bistümer seit Januar 2001 in der Sache konsequent und steht im Einklang sowohl mit moralischen, als auch mit strafrechtlichen Prinzipien der Zurechnung.“

Walter Gropp ist demgegenüber der Ansicht, solange bei Übergabe der Bescheinigung noch Hoffnung bestehe, dass sich die Frau für das Leben des Kindes entscheiden wird, liege eine Risikoverringerung vor, welche eine Hilfeleistung (Beihilfe) ausschließe. Dem haben Reinhard Merkel und Herbert Tröndle zu Recht widersprochen.

Für die Zurechnung einer Hilfeleistung als Beihilfe, so Herbert Tröndle, genüge es, dass die Beraterin mit der konkreten Möglichkeit der Haupttatförderung durch eigenes Handeln rechnet. Außerdem verringere die Aushändigung des Scheins nicht das Risiko einer Abtreibung. Vielmehr erhöhe sie in jedem Fall die Gefahr für das betroffene Kind.

Die nach rechtlichen Kriterien zwingende Qualifizierung der Scheinerteilung als Beihilfe wird gerade in kirchlichen Kreisen vielfach entrüstet zurückgewiesen. Die Beratenden seien doch gesetzlich verpflichtet, für das Leben des Kindes einzutreten.

Das sei das genaue Gegenteil von einer Mitwirkung an seiner Tötung. Das Eintreten für das Leben des Kindes ändert jedoch nichts daran, dass die Person, die den Beratungsschein aushändigt, um dessen Zweckbestimmung weiß und auch mit der konkreten Möglichkeit rechnet, dass der Schein zweckentsprechend zur Tötung verwendet wird.

Von einem gravierenden Mangel an Rechtskenntnis zeugt auch der häufig zu hörende Einwand, ob es nach der bescheinigten Beratung zur Abtreibung komme, entscheide doch allein die Schwangere und nicht die Person, die den Beratungsschein aushändige. Das ist jedoch bei jeder Haupttat so, zu der jemand Beihilfe leistet. An der Mitverantwortung des Beihilfe Leistenden ändert das selbstverständlich nichts.

Um es an einem anderen Beispiel nochmals zu verdeutlichen: Jemand weiß von dem Plan einer anderen Person, einen Tresor auszurauben. Er besitzt den Schlüssel zu diesem Tresor und möchte die Chance nutzen, diese andere Person von ihrem Plan abzubringen, indem er ihr die Aushändigung des Schlüssels unter der Bedingung in Aussicht stellt, dass sie sich zu einem vorherigen Gespräch bereitfindet. Gelingt es dem Besitzer des Schlüssels nicht, den potenziellen Dieb in diesem Gespräch von seinem Plan abzubringen, und raubt dieser später unter Verwendung des ihm ausgehändigten Schlüssels den Tresor aus, ist derjenige, der ihm den Schlüssel gegeben hat, hierfür zweifellos als Gehilfe mitverantwortlich. Auch einem juristischen Laien leuchtet das ohne Weiteres ein, weil derjenige, welcher den Schlüssel aushändigt, selbstverständlich mit seiner zweckentsprechenden Verwendung rechnet und er sich von seiner Mitverantwortlichkeit für den Diebstahl nicht mit dem Argument entlasten kann, er habe den Diebstahl, der auf der alleinigen Entscheidung des Diebes beruhe, doch gerade verhindern wollen.

Eine Schlüsselfunktion für die Abtreibung hat auch der Beratungsschein, wie Papst Johannes Paul II. in einem seiner Briefe an die katholischen Bischöfe in Deutschland vor dem Umstieg der katholischen Beratungsstellen auf eine Beratung ohne Schein treffend festgestellt hat.

In einer besonders fatalen Rolle befinden sich die Beratenden in den bereits erwähnten Fällen, in denen die Kindesmutter vom Vater oder dem sonstigen Umfeld bis hin zur strafbaren Nötigung zur Abtreibung gedrängt wird. In solchen Fällen sind die Beratenden gezwungen, nicht nur Beihilfe zur Tötung des Kindes, sondern auch zur (womöglich strafbaren) Fremdbestimmung der Schwangeren zu leisten, wobei sie auch bezüglich dieser Fremdbestimmung zum Schweigen verpflichtet sind. Das ist eine schier unerträgliche Situation und eine ungeheuerliche Zumutung als Folge eines Systems, das als „Schutzkonzept“ für das ungeborene Leben bezeichnet wird.

Erinnern wir uns noch einmal an das, was das BVerfG bereits im ersten Abtreibungsurteil von 1975 festgestellt hat, dass jedes menschliche Leben gleichwertig ist, keiner zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden darf und das einzelne Leben zur Rettung einer vermeintlich größeren Zahl von Menschenleben nicht geopfert werden darf. Wenn man das im Auge behält, versteht es sich von selbst, dass es nicht zu verantworten ist, zur Tötung eines einzelnen ungeborenen Kindes Beihilfe zu leisten in der Hoffnung, durch die bescheinigte Beratung per Saldo mehr Leben retten zu können.

Es ist deshalb zwingend notwendig gewesen, dass sich die katholischen Bischöfe in Deutschland auf Weisung des Papstes vor zehn Jahren dazu durchgerungen haben, in ihren Beratungsstellen keine Beratungsscheine mehr ausstellen zu lassen, was jedoch keineswegs bedeutet, dass sie aus der Schwangerenberatung „ausgestiegen“ sind. Ebenso begrüßenswert ist, dass der Gemeindehilfsbund sich dazu entschlossen hat, mit einer Unterschriftenaktion den Versuch zu unternehmen, die EKD dazu zu bewegen, dem Beispiel der katholischen Bischöfe zu folgen.

Wegen ihres angeblichen „Ausstiegs“ aus der Schwangerenberatung haben die katholischen Bischöfe den Vorwurf geerntet, sie ließen „die Frauen allein“, die nun von den kirchlichen Beratungsstellen nicht mehr zu erreichen seien. Dieser Vorwurf ist jedoch unbegründet. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, die Kirchen ließen hilfsbedürftige Menschen im Stich, weil es ihnen freistehe, das breite kirchliche Angebot an Beratungen und Hilfen der verschiedensten Art anzunehmen oder abzulehnen. Die Kirchen haben es nicht nötig, sich beratungsbedürftige Menschen mit dem Mittel des gesetzlichen Zwangs zutreiben zu lassen. Sie dürfen vielmehr auf die Attraktivität ihres Angebots vertrauen. Schon gar nicht darf ihnen angesonnen werden, zur Tötung ungeborener Kinder Beihilfe zu leisten.

Was die Kirchen neben dem Angebot an Beratung und Hilfe leisten müssen, ist der Beitrag zur Schärfung der Gewissen, von der Papst Johannes Paul II. gesprochen hat. Der Lebensschutz ungeborener Kinder ist – wie das BVerfG zu Recht festgestellt hat – vor allem eine Frage des Bewusstseins. Wer wäre berufener zur Bewusstseinsbildung beizutragen als die Kirchen? Wer sonst sollte den Menschen unserer heutigen Gesellschaft die Überzeugung vermitteln, dass das Leben jedes einzelnen Menschen, auch des noch ungeborenen, schutzbedürftig ist und sich Bemühungen um den Lebensschutz nicht darauf beschränken dürfen, das Quantum der vor ihrer Geburt getöteten Kinder zu minimieren?

„Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat, … den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.“ So lautet der Leitsatz 10 des zweiten Abtreibungsurteils des BVerfG von 1993. In den Gründen dieses Urteils heißt es hierzu weiter, die Organe des Staates in Bund und Ländern müssten deshalb „erkennbar für den Schutz des Lebens eintreten.“ Dies betreffe auch und gerade die Lehrpläne der Schulen.

Wenn man staatliche Organe danach befragt, in welcher Weise sie dieser Verpflichtung nachgekommen sind, wird einem erklärt, was man alles zur Verhütung ungewollter Schwangerschaften tue. In einem Land mit einer besorgniserregenden demographischen Entwicklung denken die in den staatlichen Organen Verantwortlichen beim Schutz des Lebens offenbar nur an Verhütung. Sonst fällt ihnen hierzu anscheinend nichts ein. Oder haben Sie es schon einmal erlebt, dass ein staatliches Organ erkennbar für den Lebensschutz ungeborener Kinder eingetreten ist? In dieser Hinsicht geschieht praktisch nichts und offenbar findet niemand etwas dabei, von den Lebensrechtlern und einzelnen Stimmen aus den Kirchen abgesehen.

Es lässt sich nicht bezweifeln: Hinsichtlich der Bewusstseinsbildung für den Schutz des ungeborenen Lebens herrscht Fehlanzeige. Glaubt man ernsthaft, das insoweit Versäumte in der Kürze einer Konfliktberatung nachholen zu können? Eine solche Beratung steht auf verlorenem Posten, wenn sie in der Vermittlung von Bewusstsein praktisch bei Null anfangen muss, falls man sich um eine solche Bewusstseinsvermittlung überhaupt bemüht, was bei manchen Beratungsträgern mehr als fraglich ist, nicht nur bei „Pro familia“.

Abschließend lässt sich nur feststellen, dass der Staat seiner Verantwortung für den Schutz des menschlichen Lebens – jedenfalls was das Leben Ungeborener betrifft – nicht annähernd gerecht wird. Die Kirchen und die Christen in ihnen sollten das nicht zu bestreitende Schutzdefizit deutlich machen, die notwendigen Korrekturen beharrlich anmahnen und sich nicht dafür hergeben, das schutzuntaugliche Konzept des Gesetzgebers durch ihre Mitwirkung zu stabilisieren.

Bernward Büchner, Vorsitzender Richter am VG a. D., Vortrag bei der Konferenz des Gemeindehilfsbundes „Verfügungsmasse Mensch? – Lebensanfang und Lebensende im Licht der christlichen Ethik“ am 6.3.2010 in Bad Teinach-Zavelstein.