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„Fromme Wünsche“ – Die Reformvorschläge der Pia Desideria

„Fromme Wünsche“ – Die Reformvorschläge der Pia Desideria

»Ins Wasser fällt ein Stein,
ganz heimlich, still und leise,
und ist er noch so klein,
er zieht doch weite Kreise.«

So beginnt ein bekanntes Lied von Manfred Siebald. Und so könnte man auch die Geschichte von Speners wichtigstem Werk, die »Pia Desideria«, zu deutsch: »Fromme Wünsche« nachzeichnen. Ursprünglich war es noch nicht mal als eigene Schrift gedacht, sondern sollte lediglich eine kurze Vorrede zu einer Neuausgabe einer Predigtsammlung Johann Arndts sein. Keiner, am allerwenigsten Spener selbst, konnte ahnen, was für weite Kreise dies kleine Steinchen ziehen würde. Doch die Resonanz war groß. Bald schon mußten die »Pia Desideria – oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirche« separat gedruckt werden. Auf jeder Seite spürt man, daß hier jemand am Werke war, der nicht aus besserwisserischer Nörgelei schreibt, sondern getrieben ist von einer tiefen Liebe zu seinem Volk und seiner Kirche, an der und mit der er leidet. Nein, er möchte keinen Meckerklub der Resignierten gründen, auch nicht revolutionäre Visionen und Utopien einer makellosen Super-Kirche vor Augen malen, sondern kleine, realistische Schritte zur Erneuerung der Kirche anbieten, von denen er hofft, daß der eine oder andere sie gehen wird.

Pastor Hans Bruns schreibt in seiner Spener-Biographie aus dem Jahre 1937 zu den Pia Desideria: »Fast alles, was Spener schreibt, könnte und müßte er auch heute noch schreiben, fast alle Vorschläge sind auch heute noch wahrhaft zeitgemäß und notwendig.« Heute – noch einmal über 60 Jahre später – kann man genau dasselbe sagen. Ich möchte mich hier beschränken, einige für unsere Zeit wichtige Kerngedanken dieser Schrift, vor allem die konkreten Reformvorschläge, wiederzugeben. 32 Aufbruch zur Erneuerung Das Werk besteht aus drei Teilen: Zunächst eine Diagnose des notvollen Zustands der Kirche, dann die Hoffnung auf bessere Zeiten und schließlich sechs konkrete Vorschläge zur Erneuerung der Kirche.

Die Not in der Kirche
Bei der Analyse des miserablen Zustands der Kirche trifft Spener die wichtige Unterscheidung zwischen Lehre und Leben. Beides ist getrennt zu beurteilen! Eine Erkenntnis, die heute bei übereilter und allzu pauschaler Kirchenkritik häufig übersehen wird. Spener stellt sich voll und ganz auf den Boden der lutherischen Lehre, wie sie in den Bekenntnisschriften zum Ausdruck kommt. Solange die biblisch-reformatorischen Bekenntnisse in Geltung stehen, kann in der lutherischen Kirche die wahre Kirche Jesu Christi sichtbar werden. Das Leben der Kirche allerdings zeigt einen erbärmlichen Zustand. Hierfür gibt es keine Sündenböcke, sondern alle drei Stände der Gesellschaft tragen hier Schuld.

a. Die Obrigkeit. Weil sie die Kirche nur für ihre Zwecke instrumentalisiert, sich aber kein bißchen um die Einhaltung der Gebote Gottes schert.

b. Der geistliche Stand. Weil es unter den Pfarrern und Kirchenleuten nur wenige gibt, die selber überhaupt wiedergeboren sind. Schon vor Spener wurde der Vorwurf laut, daß es viele Prediger gar nicht ernst meinten mit ihrem Beruf. So hieß es gelegentlich: »Die meisten Pfarrer lieben kurze Predigten und lange Bratwürste!« Spener konkretisiert: »Das Leben vieler Prediger und der Mangel an Glaubensfrüchten zeigen an, daß es ihnen selbst am Glauben mangelt.« Er zitiert ein wichtiges Wort Luthers: »Hütet euch! Satan hat es im Sinn, daß er euch mit Unnötigem aufhalte und das Nötige damit hindere.« Die Prediger sollten sich nicht mit unnützen theologischen Diskussionen abgeben, sondern vielmehr nach 1. Kor. 11,1 Vorbilder ihrer Gemeinde sein.

c. Die Gemeinden. Weil sich jeder »Christ« nennt und mit seiner Taufe begnügt, aber kaum einer wirklich als Christ lebt. Spener erinnert an das weit verbreitete Übel der Trunkenheit, an überflüssige Rechtsprozesse, an das gierige Streben nach materiellem Wohlstand und an das »Unterdrücken und Aussaugen« der Armen. An anderer Stelle nennt er auch sexuelle Vergehen und große Mißstände in den Ehen. Das schlimmste aber ist, das dies alles gar nicht mehr als Sünde erkannt wird. Sünde wird nicht mehr beim Namen genannt!

Spener bedenkt bei den kirchlichen Mißständen auch noch eine traurige Nebenwirkung: Welch ein schäbiges Zeugnis bietet eine so verdorbene Kirche doch für die Nichtchristen, vor allem für die Juden, die man ja eigentlich durch ein einladendes Leben und zeugnishaftes Christsein für Jesus zu gewinnen suchen sollte! Und auch für die Katholiken sei eine solch verkommene Kirche der Reformation abstoßend und nur noch Anlaß zum Spott.

Hoffnung auf bessere Zeiten
Aus den biblischen Verheißungen leitet Spener ab, daß es für die Kirche Jesu bessere Zeiten geben wird. Er stützt sich dabei auf Römer 11,25f, wo die Bekehrung der Juden verheißen ist. Dieses großartige, wunderbare Werk Gottes wird nicht ohne Folgen für die heidenchristliche Kirche bleiben, so daß für jene Zeit zu hoffen ist, »daß mit heiligem Eifer, gleichsam um die Wette, die gesamte aus Juden und Heiden versammelte Kirche Gott in einem einzigen Glauben und dessen reichen Früchten dienen und sich aneinander erbauen wird« (vgl. Röm. 11,15).

Wenn Spener schon jetzt Anstrengungen zur Besserung der Kirche unternimmt, dann bezieht er Kraft und Mut dazu nicht allein aus der Zukunftsperspektive, sondern ebensosehr aus jenem »Blick zurück«, zu dem wir uns eingangs ermuntert haben. Wer Speners Vorstellungen von einer gesunden Kirche für utopisch hält, den bittet er, nur mal einen Blick zurück in die Urgemeinde und in die frühe Christenheit der ersten Jahrhunderte zu riskieren. Dort sei zwar auch keine heile Welt gewesen, aber im Unterschied zu heute habe man die Christen im allgemeinen »an ihrem gottseligen Leben erkannt und von andern Leuten unterscheiden können.« Und wenigstens dies sei doch wirklich anzustreben.

An die Adresse besonders frommer und noch frömmerer Grüppchen gerichtet, die meinen, daß sie vielleicht in einer freien und noch freieren Gemeinde die absolut reine Kirche verwirklichen könnten, stellt er nüchtern fest, daß die Erde nicht der Himmel ist: Die angestrebte Vollkommenheit der sichtbaren Kirche kann niemals so weit gehen, »daß kein einziger Heuchler mehr in ihr sei«, denn: »Der Weizenacker wird niemals so rein angetroffen, daß sich nicht ein einziges Unkraut mehr auf demselben finde.« Doch liberale Kirchenleitungen und Pfarrer, die das Unkraut-im-Weizen-Gleichnis gelegentlich als Gegenargument gegen jegliche Kirchenkritik verwenden, kann man getrost darauf verweisen, daß Spener fortfährt: Immerhin könnte man es mit Hilfe von seelsorgerlicher Aufmerksamkeit und Kirchenzucht dahin bringen, daß Leute, die in offensichtlicher Sünde leben, ermahnt und – im äußersten Notfall – auch ausgeschlossen werden. »Damit das Unkraut wenigstens nicht mehr den Weizen ganz zudeckt und verschwinden läßt, wie es leider jetzt oft geschieht, sondern daß umgekehrt das Unkraut vom Weizen bedeckt wird und es nicht mehr so sehr ins Auge fällt.«

Wie es besser werden kann
Nörgeln und meckern kann jeder. Auch heute. Mit scharfem Blick die entscheidenden Defizite erkennen und kritisieren ist schon schwieriger. Aber erst, wenn man die wunden Punkte nicht nur erkennt und benennt, sondern auch zugleich Wege und Mittel zur Heilung aufzeigt, ist man eine echte Hilfe. An Spener können wir das lernen. Er nennt sechs Heilmittel, mit denen die Kirche – wenn auch nicht gleich als ganze und sofort, aber doch hier und da, und Schritt für Schritt – genesen könnte. Auch heute.

»Daß das Wort Gottes reichlicher unter uns wohne!«
An die allererste Stelle setzt Spener die Bibel. »Daß man darauf bedacht wäre, das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen.« Spener bedauerte es zutiefst, daß man dem Wort Gottes nur noch sonntags im Gottesdienst begegnete. Vielmehr müsse das Wort Gottes den Alltag jedes Christen bestimmen. Dabei betont Spener, wie wichtig es ist, daß die ganze Heilige Schrift gelesen wird, nicht nur die wenigen Abschnitte der sonntäglichen Perikopenordnung. Nur so würde der volle Schatz des Gotteswortes entdeckt werden, wie es 2. Timotheus 3,16 verheißt: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.« Damit deckt Spener das Kernproblem kirchlicher Mißstände auf. Er trifft einen höchst empfindlichen Nerv – auch unserer heutigen Zeit: die Stellung der Bibel. Während die römisch-katholische Kirche auf zwei Säulen ruht: Schrift und Tradition, haben die evangelischen Kirchen nur eine einzige Grundlage: die Bibel! Deshalb steht und fällt unsere Kirche mit der Bibel. Keiner hat das so klar gesehen wie der Reformator Luther selbst: Er sagt mehr als einmal: »Ich wollte lieber, daß alle meine Schriften untergingen und dafür nur die heilige Schrift gelesen werde!«[1] [1] 10 Und an andrer Stelle: »Zuerst sollen wir die Schriften aller Menschen beiseite legen und allein an die heilige Schrift desto mehr und desto beharrlicher unsern Schweiß setzen … Ich will, daß die Schrift allein Königin sei!« [2] [2]

Exkurs: Der Angriff auf die Bibel
Man muß es wohl als die verhängnisvollste Fehlentscheidung innerhalb der Kirche und Theologie bezeichnen, daß seit über 200 Jahren systematisch die Autorität der Heiligen Schrift untergraben wird. Seit der Aufklärung wird die kritische Vernunft des Menschen zur letzten Instanz erhoben, vor der sich alles andere, eben auch die Heilige Schrift, zu rechtfertigen hat. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804), der selber zur kaum mehr hinterfragbaren Autorität – auch in der Theologie – geworden ist, bringt es auf den Punkt: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.«[3] [3]Der menschliche Verstand spielt sich zum Richter über die Heilige Schrift auf und maßt sich an, selber entscheiden zu können, was in ihr lediglich zeitgebundenes Menschenwort und was – falls überhaupt! – gültiges Gotteswort zu sein hat.

Rudolf Bultmann hat es vielleicht gut gemeint, wenn er mit seinem Entmythologisierungsprogramm dem »modernen Menschen« den Weg zum Glauben bahnen wollte, indem er alles, was der Vernunft anstößig ist, de facto eliminiert hat (auch wenn er es lediglich »existential interpretieren« wollte): »Die Wunder des NT sind damit als Wunder erledigt … Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.«[4] [4] 13 Die stellvertretende Sühne am Kreuz und Jesu Auferstehung seien dem heutigen Menschen nicht mehr zumutbar. Doch was bleibt übrig? Der Glaube an ein bloßes, nebulöses »Daß« des irgendwie Gekommenseins Gottes in diese Welt, das aber nirgends geschichtlich konkret wird. Alles angeblich Unzumutbare und Unvernünftige will man abschälen, um zu ewigen göttlichen Wahrheiten vorzudringen. Als wollte man eine Zwiebel schälen, um einen harten Kern freizulegen. Doch was wird man am Ende in der Hand halten? Ein Nichts! Ein pures Nichts, gähnende Leere im Glauben. Und gähnende Leere in den Kirchen.

Durch den respektlosen Angriff der Vernunft auf die Bibel bringt man den Anspruch und Zuspruch des Wortes Gottes zum Schweigen. Damit wird Luthers Feststellung, daß nicht die Menschen die Heilige Schrift zu beurteilen haben, sondern umgekehrt die Heilige Schrift die Menschen zu beurteilen hat, heute auf den Kopf gestellt! Nikolaus Ludwig von Zinzendorf dichtet dagegen aus tiefer Liebe zum Wort Gottes:

»Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten,
worauf soll der Glaube ruhn?
Mir ist’s nicht um tausend Welten,
aber um dein Wort zu tun.«

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei deutlich gesagt, daß wir natürlich sorgfältiges wissenschaftliches, historisches Arbeiten an der Bibel keineswegs ablehnen dürfen (und es ist erfreulich, daß es auch hier und da an den theologischen Fakultäten, z.B. in Tübingen, noch einen ehrfurchtsvollen Umgang mit dem Wort Gottes gibt). Die Bibel ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern hat eine lange Geschichte, die es sich zu erforschen lohnt. Viele zunächst dunkel erscheinende Stellen erhellen sich, wenn man den historischen Kontext erfaßt. Schließlich ist die Bibel, obwohl sie Gottes Wort ist, zugleich Menschenwort, waren es doch ganz normale Menschen, Schafzüchter, Priester, Fischer, Könige, Ärzte, die sie, durch den Heiligen Geist getrieben, niedergeschrieben haben. Es ist das unfaßbare Geheimnis der Selbsterniedrigung Gottes, daß er, der allmächtige Gott, sich zu den Menschen herabläßt, ganz menschlich wird und ganz menschlich zu uns spricht! So wie Jesus Christus ganz wahrer Gott und zugleich ganz Mensch war, so ist auch die Bibel göttlich und menschlich zugleich, 100 % Gotteswort und 100 % Menschenwort! Das übersteigt die menschliche Vernunft! Erkannt hat dies ein Zeitgenosse und Freund Immanuel Kants, der größte Königsberger Denker Johann Georg Hamann (1730 – 1788), der mit 27 Jahren eine echte Bekehrung erlebte und zum lebendigen Glauben an Jesus Christus fand. Er schreibt über die Bibel:

»Gott – ein Schriftsteller! – Die Eingebung dieses Buches ist eine ebenso große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes wie die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes. Die Demut des Herzens ist daher die einzige Gemütsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört. … Der Gipfel der Atheisterei und die größte Zauberei des Unglaubens ist daher die Blindheit, wenn man Gott in der Offenbarung [nämlich der Bibel] nicht erkennt, und der Frevel, dieses Gnadenmittel zu verschmähen.«[5] [5]

Wir sehen, wie Spener in seinem geschenkten Weitblick mit der Bibelfrage die entscheidende Voraussetzung der Kirchenfrage ins Spiel bringt. Was schlägt er nun konkret vor, damit »das Wort Gottes reichlicher unter uns wohne«? Zum einen, daß jeder einzelne Christ sich Zeit nimmt für das persönliche Bibelstudium. Da er aber darum weiß, daß manch einer Schwierigkeiten mit dem Lesen und Verstehen hat, schlägt er Gemeindebibelstunden vor. Und zwar ganz nach dem Muster von 1. Korinther 14: Daß nicht der Herr Pfarrer seine Schäfchen eine Stunde lang mit langen Monologen quält, sondern daß auch andere, welche die Gabe und Erkenntnis dazu besitzen, das Wort ergreifen und ihre Gedanken zum Bibeltext äußern können, »die übrigen aber darüber urteilen möchten«. Alles geschehe »jedoch ohne Unordnung und Zanken.« Jeder muß seine Fragen und Zweifel vortragen können, so daß man brüderlich voneinander lernt und gemeinsam im Glauben wachsen kann.

Das allgemeine Priestertum
Spener diagnostiziert ein weiteres Übel: Das allgemeine geistliche Priestertum wird nicht mehr gelebt. Man sieht für alles Geistliche wie »die Beschäftigung mit dem göttlichen Wort, Beten, Studieren, Lehren, Vermahnen, Trösten usw. dermaßen allein den Pfarrer zuständig, daß andere sich nicht darum zu bekümmern hätten, ja wohl gar dem Pfarrer in sein Amt griffen, wenn sie damit irgendwie umgingen. Geschweige denn, daß man selbst auf den Pfarrer mit achtgeben und, wo er nachlässig ist, ihn brüderlich ermahnen, insgesamt aber in allen Dingen ihm helfend zur Seite stehen sollte.« Jeder Christ ist aber berufen, Mitarbeiter im Reich Gottes zu sein! Auch heute noch. Sei es im Betrieb, in der Schule, in der Uni oder, und darauf legt unser Glaubensvater besonderen Wert: in der Familie. Jeder Christ habe nämlich den Auftrag, »andere, insbesondere seine Hausgenossen, nach der Gnade, die ihm gegeben ist, zu lehren, zu strafen, zu ermahnen, zu bekehren, zu erbauen, an ihrem Leben Anteil zu nehmen, für alle zu beten und sich um ihre Seligkeit zu sorgen.«

»Der Glaube, der durch die Liebe tätig ist«
Dieses Zitat aus Galater 5,6 eignet sich gut als Überschrift für Speners dritten Wunsch: »Daß man den Leuten einschärfe, daß es mit dem Bescheidwissen im Christentum durchaus nicht genug sei, sondern es vielmehr in der Praxis bestehe.« Und das heißt: sowohl die brüderliche Liebe, als auch dann die Liebe zu allen Menschen ist gefragt (2. Petrus 1,7). Ein Glaube, der Hand und Fuß hat. Ein Glaube, der hingeht und anpackt, so wie wir es an Speners eigenem Leben lernen können.

Ein konkretes Beispiel nennt Spener: »Wo jemand beleidigt ist, soll er darauf achtgeben, sich nicht nur aller Rache zu enthalten, sondern sogar lieber etwas von seinem Recht nachlassen. Ja, es ist sogar nötig, sich daran zu gewöhnen, dem Feinde Gutes zu tun, um damit auch den zur Rache geneigten alten Adam in uns ein bißchen zu zähmen und vor sich selbst zu schützen und die Liebe tiefer ins Herz einzudrücken.«

Keine unnötigen theologischen Streitereien
Spener selbst war mit flammendem Herzen Lutheraner. Er liebte seine lutherische Kirche über alles. Von dieser kräftig pulsierenden lutherischen Ader in ihm hatte er sich im ersten Jahr seiner Frankfurter Zeit zu jener traurigen, später von ihm bitter bereuten Hetzpredigt gegen die Reformierten hinreißen lassen. Umso beachtenswerter sind deshalb nun seine Vorschläge für Lehrstreitigkeiten und den Umgang mit den anderen Konfessionen.

Zum einen gilt es, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und sich und die Glaubensbrüder »vor aller Verführung mit großer Sorgfalt zu bewahren«. Deshalb können Lehrstreitigkeiten und Kämpfe durchaus nötig sein, um Irrtümer zu widerlegen.

Zum anderen aber, und das wird in der Hitze des Gefechts sehr leicht vergessen, haben wir uns »auch unserer Pflicht gegenüber den Irrenden zu erinnern«. Und die besteht 1. in eifrigem Gebet für sie. Und 2. »haben wir ihnen mit gutem Beispiel voranzugehen und müssen uns aufs eifrigste davor hüten, daß wir sie ja nicht in irgendwas ärgern.« 3. Sie dürfen uns nicht gleichgültig werden. Es muß Ziel bleiben, sie zu gewinnen – aber nicht unbedingt in erster Linie für die eigene Konfession oder Meinung, sondern vielmehr für Jesus.

Jedenfalls ist Johann Arndt zuzustimmen: »Die Reinheit der Lehre und des göttlichen Wortes wird nicht allein mit Disputieren und vielen Büchern erhalten, sondern auch mit wahrer Buße und heiligem Leben.«

Die Theologen
Mit besonderer Aufmerksamkeit widmet sich Spener nun den Theologen und ihrer Ausbildung. Hier sieht er vieles im argen liegen, was ein Hauptgrund für die miserablen Zustände der Kirche sei. Er wünscht sich, daß die Universitäten »Pflanzgärten der Kirche« und »Werkstätten des Heiligen Geistes, nicht aber des Weltgeistes, ja des Ehrgeiz-Sauf-Balge-Zank-Teufels« seien. Bereits an der äußerlichen Lebensgestaltung der Studenten soll man ihre Berufung und den künftigen Beruf ablesen können. »Sie sollen dasjenige selber tun, was sie dermal einst andere lehren sollen.« Hierfür ist wiederum die Gemeinschaft und der geistliche Austausch in Theologiestudentenkreisen eine wichtige Hilfe, wie es Spener in Straßburg selber erfahren hat. Auch die Herren Professoren müßten mit gutem Beispiel vorangehen. Das lebendige eigene Beispiel erst gibt der Lehre und dem Unterricht die richtige Kraft und Würze. So heißt es vom großen Kirchenvater Basilius von Cäsarea (ca. 330 – 379): »Seine Lehre hatte die Kraft wie ein Donner, weil sein Leben hell wie ein Blitz war.«

»Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesum Christum«
Das war das Motto von Paulus (2. Korinther 4,5). Doch das heimliche Bekenntnis vieler Prediger zu Speners und zu unsern Zeiten ist wohl eher: Wir predigen nicht Jesum Christum, sondern uns selbst! Keiner soll sich zu vorschnell davon ausnehmen. Spener ruft deshalb in Erinnerung: »Der Zweck der Predigt ist, Glauben und Früchte des Glaubens bei den Zuhörern zu fördern« – sonst nichts. Das bedeutet, daß »die Kanzel nicht der Ort ist, wo man seine Kunst mit Pracht sehen läßt, sondern das Wort des Herrn einfältig, aber gewaltig predigen soll.« Deutliche Worte gegen jede Art von Selbstdarstellung und frommer Nabelschau auf den Kanzeln. Wieviele Verkündiger, gerade auch in den evangelikalen Kreisen, wollen im frommen Rampenlicht glänzen mit ihrer ausgefeilten Rhetorik und der bis ins letzte Amen durchgestylten Predigt, gespickt mit akrobatischen Wortspielen und ausgeklügelten Metaphern! Nichts gegen eine sorgfältige, fleißige Predigtvorbereitung, doch immer sollte das selbstkritische Fragen mitschwingen: Um wen geht es hier eigentlich? Wer soll groß gemacht werden? Der Verkündiger oder der Verkündigte?

Übrigens gelten all diese Überlegungen ohne Abstriche auch für jede Art von Andachten, Bibelarbeiten, Jungscharstunden, Hauskreisabende, usw. 

So wollen wir doch lieber mit Paulus bekennen: »Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesum Christum.«

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Broschüre „Aufbruch zur Erneuerung – Was wir von Philipp Jakob Spener für unsere Kirche lernen können“ von Pastor Gero Cochlovius. Die Broschüre hat 52 Seiten und kann gegen eine Spende von 2,00 € auf der Internetseite [6] oder in der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes, Mühlenstr. 42, 29664 Walsrode, Tel. 05161-911330, E-Mail: info@gemeindehilfsbund.de [7] bezogen werden .


[1] [8] Martin Luther, Walch, 22,1768

[2] [9] Martin Luther, Assertio omnium articulorum, 1520, WA 7,96ff.

[3] [10] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt, 1993 [1787], 7

[ [10]4] [11] Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos I, 1948, 18.

[5] [12] Johann Georg Hamann, Über die Auslegung der Heiligen Schrift, in: Johann Georg Hamann, Entkleidung und Verklärung. Eine Auswahl aus Schriften und Briefen des »Magus in Norden«, hg. v. M. Seils, 1963, 24.